Europäische Union

Welche Hindernisse für die Arbeitnehmerfreizügigkeit bleiben

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist ein Eckpfeiler der EU-Integration und ein wesentlicher Bestandteil eines funktionierenden Binnenmarkts. Doch wie einfach ist es für EU-BürgerInnen tatsächlich, im Ausland zu arbeiten und zu leben?

Bild: Pixabay

Um im Vorfeld der Europawahl durch lebensnahe und facettenreiche Perspektiven auf bekannte soziale Probleme und Herausforderungen zu einem besseren Verständnis der – oft sehr unterschiedlichen – Lebens- und Arbeitsbedingungen in Europa beizutragen, haben die Bertelsmann-Stiftung und das Jacques Delors Institute Berlin im Rahmen des „Repair and Prepare: Strengthening Europe“-Projekts eine gemeinsame Studie durchgeführt. „How are you doing, Europe? Mapping social imbalances in the EU“ konzentriert sich auf sechs soziale Herausforderungen, die anhand verschiedener Indikatoren und konkreter Fallbeispiele beleuchtet werden.

Die sechs Einzeldossiers der Studie werden im wöchentlichen Rhythmus im Makronom veröffentlicht. Alle bisher erschienenen Beiträge der Serie finden Sie hier. In dem folgenden Beitrag geht es um die Arbeitsmigration innerhalb der EU.

Das Recht der europäischen BürgerInnen, ihren Arbeitsplatz innerhalb der EU frei zu wählen, gibt ihnen die Möglichkeit, nicht nur zu Hause, sondern in allen EU-Mitgliedstaaten nach einem Arbeitsplatz zu suchen, der zu ihren Fähigkeiten passt und/oder auch eine bessere Bezahlung bietet.

2017 lebten rund 4% der EU-Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in einem anderen EU-Staat. Dies ist ein kleiner aber stetig wachsender Anteil. Zuletzt haben kontroverse Debatten rund um den Brexit oder auch die Reform der Entsenderichtlinie das Thema EU-Binnenmobilität wieder in den Vordergrund gerückt. Dennoch bleibt die Akzeptanz der Freizügigkeit in der gesamten EU konstant hoch: Laut einer Eurobarometer-Umfrage aus dem Jahr 2018 befürworteten 83% der EuropäerInnen die Arbeitnehmerfreizügigkeit.

Es gibt viele mögliche Themen und Blickwinkel, aus denen sich die EU-Binnenmobilität betrachten lässt. Dieses Dossier setzt den Schwerpunkt auf die Betrachtung von Mobilität als Mittel zur Verbesserung der Arbeitsmarktbeteiligung und Lebenschancen der EuropäerInnen. Beginnen werden wir mit einer kurzen Betrachtung jener EU-BürgerInnen, die in einem anderen Mitgliedstaat leben, und aus welchen Gründen sie dies tun. Anschließend wird das Dossier mögliche Barrieren betrachten, auf die EU-BürgerInnen stoßen können, wenn sie beabsichtigen, im EU-Ausland zu arbeiten. Hierbei konzentrieren wir uns auf Fragen zur Anerkennung von Qualifikationen und daran anknüpfend auf ein Problem, mit dem EU-ArbeitnehmerInnen „on the job“ konfrontiert sein können: Überqualifizierung. In einer Nahaufnahme blicken wir zudem auf die Arbeitsmarktintegration junger EU-MigrantInnen in Großbritannien.

Mobile EU-BürgerInnen: Ein kurzer Überblick

Der Anteil der im EU-Ausland lebenden Bevölkerung variiert stark zwischen einzelnen EU-Mitgliedstaaten. Während 2016 nur 1% der deutschen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (20 bis 64 Jahre) in einem anderen EU-Land lebte, war dies bei fast einem Fünftel der Bevölkerung Rumäniens der Fall. Die Wirtschaftskrise führte dazu, dass sich die Zahl der GriechInnen und SpanierInnen, die in ein anderes EU-Land emigrierten, zwischen 2007 und 2011 mehr als verdoppelte. Dennoch ist der Anteil der EuropäerInnen, die von Ost- nach Westeuropa ziehen, immer noch bei Weitem höher als der Anteil jener, die aus einem südeuropäischen in ein nordeuropäisches Land emigrieren.

*Stand 2016. **Stand 2017. Quellen: Eurostat, Elena Fries-Tersch et al.: 2017 Annual Report on intra-EU Labour Mobility

Die Mehrheit der mobilen EU-BürgerInnen – drei Viertel – ist im erwerbsfähigen Alter und in der Regel auch erwerbstätig: Im Durchschnitt liegt ihre Beschäftigungsquote mit 76,1% vier Prozentpunkte über dem EU-Durchschnitt. Ein Drittel der mobilen EU-Bürger hat einen Hochschulabschluss, während ein Viertel gering qualifiziert ist. Von denjenigen, die in den letzten zehn Jahren in einen anderen Mitgliedstaat gezogen sind, hatten Frauen den höchsten Anteil an Hochschulabsolventinnen, während der Anteil an Niedrigqualifizierten bei Männern höher war.

Warum ziehen Menschen in ein anderes EU-Land?

Die beiden wichtigsten Zielländer für mobile EU-BürgerInnen sind Deutschland und Großbritannien: Fast die Hälfte der EU-MigrantInnen lebt in einem dieser beiden Länder. Eurostat-Daten aus dem Jahr 2014 zeigen, dass ein signifikanter Teil der mobilen EU-BürgerInnen ihr Heimatland verlassen hat, um Arbeit zu suchen oder einen Job aufzunehmen, den sie bereits vor ihrer Abreise gefunden haben. Ein weiteres wichtiges Motiv für den Umzug ins Ausland waren familiäre oder persönliche Gründe.

Quelle: Eurostat

Eine Eurobarometer-Umfrage aus dem Jahr 2013 differenzierte nochmal stärker zwischen unterschiedlichen wirtschaftlichen Gründen für einen Umzug ins EU-Ausland. Die Hälfte der Befragten gab ein besseres Gehalt als Grund an. Weitere drei von zehn Befragten nannten entweder ihre berufliche Entwicklung und bessere Karrieremöglichkeiten oder die Tatsache, dass sie in ihrem Heimatland keinen Job finden können. Ein besseres Gehalt war laut der Umfrage eine besonders starke Motivation für mobile EU-BürgerInnen aus Mittel- und Osteuropa (MOE) – das heißt aus Ländern, in denen die Löhne im Durchschnitt niedriger sind als in den „älteren“ EU-Mitgliedstaaten. Im eigenen Land keinen Job finden zu können, wurde hingegen vor allem von Menschen aus krisengeschüttelten Ländern, insbesondere in Südeuropa, angeführt.

Die Anerkennung von Qualifikationen im Ausland

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist ein EU-Grundrecht, das durch eine umfangreiche EU-Gesetzgebung und -Rechtsprechung unterstützt und geschützt wird. Doch wie einfach ist es für EU-BürgerInnen tatsächlich, im Ausland zu arbeiten und zu leben?

Praktische Hürden bei der Suche nach einer geeigneten Beschäftigung in einem anderen EU-Land können beispielsweise Unterschiede zwischen den nationalen Arbeitsmärkten darstellen, aber auch mangelnde Sprachkenntnisse, Probleme beim Zugang zu Sozialleistungen, die Übertragbarkeit von Rentenansprüchen oder die Suche nach einer geeigneten Unterkunft.

Ein entscheidender Faktor, der es mobilen EU-Bürgern erleichtert, einen Beruf in einem anderen EU-Mitgliedstaat aufzunehmen und ihre Fähigkeiten mit einer angemessenen Position und einem angemessenen Gehalt in Einklang zu bringen, ist die erfolgreiche Anerkennung ihrer Qualifikationen im Zielland. In der EU ist eine große Anzahl von Berufen reglementiert. Dies bedeutet, dass der Zugang zu diesen Berufen aufgrund von Verwaltungs- oder Rechtsvorschriften bestimmte berufliche Qualifikationen oder Titel erfordert. Beispielsweise haben sich die EU-Mitgliedstaaten für sieben Berufe (ÄrztInnen, KrankenpflegerInnen, Hebammen, ZahnärztInnen, TierärztInnen, ArchitektInnen und ApothekerInnen) auf Mindestanforderungen verständigt, sodass diese Berufe der automatischen gegenseitigen Anerkennung unterfallen. Das heißt jedoch nicht, dass die Anerkennung tatsächlich automatisch erfolgt: EU-BürgerInnen, die beabsichtigen, in einem dieser Berufe in einem anderen EU-Land zu arbeiten, müssen sich weiterhin an die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats wenden um nachzuweisen, dass ihre Qualifikationen den Mindestausbildungsanforderungen entsprechen.

Insgesamt unterscheiden sich die Anzahl und Art der reglementierten Berufe in der EU stark: Nach Angaben der Datenbank für reglementierte Berufe der EU-Kommission reicht deren Anzahl von 77 in Litauen bis zu 543 in Ungarn. Die vielfältige Reglementierungslandschaft in der EU lässt sich beispielsweise anhand der Reglementierung von PhysiotherapeutInnen nachvollziehen (die im Ranking der mobilsten Berufsgruppen in Europa den vierten Platz belegen): In mehreren Ländern gibt es für diese Berufsgruppe einen geschützten Titel (z.B. in Deutschland und Schweden). In anderen, wie z.B. in Italien, sind einige physiotherapeutische Tätigkeiten den InhaberInnen einer bestimmten beruflichen Qualifikation vorbehalten. In einer weiteren Ländergruppe, darunter Frankreich und Belgien, werden beide Regulierungsarten miteinander kombiniert.

Darüber hinaus kann ein Beruf zwar in einem Land nicht reglementiert sein, aber in einem anderen schon. Da die Ausübung eines reglementierten Berufes den Bestimmungen des Gastlandes unterliegt, können es unterschiedliche Anforderungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten bezüglich der Qualifikationen oder die Notwendigkeit bestimmter Berufstitel EU-BürgerInnen schwieriger machen, in einem anderen EU-Mitgliedstaat einen Job aufzunehmen. Wenn sich die Qualifikationen des oder der Jobsuchenden erheblich von denen des Gastlandes unterscheiden, können sie aufgefordert werden, „Kompensationsmaßnahmen“ zu erfüllen, die aus einem Eignungstest oder einem Anpassungszeitraum bestehen können.

Die oben genannte Datenbank zeigt jedoch auch, dass in der gesamten EU eine große Mehrheit der Anerkennungsentscheidungen positiv ausfällt, wobei es große Unterschiede zwischen den Ländern gibt: Unter Berücksichtigung des Zeitraums ab 2014 bis 2018 fielen 82% der Anerkennungsentscheidungen in Deutschland positiv aus. 18% der Entscheidungen waren neutral, was bedeutet, dass die Fälle noch geprüft werden, eine Anpassungszeit oder eine Berufung durchlaufen. Dagegen waren beispielsweise in Italien nur 54% der Entscheidungen positiv, 34% neutral und 12% negativ. Letzteres bedeutet, dass der Zugang zu einem reglementierten Beruf abgelehnt wurde.

Ungenutzte Potenziale: Überqualifizierung mobiler EU-BürgerInnen

Ob mobile EU-BürgerInnen in der Lage sind, ihre Qualifikationen in eine angemessene Position und ein passendes Gehalt umzusetzen, ist eine entscheidende Frage für ihre Arbeitsmarktintegration. Gerade EU-MigrantInnen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern (MOE) scheinen dabei häufiger als andere EuropäerInnen Schwierigkeiten zu haben, wenn sie in ihrem Zielland beruflich Fuß fassen wollen.

Nahaufnahme

Junge EU-Migranten in Großbritannien

So arbeiteten laut Angaben der OECD (2014) mehr als die Hälfte der HochschulabsolventInnen unter den mobilen EU-BürgerInnen aus Mittel- und Osteuropa in Berufen, die ein niedriges oder mittleres Qualifikationsniveau erfordern. In ähnlicher Weise weist ein für die EU-Kommission erstellter Bericht darauf hin, dass EU-Bürger aus Mitgliedstaaten, die seit 2004 der EU beigetreten sind, sich eher überqualifiziert fühlten (37%) als solche aus älteren Mitgliedstaaten (27%) oder die in dem jeweiligen Gastland ansässige Bevölkerung (20%). Ein ähnliches Bild zeigt unsere Nahaufnahme von jungen EU-MigrantInnen aus den MOE-Ländern, die nach Großbritannien ausgewandert sind.

Abschließend lassen sich die wichtigsten Erkenntnisse dieses Dossiers wie folgt zusammenfassen:

 

Key Facts
  • 2017 lebten rund 4% der EuropäerInnen im erwerbsfähigen Alter (20-64 Jahre) in einem anderen EU-Land. Für die deutsche Bevölkerung liegt dieser Anteil bei lediglich 1%, in Rumänien bei fast einem Fünftel.
  • Die Beschäftigungsquote der mobilen EU-BürgerInnen ist mit 76,1% im Durchschnitt vier Prozentpunkte höher als der EU-Durchschnitt.
  • Ein großer Teil der mobilen BürgerInnen, die in den wichtigsten Zielländern wie Deutschland oder Großbritannien leben, ist ins Ausland gegangen, um einen Job anzunehmen oder im Ausland nach Arbeit zu suchen.
  • Mobile Bürger aus Mitgliedsstaaten, die der EU seit 2004 beigetreten sind, fühlen sich eher überqualifiziert als jene aus anderen EU-Ländern.

 

 

Zu den AutorInnen:

Sylvia Schmidt ist Projektmanagerin bei der Bertelsmann Stiftung im Programm Europas Zukunft, wo sie sich mit Sozialpolitik und dem europäischen Binnenmarkt beschäftigt. Auf Twitter: @_sylvia_schmidt

Philipp Ständer ist Policy Fellow am Jacques Delors Institute Berlin im Forschungsbereich Wirtschafts- und Sozialpolitik. Auf Twitter: @P_Staender

 

Hinweis:

Hier finden Sie die vollständige Studie, auf der diese Serie basiert.