In den vergangenen Jahrzehnten hat Deutschland wie viele andere europäische (z.B. skandinavische Länder oder Österreich) und außereuropäische Länder (z.B. Kanada, Mexiko und Chile) stark in den Ausbau frühkindlicher Bildung investiert. Bis in die frühen 1990er Jahre war das Kindergartenplatzangebot in Deutschland sehr beschränkt und die Nachfrage nach Plätzen wesentlich größer als das Angebot. Die Einführung des Kindergartenrechtsanspruches im Jahr 1996 hatte das Ziel, jedem Kind den Kindergartenbesuch ab Alter 3 bis Schuleintritt zu ermöglichen und hat zu einem starken Ausbau des Kindergartenplatzangebotes geführt.
Im Anbetracht der Kosten, die frühkindliche Bildungsprogramme verursachen, stellt sich die Frage, wie effektiv diese Programme tatsächlich darin sind, Kinder in ihrer Entwicklung zu fördern und Bildungschancen zu erhöhen. Da Kitas von Kindern aller Bildungs- und Einkommensschichten besucht werden können, ist es darüber hinaus von großem Interesse, inwieweit frühkindliche Bildungsprogramme dabei helfen können, die Benachteiligung von Kindern aus bildungsfernen Schichten und Kindern mit Migrationshintergrund bereits im frühen Kindesalter zu reduzieren. Da sich längst nicht alle Familien zum Kitabesuch entscheiden, ist es schließlich wichtig zu verstehen, ob gerade die Kinder, die am meisten von frühkindlicher Bildung profitieren können, neu geschaffene Plätze in Anspruch nehmen.
In einer aktuellen Studie (Cornelissen et al. 2018), die demnächst im Journal of Political Economy erscheinen wird, haben wir den starken Ausbau frühkindlicher Bildungseinrichtungen während der 1990er Jahre in Deutschland evaluiert, um diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Der Ausbau erstreckte sich über einen längeren Zeitraum und erfolgte in den betroffenen Gemeinden zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf quasi-zufällige Weise. Er stellt ein ideales Politikexperiment dar, das es erlaubt, kausale Effekte der frühkindlichen Bildung auf die Schulfähigkeit von Kindern zu untersuchen.
Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass frühkindliche Bildung die Schere zwischen armen und reichen Kindern schließen kann. Kinder mit Migrationshintergrund und aus sozial benachteiligten Familien profitieren am stärksten von einem frühen Kindergartenbesuch. Gleichzeitig besuchen sie jedoch seltener schon mit drei Jahren den Kindergarten. Daher sollten Politikmaßnahmen darauf abzielen, den Besuch frühkindlicher Bildungseinrichtungen von Kindern mit Migrationshintergrund und aus sozial benachteiligten Elternhäusern zu erhöhen.
Das Forschungsdesign
In unserer Studie betrachten wir den Effekt eines frühen Kindergartenbesuches im Vergleich zu einem späten Start (Alter 3 vs. 4 oder 5) auf die Schulfähigkeit von Kindern. Die Analyse basiert auf Daten der verpflichtenden Schuleingangsuntersuchung für Weser-Ems (Niedersachsen), die von Kinderärzten des Gesundheitsamtes durchgeführt wird. Als Maß der Schulfähigkeit verwenden wir die im Rahmen der Schuleingangsuntersuchung ausgesprochene Einschulungsempfehlung, welche auf einer Reihe von Untersuchungen der kognitiven, körperlichen, motorischen und sprachlichen Entwicklung eines Kindes basiert.
Unser Forschungsdesign fußt auf dem starken Ausbau des Kindergartenplatzangebotes, welcher durch die Einführung des Kindergartenrechtsanspruches 1996 hervorgerufen wurde und zum Ziel hatte, jedem Kind den Kindergartenbesuch ab Alter 3 bis Schuleintritt zu ermöglichen. Wie aus der folgenden Abbildung ersichtlich wird, haben lediglich 41% der im Jahr 1988 geborenen Kinder ganze 3 Jahre lang den Kindergarten besucht. Dieser Anteil ist auf 67% der Kinder der Geburtskohorte 1996 angestiegen.
Der Kindergartenplatzausbau war am größten in Gemeinden, die zu Beginn der Ausbauperiode ein besonders geringes Kindergartenplatzangebot hatten. Insbesondere in diesen Gemeinden ist die Chance, mit drei Jahren einen Kindergartenplatz zu bekommen für Kinder, die Mitte der 90er Jahre geboren wurden, wesentlich höher als für Kinder, die vor dem Kindergartenausbau in den späten 80er Jahren geboren wurden.
Gleichwohl sollte es keine systematischen Unterschiede im Familienhintergrund oder angeborenen Fähigkeiten zwischen diesen Kindern geben. Der Vergleich des Zusammenhanges von Kindergartenbesuch und Schulfähigkeit über Kohorten innerhalb derselben Gemeinde (nachdem für einen allgemeinen Zeittrend kontrolliert wurde), erlaubt es uns, den kausalen Effekt eines frühen Kindegartenbesuches auf die Schulfähigkeit aufzudecken.
Darüber hinaus ermöglicht uns der Vergleich von Kindern, die schon bei einem niedrigen Platzangebot den Kindergarten besuchen mit denen, die erst bei einer hohen Betreuungsquote in den Kindergarten kommen, separate Effekte des Kindergartenbesuchs für Kinder zu schätzen, deren Eltern sich stark in der Präferenz unterscheiden, ihr Kind in den Kindergarten zu schicken (weitere Details zur empirischen Methode finden Sie im technischeren Begleitpaper unserer Studie).
Ergebnisse
Unsere Analyse zeigt, dass Kinder aus sozio-ökonomisch benachteiligten Familien und Kinder mit Migrationshintergrund wesentlich stärker von einem frühen Kindergartenbesuch profitieren als Kinder aus Familien mit höherem sozio-ökonomischen Status. Beispielsweise steigt die Schulfähigkeit von Kindern mit Migrationshintergrund durch einen Kindergartenbesuch ab Alter 3 um 12 Prozentpunkte an. Damit kann ein früher Kindergartenbesuch die gravierenden Unterschiede in der Schulfähigkeit zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund zwar fast nivellieren – jedoch ist die Wahrscheinlichkeit schon früh den Kindergarten zu besuchen für Kinder mit Migrationshintergrund 20 Prozentpunkte niedriger als für deutsche Kinder.
Im Einklang mit den Ergebnissen in Abhängigkeit des Migrationshintergrundes zeigt unsere Analyse, dass im Allgemeinen die Kinder, für die sich ein früher Kindergartenbesuch besonders positiv auf die Schulfähigkeit auswirkt, seltener schon früh den Kindergarten besuchen. Dieses verblüffende Ergebnis wird in der nächsten Abbildung ersichtlich, die den Effekt des frühen Kindergartenbesuches in Abhängigkeit der Präferenz der Eltern, ihr Kind in den Kindergarten zu schicken, abbildet.
Die Abbildung verdeutlicht, dass Kinder, deren Eltern nur eine schwache Präferenz für den Kindergarten haben (rechte Seite der Abbildung) am meisten vom frühen Kindergartenbesuch profitieren – ihre Schulfähigkeit wird um fast 20 Prozentpunkte gesteigert. Hingegen besuchen Kinder aus sozial besser gestellten Familien häufiger früh den Kindergarten (linke Seite der Abbildung), profitieren jedoch kaum davon – vermutlich deswegen, weil sie in einem familiären Umfeld aufwachsen, dass sie gut auf den Schuleintritt vorbereiten kann. Unsere Analyse zeigt ferner, dass Kinder aus Familien mit schwacher Präferenz für den Kindergartenbesuch auch häufig sozio-ökonomisch benachteiligt sind.
Zusammengefasst lassen sich also drei zentrale Schlussfolgerungen aus unserer Studie ziehen:
- Die Effekte des Kindergartenbesuches auf die Schulfähigkeit variieren stark zwischen Kindern verschiedener Bevölkerungsgruppen und sind wesentlich höher für Kinder aus sozio-ökonomisch benachteiligten Familien und Familien mit Migrationshintergrund.
- Ein früher Besuch des Kindergartens kann die Unterschiede zwischen Kindern aus bildungsnahen und bildungsfernen Familien fast nivellieren.
- Obwohl Kindertagesbetreuungsprogramme stark subventioniert und prinzipiell jedem Kind zugänglich sind, schaffen es die Programme nicht, diejenigen Kinder zur Teilnahme zu bewegen, die am stärksten vom Kitabesuch profitieren können – nämlich Kinder aus bildungsfernen Familien oder Familien mit Migrationshintergrund.
Diskussion und Implikationen für die Politik
Wie lässt es sich erklären, dass Kinder aus benachteiligten Elternhäusern seltener schon früh den Kindergarten besuchen, obwohl sie weitaus stärker vom Kindergartenbesuch profitieren können als Kinder aus sozial besser gestellten Familien?
Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, ist es wichtig zu berücksichtigen, dass die Entscheidung in den Kindergarten zu gehen natürlich nicht vom Kind selbst, sondern von dessen Eltern getroffen wird. Obgleich Eltern das Wohlergehen ihrer Kinder in ihren Entscheidungen berücksichtigen, ist es nicht immer möglich, das zukünftige Wohlergehen der Kinder von anderen Entscheidungen der Eltern klar zu trennen. In sozial bessergestellten Familien sind Mütter oft berufstätig und frühkindliche Bildungsprogramme sind begehrt, um Berufsleben und Kindererziehung besser vereinbaren zu können.
Zum anderen existieren Informationsdefizite und kulturelle Bedenken gegenüber frühkindlicher Bildung in sozial benachteiligten Familien sowie Familien mit Migrationshintergrund. Eltern sind sich über die positiven Effekte von frühkindlicher Bildung oft nicht bewusst oder stehen aus kulturellen oder religiösen Gründen vorschulischen Bildungsinterventionen kritisch gegenüber. Zudem sind trotz der starken staatlichen Subventionierung die Gebühren des Kindergartenbesuches relativ zum Familieneinkommen für sozial benachteiligte Familien oftmals höher als für bessergestellte Familien.
Unsere Ergebnisse verlangen nach Politikmaßnahmen, die sich gezielt an sozial benachteiligte und schwer erreichbare Familien richten, um deren Teilnahme an frühkindlichen Bildungsangeboten zu erhöhen. Eine Möglichkeit bestünde in der Reduktion der Gebühren bzw. Gebührenfreiheit, wie es das neue Gesetzesvorhaben „Gute-Kita-Gesetz“ der Bundesfamilienministerin vorsieht. Darüber hinaus könnte eine automatische Anmeldung der Kinder mit „Opt-out“-Möglichkeit den Anmeldeprozess vereinfachen und sicherstellen, dass alle Eltern über das Platzangebot informiert sind.
Ein weiterer wichtiger Ansatzpunkt ist es, Eltern über die potentiellen positiven Effekte von frühkindlicher Bildung aufzuklären. Darüber hinaus ist es entscheidend, dass Politikansätze kulturelle Heterogenität berücksichtigen und potenzielle sprachliche, religiöse oder kulturelle Barrieren, die Eltern davon abhalten, ihre Kinder in die Kita zu schicken, besser zu verstehen und abzubauen. Ein positiver Ansatz zeigt sich hier im geplanten Schwerpunkt der Sprachförderung des neuen Gesetzesvorhabens sowie in der Initiative „Sprachkitas“ der letzten Bundesregierung, die in Folge der Flüchtlingskrise ins Leben gerufen wurde und das Ziel verfolgt, die alltagsintegrierte sprachliche Bildung und die Zusammenarbeit mit Eltern in Kitas mit einem hohen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund zu stärken.
Ferner sollte auch bei der Zuteilung von Krippenplätzen, die in Folge der Einführung des Rechtsanspruches für unter 3-jährige im Jahr 2013 stark ausgebaut wurden, berücksichtigt werden, dass gängige Vergabekriterien wie Berufstätigkeit der Eltern nicht notwendigerweise die Kinder erreichen, die am meisten von frühkindlicher Bildung profitieren können.
Zu den AutorInnen:
Thomas Cornelissen ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der University of York. Er ist Research Fellow am Centre for Research and Analysis of Migration (CReAM) und am IZA Institute of Labor Economics. Seine Forschungsunteressen liegen im Bereich der empirischen Arbeitsökonomik (Lohnstruktur, Arbeitnehmerproduktivität, Peereffekte) und Bildungsökonomik (frühkindliche Bildung).
Christian Dustmann ist Professor für Volkswirtschaftslehre am University College London und Direktor des Centre for Research and Analysis of Migration (CReAM). Zudem ist er Research Fellow am Centre for Economic Policy Research (CEPR) und Research Associate am Institute for Fiscal Studies (IFS). Seine Forschungsschwerpunkte sind im Bereich der Bevölkerungsökonomie (Migration, Ökonomie der Familie) und Arbeitsökonomie (Bildung, Lohnstrukturen, Einkommensmobilität).
Anna Raute ist Lecturer (Juniorprofessorin) an der Queen Mary University of London. Sie ist Research Affiliate beim CEPR und CESifo Institut, Research Associate am ZEW und Research Fellow am Centre for Research and Analysis of Migration (CReAM). Ihre Forschungsinteressen liegen in der Arbeitsökonomie und Bevölkerungsökonomie.
Uta Schönberg ist Professorin für Volkswirtschaftslehre am University College London und Research Fellow am Institut für Arbeits- und Berufsforschung Nürnberg. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich Arbeitsökonomie, mit einem speziellen Fokus auf Lohnungleichheiten, Bildung und Migration.