Wir erleben derzeit mindestens den Anfang einer neuen Globalisierungsstufe – nicht unbedingt durch eine erneute Steigerung des globalen Handelsvolumens, sondern mit Blick auf dessen Gestaltung. Wie sich dies konkret äußert, betrachten wir in einer neuen Makronom-Serie aus verschiedenen Blickwinkeln (mehr über das Konzept der Serie erfahren Sie hier). Alle bisher erschienenen Beiträge finden Sie hier.
Seit dem Beginn erster Globalisierungsschübe war die Frage der Verteilungswirkung von wirtschaftlicher Integration Gegenstand intensiver Diskussion. Dies betrifft einerseits die globale Ungleichheit im Pro-Kopf-Einkommen im Kontext der Marktöffnung von Entwicklungs- und Schwellenländern, andererseits aber auch die länderinterne Ungleichheit in der personellen Einkommensverteilung in reichen wie in armen Ländern.
In jüngerer Zeit wurde die Debatte durch Studien befeuert, die auf das Phänomen einer zunehmenden Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung in nahezu sämtlichen Ländern hingewiesen haben, vor allem im Zusammenhang mit einem überdurchschnittlichen Wachstum der Einkommen am obersten Rand. Die Rolle der Globalisierung wurde hierfür als ein möglicher Erklärungsfaktor ins Spiel gebracht. Jüngst hat zudem die COVID-Pandemie mit ihren asymmetrischen ökonomischen Effekten vor Augen geführt, dass internationale Produktionsnetzwerke sich im Krisenfall nicht nur als fragil erweisen können, sondern ihr Ausfall Menschen je nach Branche und Berufsfeld auch im unterschiedlichen Maße wirtschaftlich treffen kann.
Erkenntnisse der klassischen ökonomischen Literatur und empirische Evidenz
Vor diesem Hintergrund ist es hilfreich, die Erkenntnisse der ökonomischen Literatur zum allgemeinen Zusammenhang zwischen Globalisierung und ökonomischer Ungleichheit zu rekapitulieren. Im Zentrum der Beobachtung steht dabei oftmals der grenzüberschreitende Warenhandel als unmittelbar sichtbarstes Zeichen globaler Integration. Die Sicht der klassischen Außenhandelstheorie auf dessen Verteilungseffekte ist ambivalenter Natur. Auf globaler Ebene wird erwartet, dass alle am Freihandel teilnehmenden Länder über Produktivitätszuwächse an den positiven Effekten verstärkter Spezialisierung partizipieren. In welche Richtung jedoch sich das Maß an Ungleichheit innerhalb der geöffneten Länder verändert, hängt dem klassischen Stolper-Samuelson-Theorem folgend entscheidend von der Verteilung der Qualifikationsniveaus ab.
In Ländern mit im globalen Vergleich großem Bestand an hochqualifizierten Arbeitskräften wird sich bei einer Handelsöffnung die Produktion in Richtung von Branchen mit stärkerem Bedarf an hochqualifizierter Arbeit verlagern. Die steigende Nachfrage in diesem Arbeitsmarktsegment führt zu Gehaltszuwächsen für Hochqualifizierte, was die Einkommensschere in diesen Ländern weitet. In Ländern mit geringem Bestand an Humankapital vollzieht sich demnach der gegenteilige Prozess: Der steigende Bedarf an Geringqualifizierten erhöht deren Lohnniveau, wodurch sich die Einkommensunterschiede in diesen Ländern verringern. Da das Qualifikationsniveau der Erwerbsbevölkerung in reicheren Ländern im Schnitt höher ausfällt, besteht die Erwartung, dass Handelsintegration zu wachsender Ungleichheit innerhalb der reichen und schrumpfender Ungleichheit innerhalb der armen Länder führen sollte.
Die empirische Evidenz für die letzten Jahrzehnte steht Teilen dieser These jedoch entgegen. Für die Gruppe der OECD-Länder ist eine positive Korrelation zwischen dem Wert von Globalisierungsindizes und dem Niveau an länderinterner Einkommensungleichheit empirisch dokumentiert. Demgegenüber finden sich keine Anzeichen für einen Rückgang von Ungleichheit im Kontext wachsender Offenheit für die Gruppe der weniger entwickelten Länder. Im Gegenteil, in einigen Ländern lässt sich zeitlich ein enger Bezug zwischen Handelsreformen und dem Anstieg der Lohnlücke zwischen Hoch- und Geringqualifizierten ausmachen. In fast allen dieser Länder hat sich dies auch in allgemein wachsender Lohnungleichheit niedergeschlagen.
Neuere Ansätze von Handelstheorien
Neuere Ansätze von Handelstheorien scheinen in dieser Hinsicht besser geeignet, die beobachteten Entwicklungen zu erklären. Sie haben gemeinsam, dass globale Integration nicht länger nur als grenzüberschreitender Austausch von Gütern begriffen wird, sondern als vielschichtiges Phänomen. So wird die Bedeutung von Technologietransfer im Zusammenhang mit Marktintegration betont. Ärmere Länder erhalten über den Import technologieintensiver Güter oder die Aktivitäten multinationaler Unternehmen (MNUs) aus reicheren Ländern Zugang zu neuen Technologien, mit deren Hilfe sie ihre Produktivität steigern können. Da die Implementierung neuer Technologien vor allem den Bedarf an qualifizierten Fachkräften erhöht, ist ein Anstieg der Entlohnung Hochqualifizierter und damit des Lohngefälles innerhalb dieser Länder zu erwarten.
Ähnlich argumentieren Theorien, die sich auf die Anreize von MNUs für Outsourcing-Aktivitäten fokussieren. Gemäß Feenstra & Hanson dient die unternehmensinterne Auslagerung von Aktivitäten von reichen in ärmere Länder in erster Linie der Ausnutzung von Lohnkostenvorteilen ärmerer Länder im Bereich von geringqualifizierter Arbeit. Eine Verringerung der Kosten grenzüberschreitenden Handels würde demnach auch eine Verlagerung von Aktivitäten mit höherem Qualifikationsgehalt in ärmere Länder rentabel machen, wodurch die Nachfrage nach Fachkräften in diesen Ländern steigt.
Die Aktivitäten multinationaler Unternehmen können aber auch auf indirektem Wege zur Spreizung der Einkommensverteilung innerhalb von Ländern beitragen. So kann die Ansiedlungskonkurrenz der Standorte in einen Steuersenkungswettbewerb münden, der finanzierungsseitig die staatlichen Möglichkeiten zur Unterstützung wirtschaftlich schlechter gestellter Gruppen einschränkt. Auch kann die internationale Mobilität des Firmenkapitals zu verstärktem Druck auf Arbeitsmarktinstitutionen führen, die den Verhandlungsspielraum bei der Lohnsetzung gerade für Geringqualifizierte einschränken.
Dieselbe Wirkung lässt sich aber auch ohne die grenzüberschreitende Tätigkeit von Konzernen erklären, wenn die strukturellen Besonderheiten von Exportunternehmen berücksichtigt werden. Die empirische Forschung macht deutlich, dass im Export aktive Unternehmen im Schnitt produktiver sind und/oder Güter höherer Qualität herstellen als rein inländisch agierende Unternehmen. Von einer Handelsöffnung können dabei entscheidende Selektionseffekte ausgehen. Während Unternehmen mit hoher Produktivität und Produktqualität durch die Marktöffnung in ihren Absatzpotenzialen gestärkt werden und wachsen, leiden wenig produktive Unternehmen unter der zunehmenden Konkurrenz durch Importgüter. Da produktivere Unternehmen infolge ihrer höheren Einnahmepotenziale auch mehr Aufwand in die Suche nach hochqualifizierten Arbeitskräften stecken können, steigen im Zuge dieses Prozesses Nachfrage nach und Entlohnung Hochqualifizierter.
Schließlich lassen sich auch für andere Facetten der Globalisierung vergleichbare Effekte beobachten. So ermitteln Furceri & Loungani einen Anstieg der Einkommensungleichheit im Zusammenhang mit der internationalen Öffnung von Kapitalmärkten. Dies wird zum einen damit begründet, dass höhere Einkommen finanzierungsseitig leichteren Zugang zu attraktiven internationalen Anlagemöglichkeiten erhalten. Zum anderen übt die verschärfte Konkurrenz der Marktstandorte Druck zur Deregulierung aus, wovon ebenfalls stärker Anleger mit höheren Einkommen infolge besseren Zugangs zu Informationen und Beratungsleistungen profitieren.
Verteilungsmuster schwer empirisch erklärbar
Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte sind über neuere ökonomische Ansätze also durchaus erklärbar. Damit ist allerdings noch keine direkte kausale Wirkung von Globalisierung auf Verteilungsmuster nachgewiesen. Methodisch stellt dies die empirische Forschung vor einige Probleme. So ist vor allem in Ländern mit demokratischen Systemen ein möglicher Zusammenhang zwischen dem Niveau der globalen Integration und dem Ausmaß der Ungleichheit mit hoher Wahrscheinlichkeit wechselseitiger Natur. Denn wachsende Ungleichheit im Zuge von Handelsöffnung erzeugt, bei üblicher rechtsschiefer personeller Einkommensverteilung, politischen Druck zur Ergreifung von Korrekturmaßnahmen. Dies kann die Rücknahme von Öffnungsschritten beinhalten oder eine Stärkung von Instrumenten im Bereich der Umverteilungspolitik. In beiden Fällen wird der direkte Zusammenhang verwässert. Auch werden konkurrierende Ursachen für die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte diskutiert, die zeitlich parallel zur Zunahme der Globalisierung verlaufen sind.
Der häufigste konkurrierende Erklärungsansatz ist der Eintritt einer mit skill-bias einhergehenden Form von technologischem Wandel, wie er sich im Zusammenhang mit der Computerisierung der Arbeitswelt vollzogen hat. Die relative Entlohnung Hochqualifizierter ist demnach aufgrund wachsender Produktivitätsunterschiede zwischen den Qualifikationsniveaus gestiegen, auch weil Hochqualifizierte stärker in komplementärer Beziehung zu den neuen Formen von Produktivkapital stehen. Da dieser Wandel nicht nur zeitlich parallel zum Fortschritt der Globalisierung verläuft, sondern seinerseits von Integrationsschritten befruchtet wird, ist die Zuordnung eines Globalisierungseffekts auf Basis der empirischen Zahlen mit Schwierigkeiten verbunden. Ähnliches lässt sich über Wechselwirkungen mit Ansätzen zur internen wirtschaftspolitischen Deregulierung sagen, wie sie vor allem in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern im Zuge der 1980er und 1990er Jahre umgesetzt wurden. Diese wurden oft im Zuge von Prozessen der Marktöffnung initiiert, hatten ihrerseits aber auch einen unmittelbaren Anstieg der Ungleichheit zur Folge.
Auch wenn der Nachweis einer direkten Wirkung auf die Einkommensverteilung schwierig ist, kann das Zusammenwirken von globaler Integration mit ihren Begleiteffekten so als ein Einkommensunterschiede verstärkender Prozess begriffen werden. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass Globalisierung per se zu mehr Ungleichheit geführt hat. So konnte empirisch gezeigt werden, dass Formen kultureller Globalisierung effektiv in der Förderung von Frauenrechten und der Reduktion von Geschlechterungleichheit gewirkt haben. Auch im Hinblick auf die Durchsetzung grundlegender Menschenrechte wie dem Schutz vor Folter und politischer Inhaftierung konnte ein positiver Effekt der Globalisierung empirisch dokumentiert werden. Und inwieweit sich Marktprozesse in tatsächlicher ökonomischer Ungleichheit der Konsummöglichkeiten niederschlagen, hängt immer auch von den politischen Institutionen eines Landes ab. Dorn et al. etwa konnten in einer jüngeren Untersuchung einen ungleichheitsverstärkenden Effekt nur für Länder auf niedrigem und mittlerem Einkommensniveau bestätigen, was sie der Existenz gut entwickelter Transfer- und Bildungssysteme in den reichen Ländern zuschreiben.
Die von Kuznets (1955) vertretene These eines allgemein nicht-linearen Zusammenhangs zwischen Pro-Kopf-Einkommen und Ungleichheit könnte so auch auf die Wirkung von globaler Integration angewandt werden. Dies wäre auch vor dem Hintergrund plausibel, dass der Aufbau stabiler politischer Institutionen seinerseits gesellschaftliche Ressourcen erfordert, die zunächst über Produktivitätsgewinne aus der Marktöffnung erwirtschaftet werden müssen. Die Auswirkungen der COVID-Pandemie stellen auch in dieser Hinsicht unmittelbar eine große Belastungsprobe dar. Bei rasch einsetzender weltwirtschaftlicher Erholung und einer Stärkung der gesellschaftlichen Sicherungssysteme mit Blick auf zukünftige Krisen könnten sie aber ebenso gut für den Beginn einer neuen, erfolgreichen Etappe in der Geschichte der Globalisierung stehen.
Zum Autor:
André Wolf ist Geschäftsführer der HWWI Consult und leitet am HWWI den Forschungsbereich „Konjunktur, Weltwirtschaft und internationaler Handel“.