Laut neuesten Daten des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) waren Ende 2017 68,5 Millionen Menschen auf der Flucht – rund drei Millionen mehr als im Jahr zuvor und so viele wie seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Insgesamt tragen die Länder im globalen Süden die Hauptlast bei der Flüchtlingsaufnahme: 85 Prozent aller weltweit vom UNHCR registrierten Flüchtlinge haben Zuflucht in Entwicklungsregionen gefunden. Deutschland ist nach den USA das Land, das 2017 die meisten Asylanträge registrierte.
Aber vor allem Afrikas künftiges Migrationspotenzial beunruhigt die Politik. Denn südlich der Sahara vollzieht sich der Rückgang der Geburtenrate extrem langsam. Bis 2050 wird sich Afrikas Bevölkerung laut UN-Projektionen auf 2,5 Milliarden verdoppeln. Medizinische Fortschritte und der Ausbau der Gesundheitssysteme sorgen zwar für eine höhere Lebenserwartung, der Lebensstandard blieb aber nicht zuletzt wegen der hohen Geburtenrate gering. Geringe Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen bei einer wachsenden Erwerbsbevölkerung nähren die Abwanderung auch aus wirtschaftlicher Perspektive. Laut IWF sind 85 Prozent der afrikanischen Migranten wirtschaftlich motiviert.
Der Anteil der afrikanischen Migranten, die ihren Kontinent tatsächlich verlassen, hat sich im letzten Vierteljahrhundert von einem Viertel auf ein Drittel erhöht. Ihre Anzahl schwoll von einer Million im Jahre 1990 bis heute auf sechs Millionen an. Bevölkerungswachstum und steigender Anteil von Afrikaemigranten lassen vermuten, dass ihre Zahl in den kommenden Jahrzehnten auf 20 Millionen steigen wird. Davon wollen die meisten wanderungswilligen Afrikaner inzwischen nach Westeuropa. Dass die tatsächlichen Abwanderungen nach Europa seit der Spitze 2015/16 zurückgegangen sind, liegt auch an Frontex und Grenzschließungen – aber es sagt wenig über das künftige Migrationspotenzial aus.
Alles auf einmal geht nicht
Dadurch wird Europa mit etwas konfrontiert, was man analog zu Dani Rodriks berühmtem „Trilemma der Globalisierung“ als ein „Migrationstrilemma“ bezeichnen kann. In Rodriks Globalisierungstrilemma kann die Politik nur zwei von drei Optionen wählen: vollständige, weltweite Marktliberalisierung (Hyperglobalisierung), nationale Eigenständigkeit oder Demokratie. Akzeptiert die Politik die uneingeschränkte Globalisierung, muss sie einen eigenständigen Kurs aufgeben. Ein gutes Beispiel ist der bis Anfang des 20. Jahrhunderts vorherrschende Goldstandard, dem eine eigenständige Geldpolitik geopfert werden musste.
Als Alternative könnten autokratische oder technokratische Regierungen per Dekret verordnen, dass die uneingeschränkte Marktliberalisierung oder die von der Regierung ausgehandelten weltweit harmonisierten Regeln von allen akzeptiert werden müssen. Eine Weltregierung wäre also eine immer wieder geforderte, aber unrealistische Alternative: Demokratie und globaler Markt würden beibehalten, auf die nationale Souveränität verzichtet werden. Eine internationale Regierung und ein globales Parlament würden die Fehler der Globalisierung korrigieren. Wie schwierig das ist, zeigen nicht zuletzt die Akzeptanzprobleme der Europäischen Union, die so etwas wie eine auf Europa beschränkte Form der Hyperglobalisierung ist.
Rodriks Globalisierungstrilemma kann man auf Europas Migrationstrilemma übertragen. Nur zwei von drei Optionen können gleichzeitig erzielt werden: Masseneinwanderung, ein selbstbestimmter Gesellschaftsvertrag oder Demokratie mit Wahrung der Menschenrechte.
Oxford-Professor Paul Collier erörtert in seinem Buch Exodus für die Aufnahmeländer eine Grenze, ab der die Zuwanderung wegen „Überfremdung“ und Vertrauenserosion für das komplexe Sozialmodell einer Gesellschaft schädlich werde. In seinem Essay Europadämmerung zeigt der bulgarische Vordenker Ivan Krastev auf, wie Europa in der Folge massiver Einwanderung seine demokratische Seele verliert und populistische Parteien fördert. Bereits 1943 hatte Hannah Arendt auf das Dilemma zwischen Massenzuflucht und Wahrung der Menschenrechte hingewiesen. Lässt man die massive Zuflucht zu, wahrt man zwar die Menschenrechte, verliert aber laut Arendt die nationale Souveränität, also die Selbstbestimmung.
Diese trade-offs des Migrationstrilemmas sind sicherlich dehnbar. Aber leugnen lassen sie sich nicht. Man kann die Immigration fördern und zum Schmelztiegel werden, wie es früher die bevölkerungsarmen Besiedlungsländer Argentinien, Australien und Nordamerika getan haben. Diese multikulturelle Perspektive ist durchaus verlockend und zeigt nicht nur in Frankreichs Fußball seine Anziehungskraft. Ein Spaziergang durch die Kantstraße in Berlin genügt zur Anschauung des geglückten Nebeneinanders vieler Kulturen.
Die Besiedlungsstrategie verlangt jedoch, Identifikation und Zugehörigkeitsgefühl seitens der Einwanderer herzustellen. Historisch hat das am besten funktioniert mit Hilfe eines verpflichtenden Militärdienstes, eines praktizierten Wahlrechts und vor allem einer sogenannten „patriotischen“ Schul- und Ausbildung, die ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zu einer Nation – und gerade nicht zu einer Ethnie – fördert. Allerdings bezeugen zum Beispiel die Ghettos der USA und Frankreichs auch krasse Integrationsdefizite, die für sozial homogene Gesellschaften unerträglich sind.
Eine Weltregierung der Migration wäre aus gesinnungsethischer Sicht ein möglicher Ausweg aus dem Migrationstrilemma, bleibt aber unrealistisch. Dafür müsste die nationale Zuständigkeit rechtsbindend aufgegeben werden. Das leistet nicht einmal der gerade verabschiedete Entwurf eines globalen Migrationspakts, den außer den USA alle Mitgliedsstaaten der UN unterzeichnet haben. Das rechtlich nicht bindende Dokument soll Grundsätze für den Umgang mit Migranten und Flüchtlingen festlegen und offiziell bei einer Konferenz im Dezember 2018 in Marokko angenommen werden.
So bleibt wie bei Rodriks Globalisierungstrilemma als realistische Option eine Kontrolle der Migrationsströme durch ein Einwanderungsgesetz, das den zugelassenen Immigranten volle Rechtssicherheit anbietet. Das Problem der illegalen Migrantenströme kann dadurch verringert werden. Lösen lässt es sich nicht.
Zum Autor:
Helmut Reisen war bis 2012 Forschungsdirektor am Development Centre der OECD in Paris. Seitdem betreibt er die unabhängige entwicklungspolitische Beratungsfirma ShiftingWealth Consulting und den Blog Weltneuvermessung, wo dieser Beitrag zuerst in einer früheren Version erschienen ist. Auf Twitter: @HrReisen