Arbeitsmarkt

Hartz IV wirkt – aber wie können die Nebenwirkungen reduziert werden?

Ein neuer Ansatz zur Quantifizierung der makroökonomischen Effekte von Hartz IV kommt zu dem Schluss, dass die Reform einen deutlichen Anteil am Rückgang der Arbeitslosigkeit hatte. Brigitte Hochmuth, Britta Kohlbrecher, Christian Merkl und Hermann Gartner skizzieren drei Maßnahmen, mit denen sich die negativen Nebenwirkungen reduzieren ließen – ohne dabei die positive Wirkung von Hartz IV aufzugeben.

Vor 15 Jahren galt Deutschland als der kranke Mann Europas und bekam daher die Hartz-Reformen verschrieben. Seitdem ist die Arbeitslosigkeit deutlich gesunken. Der Anteil, den die Hartz IV-Reform an dieser Entwicklung hat, ist dabei wissenschaftlich umstritten.

Hartz IV war eine Reform des Arbeitslosenunterstützungssystems und hat die Transferzahlungen für Langzeitarbeitslose im Durchschnitt reduziert. Ökonomen sind sich zwar einig, dass die Hartz IV-Reform die gesamtwirtschaftliche Arbeitslosigkeit gesenkt hat – allerdings nicht, um wie viel. Anders als in einem Laborexperiment hat die Hartz IV-Reform nicht im luftleeren Raum stattgefunden. Zur Zeit der Reform wurde der Arbeitsmarkt auch von anderen Faktoren beeinflusst, z.B. von einer bereits länger anhaltenden Periode mit lediglich moderaten Lohnsteigerungen, der allgemeinen konjunkturellen Entwicklung und den vorangegangenen Hartz I-III Reformen.

Bisherige Untersuchungen verwenden unterschiedliche Strategien, um die Wirkungen der Hartz Reformen zu messen. Ein großer empirischer Literaturstrang dokumentiert, wie sich zum Zeitpunkt der Arbeitsmarktreformen die Zuflüsse in und Abflüsse aus Arbeitslosigkeit entwickelt haben. Es ist unstrittig, dass sich diese Zu- und Abflüsse am deutschen Arbeitsmarkt mit den Hartz-Reformen grundlegend verändert haben (siehe z.B. Hertweck und Sigrist 2013, Klinger und Rothe 2012  oder Fahr und Sunde 2009). Allerdings ist es nicht einfach, die Veränderungen am Arbeitsmarkt eindeutig einer spezifischen Reformmaßnahme zuzuordnen. Deswegen werden mikroökonometrische Schätzungen verwendet, um den Partialeffekt von Reformen auf Personenebene zu quantifizieren (z.B. Price 2018). Auf Basis derartiger Studien können aber keine Aussagen getroffen werden, wie groß der gesamtwirtschaftliche Effekt einer Reform ist.

Hierfür bedarf es makroökonomischer Simulationsstudien, die auch Gleichgewichtseffekte abbilden. Launov und Wälde (2013) und Krause und Uhlig (2012) analysieren, wie sich die Wahrscheinlichkeit, aus Arbeitslosigkeit in Beschäftigung zu wechseln, gesamtwirtschaftlich durch die Hartz IV-Reform geändert hat. Bei Launov und Wälde reduzierte Hartz IV die Arbeitslosigkeit lediglich um 0,1 Prozentpunkte, bei Krause und Uhlig hingegen um 2,8 Prozentpunkte. Eine wichtige Ursache für die unterschiedlichen quantitativen Ergebnisse dieser Studien ist der unterstellte Rückgang der Lohnersatzleistungen für Langzeitarbeitslose in den Simulationsmodellen. Es besteht keine Einigkeit über die tatsächliche Absenkung der Lohnersatzquote durch Hartz IV (7% bei Launov und Wälde bis hin zu 67% für qualifizierte Arbeitnehmer bei Krause und Uhlig). Dies liegt u.a. an komplexen institutionellen Regelungen sowie unterschiedlichen individuellen Einkommens- oder Familiensituationen und Erwerbshistorien.

Partial- und Gleichgewichtseffekt

In einer aktuellen Studie gehen wir einen neuen Weg. Dabei schlagen wir ein makroökonomisches Modell vor, das zwischen zwei Wirkungsebenen unterscheidet: Partial- und Gleichgewichtseffekte.

Als Partialeffekt bezeichnen wir direkte Auswirkungen der Reform auf das Verhalten von Personen und Betrieben. Durch niedrigere Lohnersatzleistungen für Langzeitarbeitslose sind Arbeitssuchende zu mehr Konzessionen gegenüber Arbeitgebern bereit, z.B. in Form von geringeren Lohnforderungen. Bewerber werden dadurch mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eingestellt. Diese Wahrscheinlichkeit wird auch als Selektionsrate bezeichnet.

Die Selektionsrate ermitteln wir mit Daten der Stellenerhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung als den Anteil von geeigneten Bewerbern, die von Betrieben eingestellt werden. Dieser Ansatz hat drei Vorteile. Erstens verzeichnet die Selektionsrate im Gegensatz zur Job-Findungsrate (der Wahrscheinlichkeit, dass Arbeitslose in Beschäftigung wechseln) im Jahr 2005 keinen Strukturbruch (z.B. durch die Neuregistrierung von ehemaligen Sozialhilfeempfängern als Arbeitslose). Zweitens wird die Selektionsrate nicht direkt durch die vorhergegangene Hartz III-Reform beeinflusst. Drittens messen wir die Partialwirkung der Reform, anstatt im Vorhinein eine bestimmte Absenkung der Lohnersatzquote anzunehmen.

Die folgende Abbildung illustriert, dass die Selektionsrate – im Einklang mit unserem Modell – in Aufschwüngen größer ist als in Abschwüngen, wobei die Konjunktur am Arbeitsmarkt durch die Arbeitsmarktanspannung (die Zahl der offenen Stellen pro Arbeitslosen) dargestellt wird. Außerdem ist mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe 2005 und der Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes 2006 die Selektionsrate deutlich gestiegen. Dies gilt auch, wenn man Konjunktureffekte herausrechnet. Die Änderungen der Selektionsrate schätzen wir ökonometrisch auf verschiedenen Aggregationsebenen und speisen diese Informationen in unser Modell ein. Das Ergebnis ist: Der Partialeffekt senkte laut unserem gesamtwirtschaftlichen Modell die Arbeitslosenquote um ca. einen Prozentpunkt.

Quelle: Brigitte Hochmuth, Britta Kohlbrecher, Christian Merkl & Hermann Gartner: Hartz IV and the Decline of German Unemployment: A Macroeconomic Evaluation

Der Partialeffekt erzählt aber nur einen Teil der Geschichte. Hinzu kommt ein weiterer wichtiger Effekt, den Makroökonomen betonen und den wir als Gleichgewichtseffekt bezeichnen: Wenn Arbeitslose verstärkt zu Konzessionen bereit sind, reagieren Betriebe darauf, indem sie zusätzliche Stellen schaffen. Das wiederum erhöht die Chance für Arbeitssuchende, einen Job zu finden.

Die Arbeitslosenquote sank laut Modellsimulation durch die Hartz IV-Reform um insgesamt gut 2 Prozentpunkte – dies entspricht rund einer Million zusätzlicher Arbeitsplätze

Anhand des Verhältnisses von Job-Findungsrate und Selektionsrate im Konjunkturverlauf bestimmen wir die relative Bedeutung des Partial- und Gleichgewichtseffekts. In unserer Modellsimulation ist der zusätzliche Gleichgewichtseffekt ähnlich groß wie der Partialeffekt. Die Firmen reagieren auf die größeren Zugeständnisse der Arbeitslosen und schreiben mehr neue Stellen aus. Die Arbeitslosenquote sank gemäß unserer Modellsimulation durch die Hartz IV-Reform um insgesamt gut 2 Prozentpunkte – dies entspricht rund einer Million zusätzlicher Arbeitsplätze.

Wie bei allen Simulationsstudien lässt sich fragen, wie gut unser Modell zur Analyse der Hartz IV-Reform geeignet ist. In einem kürzlich veröffentlichten Makronom-Beitrag vermutet Tom Krebs, dass unsere Studie die Effekte der Reform überschätze. Erstens würde die Berücksichtigung von Heterogenitäten der Erwerbspersonen den Partialeffekt verringern. Das Besondere an unserer Kalibrierungsstrategie ist jedoch, dass wir den beobachtbaren Anstieg der aggregierten Selektionsrate im Modell matchen – die Berücksichtigung weiterer Heterogenitäten im Modell würde diesen aggregierten Anstieg der Selektionsrate nicht verändern. Darüber hinaus stimmen unsere Ergebnisse beim Partialeffekt mit denen von Price (2018) überein. Diese ist die einzige uns bekannte Studie, die den Effekt der Hartz-IV Reform kausal auf Basis mikroökonometrischer Schätzungen bestimmt. Wir kommen zu sehr ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich der Reduktion der Arbeitslosenquote und der veränderten Übergangswahrscheinlichkeiten für Arbeitslose mit unterschiedlichen Arbeitslosigkeitsdauern. Die Größenordnung unseres Partialeffektes steht auch im Einklang mit der Simulationsstudie von Krebs und Scheffel (2013).

Der zweite Kritikpunkt betrifft die Größe des Gleichgewichtseffektes. Dieser Effekt bestimmt sich – wie oben beschrieben – in unserem Modell über dessen relative Bedeutung im Verhältnis zum Partialeffekt, welche wir empirisch über den Konjunkturzyklus bestimmen. Auch dieses Verhältnis ist unabhängig vom gewählten Lohnsetzungsmechanismus, was wir in unserem Papier auch zeigen. Die Plausibilität unserer Ergebnisse zeigt sich darüber hinaus daran, dass unser Modell auch die Verschiebung der sogenannten Beveridge-Kurve (der gemeinsamen Bewegung von offenen Stellen und Arbeitslosigkeit) in den Folgejahren der Hartz IV-Reform abbilden kann.

Es gibt allerdings einen Reformeffekt, den unser Modell nicht abbildet: Auch Beschäftigte sind aufgrund der Sorge, bei Arbeitslosigkeit in Hartz IV abzurutschen, stärker als vorher an einem sicheren Arbeitsplatz interessiert und eher zu Lohnzugeständnissen bereit. Es werden daher durch die Reform weniger Personen entlassen. Klinger und Weber (2016) haben diesen Effekt empirisch untersucht und Hartung, Jung und Kuhn (2018) im Rahmen eines Gleichgewichtsmodells. Folglich liefert unser Ansatz eine Untergrenze für die gesamtwirtschaftliche Wirkung von Hartz IV.

Welche Nebenwirkungen hat Hartz IV?

Die Hartz IV-Reform hat also die Arbeitslosigkeit in Deutschland deutlich reduziert. Allerdings gingen diese positiven Arbeitsmarkteffekte mit gestiegener Unsicherheit und sozialer Abstiegsangst der Beschäftigten einher.

In der öffentlichen Debatte wird Hartz IV darüber hinaus häufig mit zunehmender Ungleichheit am Arbeitsmarkt in Verbindung gebracht. Die Lohnungleichheit hat jedoch bereits seit Mitte der 90er Jahre zugenommen, also vor der Hartz IV-Reform (siehe Dustmann, Fitzenberger, Schönberg und Spitz-Oener 2014). Diese Entwicklung ist zum größten Teil auf andere Faktoren zurückführen, wie z.B. die technologische Entwicklung oder den sinkenden Deckungsgrad von Tarifverträgen. Auch zeigen sowohl unsere Studie als auch die von Price (2018), dass die Auswirkung der Hartz IV-Reform auf die Löhne nur moderat war. In unserem makroökonomischen Modell erhöht sich zwar durch die Hartz IV-Reform der Druck, niedrigere Löhne zu akzeptieren (siehe Kettner und Rebien 2007 für empirische Evidenz). Durch die bessere gesamtwirtschaftliche Arbeitsmarktsituation entsteht jedoch ein gegenläufiger Effekt, der dies zum Teil wieder ausgleicht. Darüber hinaus wird Hartz IV oftmals für die Schaffung atypischer und prekärer Beschäftigung verantwortlich gemacht. Interessanterweise zeigt aber Price (2018), dass der reformbedingte Anstieg der Wahrscheinlichkeit, in Beschäftigung zu kommen, vor allem durch Vollzeitarbeitsplätze getrieben wurde.

Wir sehen daher die höhere Unsicherheit als wesentliche Nebenwirkung von Hartz IV. Gerade für gutverdienende, langjährig Beschäftigte ist die Fallhöhe nach einem Jahr Arbeitslosigkeit deutlich größer als vor der Reform. Derzeit gibt es Vorschläge, wichtige Reformelemente von Hartz IV zurückzudrehen, etwa durch eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I für ältere, langjährig Beschäftigte. Sie wären dann bei längerer Arbeitslosigkeit zwar besser abgesichert. Das Risiko der Langzeitarbeitslosigkeit würde aber ebenfalls ansteigen. Zahlreiche Studien zeigen, dass eine längere Bezugsdauer von Arbeitslosengeld die Dauer der Arbeitslosigkeit erhöht (z.B. Schmieder, von Wachter, Bender 2012) und dass mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit auch die Gefahr steigt, dass sich die Arbeitslosigkeit verfestigt (z.B. Wilke 2005).

Aus unserer Sicht sind deswegen Maßnahmen empfehlenswert, die die Beschäftigungserfolge bewahren, aber gleichzeitig die Unsicherheit reduzieren und reguläre Beschäftigung fördern. Wir machen drei Vorschläge:

1.

Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren: Statt die Zahlung von Arbeitslosengeld I zu verlängern und so Arbeitslosigkeit zu subventionieren, sollte die Aufnahme von Arbeit stärker unterstützt werden. Eine Möglichkeit ist der stärkere Einsatz von Eingliederungszuschüssen (temporäre Lohnzuschüsse bei der Neueinstellung bestimmter Personengruppen), wobei die Höhe der Zuschüsse mit der Dauer der vorangegangenen Arbeitslosigkeit steigen sollte (Brown, Merkl und Snower 2011). Diese Maßnahme verringert die Einkommensunsicherheit, da sie das Risiko senkt, langzeitarbeitslos zu werden, und erhöht die Beschäftigungswahrscheinlichkeiten (Bernhard, Brussig, Gartner und Stephan 2008).

2.

Vorfahrt für reguläre statt atypische Beschäftigung: Es gibt zwar heute mehr Vollzeitbeschäftigte als 2005. Dennoch ist für Geringverdiener der Anreiz, aus einem Mini-Job in eine reguläre Vollzeitbeschäftigung zu wechseln, gering, da der Transferbezug stark sinkt, wenn sich das Lohneinkommen erhöht. Die Hinzuverdienstgrenzen lassen sich so gestalten, dass reguläre Beschäftigung attraktiver wird. Das IAB hat vor Kurzem einen Vorschlag hierzu vorgelegt (Bruckmeier, Mühlhan, Wiemers und Walwei 2018). Gerade der solide Beschäftigungsaufschwung gibt eine einmalige Chance, noch mehr Menschen in reguläre Jobs zu bringen.

3.

Brücken bauen, die aus Hartz IV herausführen: Der robuste Arbeitsmarkt sollte genutzt werden, um Brücken zu bauen, die aus dem Hartz IV-Bezug in Beschäftigung führen. Maßnahmen, die in diese Richtung zielen, sind z.B. begleitende Betreuung durch die Arbeitsagentur auch nach Arbeitsaufnahme sowie Weiterbildungsmaßnahmen, die auch sogenannte Soft-Skills entwickeln. Dazu gehören ebenfalls Maßnahmen wie z. B. eine bessere öffentliche Kinderbetreuung, die es Eltern erleichtern, Kindererziehung mit einer Vollzeitbeschäftigung zu vereinbaren.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Medizin Hartz IV hat auf die gesamtwirtschaftliche Arbeitslosigkeit und Beschäftigung die Wirkung entfaltet, die sie haben sollte – laut unseren Berechnungen wurde rund eine Million zusätzlicher Arbeitsplätze geschaffen. Hartz IV hat aber auch Nebenwirkungen in Form von höherer Unsicherheit gehabt. Die in diesem Beitrag skizzierten Vorschläge können dazu beitragen, dass mehr Menschen an den positiven Effekten der Reform teilhaben.

 

Zu den AutorInnen:

Brigitte Hochmuth ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Makroökonomik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Britta Kohlbrecher ist Postdoktorandin am Lehrstuhl für Makroökonomik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Christian Merkl ist Professor für Makroökonomik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Hermann Gartner ist Senior Researcher am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und Privatdozent an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

 

Hinweis:

Die diesem Beitrag zugrundeliegende Studie finden Sie hier.