Fremde Federn

Esther Duflo, Kreislaufwirtschaft, Tesla

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Was wir aus Fehlern in der Entwicklungshilfe lernen können, wie aus einer Agrarregion das Silicon Valley wurde und warum Nord Stream 2 so stark polarisiert.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Wann Entwicklungshilfe wirklich hilft

piqer:
Thomas Wahl

Ich weiß nicht, ob es den Mythos gibt, Armutsbekämpfung sei per se rausgeschmissenes Geld. Fakt ist, dass diese Hilfe oft nicht hilft und wir offensichtlich auch zu wenig analysiert haben, unter welchen Bedingungen vor Ort was funktioniert. Aber wir sollten uns auch klar machen, dass die Dysfunktionalität nicht unbedingt die Folge böser Absichten ist, sondern oft durch Unwissen, Überheblichkeit und entsprechende Fehler verursacht wird:

Für uns ist die Einsicht sehr wichtig, dass wir als Ökonomen ständig Fehler machen. Aber nicht nur Ökonomen liegen falsch. Die Kirche lag lange Zeit falsch. Selbst die Leute vor Ort liegen oft falsch. Das ist aber alles okay. Fortschritt ist nur möglich, wenn wir aus Fehlern lernen. In diesem Sinne vermittelt unsere Arbeit nicht unbedingt neues Wissen, sondern liefert neue Werkzeuge, mit denen sich die Produktion von Wissen verändert.

Die von Ester Duflo und Kollegen konsequent genutzte Methode randomisierter kontrollierter Studien sollte daher Standard für Sozialforschung und -politik sein und die oftmals ideologisierte Auseinandersetzung um den richtigen Weg ersetzen. Das gilt auch für Europa, z. B. für die Integration von Flüchtlingen.

Unsere Profession ist längst viel unideologischer, als es in den Medien zum Vorschein tritt. Wir haben unsere politischen Meinungen, aber der Großteil der empirischen Arbeit hat, auch in ihren Schlussfolgerungen, damit wenig zu tun. Ideologie ist an sich nichts Falsches. Sie hilft, die Gedanken und das Leben zu organisieren. Aber Ideologie war schlecht für die Wirtschaftswissenschaft, weil sie vielen Ökonomen gar nicht bewusst war. Als man zum ersten Mal aufzeigte, dass der Freihandel für viele arme Inder Nachteile brachte, waren viele liberale Handelsökonomen furchtbar sauer.

Wenn klar wird, dass keine gut gemeinte Strategie nur Nachteile oder nur Vorteile hat, dann wäre schon viel geholfen. Wie Duflo richtig sagt: Neben dem großen Wurf braucht man auch das pragmatische „Klempnern“.

Die Bodenfrage ist die soziale Frage der Zukunft – Aktuelle Vorschläge von Hans-Jochen Vogel

piqer:
Michael Hirsch

Im Artikel 14 des Grundgesetzes steht: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich der Allgemeinheit dienen.“ Wohl nirgendwo ist das Ziel des Grundgesetzes so gründlich verfehlt worden wie bei der Frage nach dem Besitz von Grund und Boden. Die Grundstücksspekulation schlägt deswegen so unmittelbar auf die soziale Lage der Bürger durch, weil der größte Anteil der Kosten für Neubauten für das Recht auf Bodennutzung anfällt. Der Artikel berichtet über ein Buch des ehemaligen Münchner Oberbürgermeisters, Bundesbauministers und SPD-Chefs Hans Jochen Vogel zur Boden- und Wohnungsfrage.

„In München macht der Anteil für den Boden heute fast 80 Prozent der Neubaukosten einer Wohnung aus. Bundesweit sind die Baulandpreise seit 1962 um 2308 Prozent gestiegen; in München seit 1950 gar um 23390 Prozent. „Es erstaunt mich“, schreibt Vogel, dass die Zahlen „so gut wie keine öffentlichen Protestbewegungen und bisher auch keinen Medienaufruhr verursacht haben“.

Die Kernthese des Buches ist, dass Boden nicht wie irgendeine andere Ware gehandelt werden darf. In dem Buch greift Vogel dazu eigene Vorschläge für grundlegende, also an die Wurzel des Problems gehende, Bodenreformen aus den 1970er Jahren auf. Diese Vorschläge sind von einer, gerade auch für die Partei der Sozialdemokratie, geradezu beschämenden Aktualität. Wie konnte es passieren, dass man die Entwicklungen auf dem Immobiliensektor jahrzehntelang einfach laufen ließ und die Politik die Kontrolle über eines der wichtigsten Elemente der Daseinsvorsorge verlor? Wie konnte man einfach 50 Jahre Zeit verlieren?

Erschütternd aktuell die Auszüge aus einer Rede von Vogels zuständigem Rathausminister von 1970:

„Es ist höchste Zeit, das Eigentum an Grund und Boden im Sinne des Grundgesetzes einer echten Sozialbindung näherzuführen. Um Wucher und Bodenspekulation zu bekämpfen, muss dem Boden seine privilegierte Funktion als Ablagegut mit risikoloser Gewinnchance endlich genommen werden.“

Vom Acker zur Supermacht –
der Aufstieg des Silicon Valley

piqer:
Hauke Friederichs

Bevor die Entwickler, Ingenieure und Programmierer in das Tal kamen, hatten dort Farmer das sagen. Die kalifornische Region war für ihre Früchte bekannt, Aprikosen und Pflaumen wurden dort angebaut.

Wo heute das Silicon Valley für technologischen Fortschritt steht, gab es damals nur Farmen – und die Stanford Universität. Sie war gut, aber bei Weitem noch nicht das Harvard des Westens. Die Hochschule kam an Eliteunis wie Oxford und Cambridge nicht heran. Das ist längst Geschichte. Und darüber spricht die Historikerin Margaret O`Mara, Professorin an der University of Washington, im Interview mit Sonja Peteranderl von Spiegel Online. (Sie ist auch Kuratorin hier bei PIQD).

O`Mara hat für ihr Buch „The Code. Silicon Valley and the Remaking of America“ untersucht, wie aus einem verschlafenen Tal das Silicon Valley und damit die berühmteste Tech-Zentrale der Welt entstand.

„Der Wendepunkt waren zunächst der zweite Weltkrieg und dann der Kalte Krieg, als die US-Regierung signifikant in die Forschung und Entwicklung eingestiegen ist“, erzählt O`Mara. Auch andere Regionen haben von Militärausgaben profitiert, aber in Nordkalifornien gab es eine Ansammlung von Firmen, die sich auf Mikroelektronik und Kommunikationsgeräte konzentriert hatten, wie Radar- oder Mikrowellentechnik. Das waren die Bausteine für die Computer-Revolution.“

Im Silicon Valley siedelten sich keine Rüstungskonzerne an. Die Unternehmen sahen sich als Start-ups. Gründer von Fairchild Semiconductor, einem Halbleiterhersteller, haben später den Chip-Giganten Intel aufgebaut und die Venture-Capital-Gesellschaft Kleiner Perkins, einen der bedeutendsten Risikokapitalgeber. Diese ersten Unternehmer hätten später die ganze PC-Generation angetrieben, stellt O’Mara fest. Sie verklärt die Anfangszeit im Silicon Valley aber nicht. Ihr Fazit:

„Auf den ersten Blick wirkt es wie ein Mafia-Clan – es ist eine sehr eng miteinander verbandelte Gruppe von Männern, die sich seit Ewigkeiten kennen.“

Wie die Ameisen – Plädoyer für eine Kreislaufwirtschaft

piqer:
Leonie Sontheimer

Ich habe ein gespaltenes Verhältnis zu Jan Grossarths Texten. Als Wirtschafts-Journalist der FAZ hat er Themen wie Landwirtschaft und Welternährung, die mir am Herzen liegen, meist mit einer grundlegend anderen Haltung beschrieben. Gleichzeitig finde ich seine Argumente oftmals sehr stark. So habe ich stets viel gelernt, wenn ich seine Texte gelesen habe.

Nun ist Grossarth in die Kommunikation des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft gewechselt. In dem aktuellen Quarterly-Magazin der FAZ ist ein Artikel von ihm erschienen, der – in seinen eigenen Worten – wesentliche Gedanken aus seinen Büchern über das Gift und über die zukünftige Welternährung zusammenfasst. Es ist ein Abschieds-Plädoyer; für eine Kreislaufwirtschaft und gegen die Romantisierung der Natur. Wobei Grossarth hier vielleicht nur so gegen das wettert, was er als „Rudolf-Steiner-Anthroposophie“ bezeichnet, weil er gleichzeitig vorschlägt, dass wir so werden sollten wie die Ameisen.

Ameisen erzeugen kein Gramm Müll. Die Dummheit der Menschen hingegen besteht darin, ihre Umwelt seit Jahrzehnten vollzumüllen. Geht man durch die Städte Afrikas, ahnt man, dass Millionen in Hütten leben, die auf Sand, Coladosen und Plastikdreck stehen. In Griechenland und Italien liegt auch ziemlich viel Schrott herum. Bei uns wird der Müll perfekt wegorganisiert. In den Müllverbrennungsanlagen wird er dann aber zu Kohlendioxid, also atmosphärischen Müll, also von einem lokalen zu einem globalen Problemfall.

Einer, der schon lange beschreibt, wie wir aus der (Plastik-)Müllspirale rauskommen können, ist Michael Braungart. Grossarth zitiert ihn auch in seinem Artikel. YouTube ist voll von Vorträgen von Braungarts Cradle-to-Cradle-Vision, in der alle Bauteile eines Produkts wiederverwertbar sind.

Ich denke mir: egal, ob „umwelttechnische Ameisenwerdung“ oder spirituelle. Hauptsache wir werden mehr wie Ameisen.

Methodendebatte: Von der traditionellen Volkswirtschaftslehre zum Politischen in der Ökonomik

piqer:
Ole Wintermann

Ist der Kapitalismus und die mit ihm verbundene Auffassung von “Arbeit” als etwas neben der Natur stehendes Ursache oder auch Lösungsansatz globaler Probleme? Dieser Frage widmet sich Anil Shah vom #EconomistsforFuture-Kollektiv in seinem aktuellen Beitrag für Makronom.de. Die Wirtschaftswissenschaft und ihr traditionelles Verständnis der Produktionsfaktoren als abseits der natürlichen Umwelt stehendes zentrales Element des Gedankenmodells steckt nicht erst seit der Finanzkrise in einer methodischen Sackgasse.

Diese Sackgasse wird nun erneut in der Zeit der Klimakrise sichtbar, kann die etablierte Wirtschaftswissenschaft doch den #FridaysForFuture-Jugendlichen im Gegensatz zu den Klimawissenschaftlern keinerlei Antworten auf die Klimakrise anbieten. Der Autor verweist stattdessen auf die Ansätze der Politischen Ökologie, die wirtschaftliche Tätigkeit immer in und als Wechselwirkung mit der Umwelt sehen. Die Ökologische Ökonomik hingegen sieht das Hauptproblem unserer gegenwärtigen Wirtschaftsweise in der Tatsache begründet, dass die implizite Externalisierung von Kosten Grundlage jedes Profits ist und dies in den betrieblichen Kosten keinen Niederschlag findet.

„Die 20 größten Fleisch- und Milchkonzerne emittieren bereits heute mehr als ganze Industriestaaten (etwa Deutschland oder Australien) und sind (…) auf dem besten Weg, Erdölgiganten wie ExxonMobil, Shell oder BP in puncto Treibhausgasemissionen zu überholen.“

Diese Externalisierung findet auch in sozialen Spaltungen statt, die Grundlage der Kapitalakkumulation sind.

Die Lösung sieht Shah in der Akzeptanz des Politischen in der Ökonomik, um zu einer ganzheitlichen systemischen Betrachtung zu kommen. Seine Gleichsetzung dieses zukunftsorientierten Ansatzes mit dem Ansatz der “Politischen Ökonomie”, die eigentlich aus der Politikwissenschaft stammt, kann ich jedoch nicht ganz nachvollziehen. Dennoch zeigt seine Zusammenfassung des Methodendiskurses sehr anschaulich, dass sich etwas ändern muss und auch wird.

„Geld ist, wenn der eine den anderen im Sack hat“

piqer:
Moritz Orendt

Das obige Zitat stammt von dem russischen Schriftsteller Leo Tolstoi. Dieser sah Geld als Fortsetzung der Leibeigenschaft mit anderen Mitteln. Fakt ist, dass Geld unsere Gesellschaft ordnet und es eines der großen wirtschaftlichen Themen ist, das unser Leben beeinflusst.

Darum haben wir es für die zehnte Folge unseres Wirtschaftspodcasts ausgewählt. Darin besprechen wir diese fünf Fragen:

  • Erfindung: Wie kam das Geld einmal in die Welt?
  • Schöpfung: Wie kommt heute unser Geld in die Welt?
  • Deflation: Was ist eigentlich das Problem, wenn alles billiger wird?
  • Inflation: Was schockt uns Deutsche so, wenn die Preise steigen? Warum war die Zeit der Hyperinflation so traumatisch und hat sich tief in unser kulturelle Gedächtnis eingeprägt?
  • Aktuelle Situation: Zur Zeit gibt es negative Zinsen. Ist das etwas Besonderes und müssen wir uns deswegen Sorgen machen?

Viel Vergnügen beim Hören.

Die Europäische Investmentbank wird (fast) keine fossilen Projekte mehr finanzieren

piqer:
Daniela Becker

Was wäre, wenn Investoren von heute auf morgen kein Geld mehr in fossile Energieprojekte steckten? Vermutlich würden sehr viel mehr und schneller Alternativen entwickelt. Divestment ist ein mächtiges finanzpolitisches Instrument.

Insbesondere die ganz großen Geldgeber tun sich bislang aber schwer. Nach Recherchen der Umwelt- und Menschenrechtsorganisation „Urgewald“ hat alleine die Weltbank zwischen 2014 und 2018 zwölf Milliarden Dollar in Kohle-, Öl- und Gas-Projekte investiert, aber nur fünf Milliarden Dollar in Erneuerbare Energien.

Umso bemerkenswerter ist die Entscheidung der Europäischen Investitionsbank. Die wichtigste zwischenstaatliche Investitionsbank will ab 2021 keine Darlehen mehr für fossile Energieprojekte vergeben.

Hier geht es zum Originalstatment der EIB.

• Die EIB-Gruppe will bis 2030 Investitionen von 1 Billion Euro in Klimaschutz und ökologische Nachhaltigkeit mobilisieren.

• Alle Finanzierungsaktivitäten der EIB-Gruppe werden bis 2020 auf die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens ausgerichtet.

Festgeschrieben ist die Entscheidung in den neuen EIB-Förderregeln. Dort ist nun vorgesehen, dass pro erzeugter Kilowattstunde Strom lediglich 250 Gramm CO2 anfallen dürfen, wenn ein Projekt unterstützt werden soll. Bei Gaskraftwerken liegt der Wert in der Regel höher. Der EIB-Grenzwert lag bislang bei 550 Gramm.

Unter den EU-Mitgliedstaaten gab es jedoch zunächst Widerstand gegen den Schritt, etwa aus Polen, Rumänien und Ungarn. Auch die Bundesregierung trat in den vergangenen Wochen als Bremser auf, stimmte schließlich aber zu, nachdem in den ursprünglichen Entwurf eine Übergangsfrist von zwei Jahren hineinverhandelt wurde: Erdgas und andere klimaschädliche Energien dürfen noch bis 2021 unterstützt werden.

Übrigens: Jeder Mensch kann bei seiner eigenen Hausbank nachfragen, wie deren Investmentstrategie funktioniert. Divestment des eigenen Girokontos, des Vermögensaufbau und der Altersvorsorge ist eine Klimaschutzmaßnahme, die jeder selbst steuern kann.

Tesla und Enercon

piqer:
Frank Lübberding

Die Meldung der letzten Woche war der Bau eines Automobilwerks von Tesla in Brandenburg. Es setzte sich gegen Mitbewerber aus anderen Bundesländern durch. Größenordnung und geplante Bauzeit des Werks entsprechen dem Branchenstandard, genauso wie die zu erwartenden Fördergelder in noch unbekannter Höhe. Ob Tesla in Grünheide seine chronischen Produktionsschwierigkeiten in den Griff bekommt, und wer dafür zuständig sein wird, bleibt abzuwarten.

Interessant ist diese Meldung aber noch aus einem anderen Grund. Kürzlich meldete der Windkraftanlagenbauer Enercon den Arbeitsplatzabbau an seinen Standorten in Aurich und Magdeburg. Tesla segelt zwar schon immer hart am Winde, nicht zuletzt wegen der PR-Expertise von Elon Musk. So hat er aber bisher die Pleite verhindert, weshalb Tesla wegen der daraus entstehenden Zukunftsperspektiven (aus der Perspektive von Investoren über die Sichtweise anderer Investoren) sogar einen höheren Börsenwert als GM oder BMW hat.

Jenseits dessen hat Tesla mit seinem risikoreichen Geschäftsmodell Bewegung in eine Branche gebracht, deren Produkte uns von A nach B bringen sollen. „Hüpfen für den Absatz“ wird aber nicht reichen, wenn die gerade erst beschlossenen, Förderung genannten Subventionen für die Branche auslaufen sollten. Ansonsten wird es den Herstellern von Elektroautos so gehen wie der deutschen Windkraftindustrie. Deren Geschäftsmodell funktionierte bisher nur mit Unterstützung der Politik, was diese noch anfälliger macht für politischen Lobbyismus als es sonst schon der Fall ist. Die Autoindustrie setzt nämlich zwei Drittel ihrer Produkte auf dem Weltmarkt ab. Im Gegensatz zur Windkraftindustrie, die sich bis heute als Hoflieferant der deutschen Energiewende versteht.

Aber dafür bekommt Tesla schon einmal einen kleinen Vorgeschmack auf die zu erwartenden Debatten. In Berlin sorgen sie sich um die Mieten. Mit einer Wohnungsbaupolitik, die keine Wohnungen baut, ist diese Sorge allerdings begründet.

Gleichheit als Selbstzweck – Pikettys zweiter Streich?

piqer:
Thomas Wahl

Soziopolis bringt hier eine ausführliche, gut lesbare Rezension zu „Capital et Idéologie“ von Thomas Piketty. Ich finde sie etwas zu unkritisch gegenüber den Grundannahmen der m. E. eindimensionalen Betrachtung von Geschichte durch den Faktor „Ungleichheit“. Piketty rekapituliert die europäische

Geschichte der „Großen Transformation“ … , die bis in die Dekade der 1980er-Jahre zu immer stärker nivellierten Gesellschaften geführt hat, und die freilich auch zum „Hyperkapitalismus“ der Jetztzeit überleitet. Piketty zeigt, dass es weniger Weltkriege und Wirtschaftskrise allein gewesen sind, die als Motor zur Entwicklung größerer innergesellschaftlicher Gleichheit gewirkt hätten. Nach seinem Urteil ist es eine bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert startende, dezidiert egalitäre und sozialdemokratische Gegenbewegung, die durch eine Reihe von Maßnahmen dazu beitrug, Ungleichheit abzubauen.

Aber ist die laut Gini-Koeffizient gewachsene Ungleichheit (wobei Piketty Bruttowerte nutzt) eine von der Ideologie verursachte und gewollte Folge? Schließlich haben die immer stärker nivellierten Gesellschaften spätestens seit den 70er Jahren in den westlichen Staaten hohe Arbeitslosigkeit, Inflation und Stagnation hervorgebracht. Eigentlich alle Staaten waren in erheblichen wirtschaftlichen Krisen. Bis zum beinahe Staatsbankrott Schwedens als Vorreiter egalitärer Bemühungen. Eher war wohl das Versagen der von Piketty so gelobten Werkzeuge, die Unwirksamkeit der staatlichen Globalsteuerung, der Auslöser einer Gegenbewegung und einer dann gestärkten Gegenideologie.

Auch der Vergleich der Ungleichheit in der Ständegesellschaft mit den modernen Sozialstaaten stellt sehr unterschiedliche Wohlstandsniveaus nebeneinander – vergleicht dadurch absolute Armut damals mit relativer Armut heute. Ob das im Sinne von Rawls’ Prinzip der Gerechtigkeit ist? Erschreckt hat mich die positive Erwähnung der angeblich erreichten Gleichheit in den sozialistischen Ländern.

Warten wir auf das Buch …

Nord Stream: Eine Pipeline spaltet den Kontinent

piqer:
Ulrich Krökel

Mitunter lässt es tief blicken, wenn man deutsche und polnische Schlagzeilen gegeneinanderliest. Ende letzter Woche zum Beispiel machte das Online-Portal der Warschauer Tageszeitung Rzeczpospolita erstaunlich lange mit der Schlagzeile auf: „Die Deutschen haben gegen Nord Stream 2 gestimmt“. In dem Text ging es um ein Votum des Bundestages, mit dem die jüngsten Vorgaben der EU für das deutsch-russische Pipelineprojekt umgesetzt wurden. Deutschen Medien war das kaum eine Erwähnung wert. Im Vorspann zu dem DW-Hintergrund, den ich hier empfehlen möchte, heißt es sogar, der Bundestag habe „die letzte Hürde für die Fertigstellung der Ostseepipeline aus dem Weg geräumt“.

Die unterschiedliche Bewertung zeigt, wie extrem umstritten Nord Stream in Europa noch immer ist. Und durch die Einmischung der USA, die ihr billiges und schmutziges Fracking-Gas nach Europa verkaufen wollen und in Nord Stream daher vor allem eine Konkurrenz sehen, ist alles noch schlimmer geworden. Und verwirrender. Genau deshalb ist der DW-Hintergrund, an dem Autor*innen aus Brüssel, Moskau und Washington mitgearbeitet haben, so lesenswert. Die wesentlichen Fakten und Zusammenhänge sind dort gut verständlich aufgedröselt. Wohltuend ist vor allem, dass es in den Bewertungen keine unnötigen Schuldzuweisungen gibt:

Innerhalb der EU sorgt die Nord Stream 2 für eine tiefe Spaltung. Das Projekt wird vor allem von Deutschland, Österreich und den Niederlanden unterstützt. Dies sind die Länder, in denen die meisten Konzerne ansässig sind, die das Projekt mitfinanzieren. Gegen die Pipeline sind vor allem die mittel- und osteuropäischen Länder. Beide Gruppen haben ihre wirtschaftlichen Interessen. […] Polen zum Beispiel wird Probleme mit der Gasversorgung der südöstlichen Gebiete haben, falls kein russisches Gas nach der Inbetriebnahme der Nord Stream 2 über die Ukraine transportiert wird.

Was im Text fehlt, ist der Blick auf historische Befindlichkeiten. Aber das macht den Fokus nur klarer und das Stück besser.x