In seinem Beitrag zur Soli-Debatte hat Tobias Hentze vom IW Köln vehement für eine schnelle und ersatzlose Abschaffung des Solidaritätszuschlags plädiert. In diesem Zusammenhang ist er auch explizit auf unseren Beitrag eingegangen und hat argumentiert, die von uns vorgeschlagene Integration des Soli in die Einkommensteuer käme einer „Steuererhöhung durch die Hintertür“ gleich. Zudem ist Hentze offenbar der Ansicht, wir nutzten den Soli als Feigenblatt, anstatt offensiv für entsprechende „Steuererhöhungen“ einzutreten.
Hentzes Plädoyer beruht im Wesentlichen auf zwei Punkten, die auch in der politischen Debatte gelegentlich angeführt werden. Seine Herangehensweise ist dabei für die gesamte Debatte um die Soli-Abschaffung sehr lehrreich. Erstens bemüht sich Hentze nach Kräften zu plausibilisieren, dass „jedes auch noch so kleine Festhalten am Soli“ de facto einer Steuererhöhung gleichkäme. Zweitens wird die Abschaffung des Soli vor diesem Hintergrund zu einer grundsätzlichen Glaubwürdigkeits- und Vertrauensfrage hochstilisiert: Der Staat könne durch die Abschaffung „gerade in einer Zeit, in der das Vertrauen in die etablierten politischen Kräfte zumindest angeknackst ist“, „neues Vertrauen bei Bürgern und Unternehmen […] schaffen.“
Ist der Soli ein temporärer „Fremdkörper“?
Um seinen ersten Punkt zu plausibilisieren, führt Hentze unter anderem an, der Soli sei lediglich als temporärer „Fremdkörper im deutschen Steuerrecht“ konzipiert worden – für seine Abschaffung habe es in den vergangenen Jahren „zahlreiche Ankündigungen“ und „vielfach wiederholte Versprechen“ gegeben, die es nun einzulösen gelte. Aber ist der Soli tatsächlich ein solcher Fremdkörper, dessen „vollständige Abschaffung der einzig logische Schritt“ wäre?
Beim Soli handelt es sich um eine Ergänzungsabgabe, die immerhin namentlich im Grundgesetz (Art. 106, Abs. 1 Satz 6 GG) erwähnt und damit offenbar bewusst nicht nur im deutschen Steuerrecht, sondern sogar in der Finanzverfassung verankert ist – ein Fremdkörper sieht anders aus. Dass eine solche Ergänzungsabgabe im Übrigen grundsätzlich zeitlich nicht befristet sein muss, hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 8. September 2010 hervorgehoben.
Und ist die Soli-Abschaffung in den vergangenen Jahren tatsächlich so häufig angekündigt und versprochen worden? Es stimmt, Wolfgang Schäuble hatte eine Abschaffung in elf kleinen Schritten in Aussicht gestellt und in den meisten Wahlprogrammen zur Bundestagswahl ist – ohne nähere Festlegung – der Soli-Abbau erwähnt worden. Allerdings hatte niemand geringeres als Bundeskanzlerin Angela Merkel noch im Dezember 2014 unter der Überschrift „Der Soli bleibt“ angekündigt, dieser müsse aufgrund der Finanzbedarfe auch über das Jahr 2019 hinaus weiter erhoben werden. Vor diesem Hintergrund konnten Bürger und Unternehmen also keinesfalls fest damit rechnen, der Soli werde bald abgeschafft. Daraus folgt, dass sie seine Beibehaltung auch nicht unbedingt als Steuererhöhung wahrnehmen werden.
Überhaupt können doch nicht (vermutete oder unterstellte) subjektive Erwartungen über zukünftige Steuerbelastungen zum Maßstab für die objektiv feststellbare Steuerbelastung gemacht werden: Wenn der Soli – wie von Herrn Hentze und anderen gefordert – 2020 ersatzlos gestrichen würde, sänke die Steuerlast mit einem Schlag um 20 Milliarden Euro. Dies unter Verweis auf irgendwelche behaupteten Erwartungen nicht als Steuersenkung zu verbuchen, sondern als gleichbleibende Steuerbelastung zu interpretieren, ist, mit Verlaub, schon ziemlich weit hergeholt.
Das gilt leider in noch viel stärkerem Maße für die Ausführungen zu den angeblichen Glaubwürdigkeits- und Vertrauenseffekten einer Soli-Abschaffung. Durch die Abschaffung könne neues Vertrauen der Bürger und Unternehmen geschaffen werden, so das Argument. Selbst wenn – was genau soll das heißen? Kann man das irgendwie konkret erfassen? Werden positive makroökonomische Erwartungseffekte, etwa auf Wachstum und Beschäftigung postuliert? Darüber erfährt man nichts, vermutlich weil man dazu wissenschaftlich fundiert schlicht nichts sagen kann. Nur ein politischer Effekt wird suggeriert, nämlich der einer Stärkung des Vertrauens in die etablierten politischen Kräfte, das ja als „zumindest angeknackst“ beschrieben wird. Soll die Abschaffung des Soli also in relevantem Umfang AfD-Wähler wieder zu den etablierten politischen Kräften führen?
Eine weitere Ungereimtheit soll nicht unerwähnt bleiben: Man kann nicht auf der einen Seite die Beibehaltung des Soli zur Steuererhöhung umdeklarieren, weil die Bürger und Unternehmen sich angeblich fest auf die Abschaffung eingestellt haben, und auf der andere Seite die Umsetzung des ja ohnehin Erwarteten dann zur Ursache für einen positiven Vertrauensschub machen.
Die Vertrauensfee
Ohnehin ist das Glaubwürdigkeits- und Vertrauensargument grundsätzlich ein schwaches Argument. Sicher spielen Erwartungen in der Ökonomie eine wichtige Rolle. Allerdings waren Ökonomen bislang nicht wirklich besonders erfolgreich dabei, die relevanten Erwartungen zu konkretisieren und messbar zu machen. So werden Erwartungs-, Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsargumente häufig dafür eingesetzt, um eigentlich ökonomisch gut begründete, politisch aber unliebsame Wirkungszusammenhänge zu negieren. Besonders deutlich wurde dies in der Debatte um die Austeritätspolitik in Europa, deren zu erwartende negative Wachstums- und Beschäftigungseffekte aufgrund angeblicher positiver „Vertrauenseffekte“ geleugnet wurden. Paul Krugman hat in diesem Zusammenhang von der „confidence fairy“, der Vertrauensfee, gesprochen, die in wundersamer Weise alle schlimmen negativen Wirkungen in ihr Gegenteil verkehrt.
Das führt dazu, dass man letztlich jedes politisch gewünschte Resultat erzielen kann, wenn man nur entschieden genug die „Erwartungshoheit“ für sich reklamiert und die Erwartungen „der Bürger und Unternehmen“ dann entsprechend definiert. Was wäre, wenn der behauptete Vertrauensschwund in die Politik gar nichts mit enttäuschten Erwartungen bezüglich der Soli-Abschaffung zu tun hätte, sondern mit der enttäuschten Erwartung, dass Politik und Staat in allen Regionen für eine gute öffentliche Daseinsvorsorge und eine gerechte Einkommensverteilung sorgen?
In der Debatte um den Soli sollten wir also die „Vertrauensfee“ im Märchenbuch lassen und stattdessen eine sachliche Diskussion führen. Wir glauben, dies in unserem Makronom-Beitrag und in unserem Policy Brief getan zu haben. Uns ging es um die Frage, welche fiskalischen und verteilungspolitischen Wirkungen von der Abschaffung des Soli im Gesamtkontext des deutschen Steuersystems ausgehen und ob diese vertretbar sein würden. Wir haben erstens argumentiert, dass eine Abschaffung angesichts der absehbaren Ausgabenbedarfe und der Restriktionen der Schuldenbremse in einem möglichen Konjunkturabschwung fiskalisch äußerst riskant wäre. Daher sprechen wir uns grundsätzlich für eine Nutzung des Soli (ggf. integriert in die Einkommensteuer oder in Form einer erneuerten Ergänzungsabgabe) für die Förderung strukturschwacher Regionen in ganz Deutschland aus.
Zweitens haben wir die verteilungspolitischen Wirkungen – die im Übrigen weder von Herrn Hentze noch von irgendeinem anderen Verfechter der Soli-Abschaffung angezweifelt werden – hervorgehoben: Diese bewerten wir vor dem Hintergrund der steuerpolitischen Trends der letzten 20 Jahre als hoch problematisch und haben sogar einen – wie wir finden kreativen – Vorschlag gemacht, wie der Soli verteilungspolitisch progressiv und fiskalisch einigermaßen verträglich in kleinen Schritten abgebaut werden könnte.
Damit haben wir die zu diskutierenden Fragen nach der fiskalischen und verteilungspolitischen Wirkung in den Vordergrund gestellt und den Soli gerade nicht als Feigenblatt benutzt. Es ist bedauerlich, dass die Befürworter der Soli-Abschaffung diese zentralen Fragen bisher umschiffen und sich nicht der notwendigen fiskalischen und verteilungspolitischen Diskussion stellen. Herr Hentze ist da keine Ausnahme: Da er die Ausgabenbedarfe „in den Bereichen Bildung, Digitalisierung und Infrastruktur“ nicht leugnet, stellt sich die Frage bei welchen Ausgaben der Bund dann ab 2020 kürzen soll.
Wie hätte der Bund ohne den Soli in der jüngeren Vergangenheit beispielsweise die zusätzlichen Investitionsmittel für die Kommunen und die Kostenübernahme in der Flüchtlingskrise überhaupt aufbringen sollen? Der lapidare Verweis auf sprudelnde Steuerquellen trägt hier nicht weit: Auch der Sachverständigenrat in seiner Mehrheit, selbst ein Befürworter der Abschaffung des Soli, hat in seinem jüngsten Jahresgutachten für eine integrierte Perspektive und aus fiskalischen Gründen für ein schrittweises Vorgehen plädiert.
Bezüglich der negativen verteilungspolitischen Konsequenzen der Soli-Abschaffung hat sich Hentze auch überhaupt nicht positioniert. Sind sie seiner Ansicht nach irrelevant? Soll die seit zwanzig Jahren zunehmende Belastung mit Steuern und Abgaben für die unteren 70% der Bevölkerung bei gleichzeitig starker Entlastung der oberen 10% weiter verstärkt werden? In dieser Frage war Hentzes IW-Institutskollege Thilo Schäfer noch im Juni 2017 deutlich problembewusster, indem er den verteilungspolitisch kreativen Vorschlag eines Energiesoli gemacht hatte, bei dem das Soli-Aufkommen für die Finanzierung der verteilungspolitisch sehr regressiven EEG-Umlage eingesetzt werden könnte.
Die Debatte geht weit über den Soli hinaus
Abschließend sei Folgendes bemerkt: Wir sind davon überzeugt, dass die öffentliche Daseinsvorsorge und zentrale Zukunftsinvestitionen sowie die Bekämpfung der Ungleichheit in einem umfassenden Sinne ganz oben auf die wirtschafts- und finanzpolitische Prioritätenliste gehören. Wir haben unsere Argumente für diese Position in zahlreichen Publikationen ausführlich und offen dargelegt.
Die Debatte geht demzufolge weit über die Einzelfrage der Soli-Abschaffung hinaus. Fällt die Politik allerdings auf Scheinargumente herein, die unter Verwendung fragwürdiger Metaphern, welche die aus angeblichen Gründen der Vertrauensbildung vollständige Entfernung des „Fremdkörpers Soli“ zur einzig logischen Konsequenz verklären, verzichtet man auf fast jede Chance, insgesamt noch eine verteilungspolitisch ausgewogene Reform der Einkommensteuer zu realisieren, weil damit bereits ein massives Steuergeschenk an die einkommensstärksten Haushalte festgeschrieben ist und eine Kompensation über einen höheren Spitzensteuersatz nach dieser Logik von vornherein ausgeschlossen wird.
Zu den AutorInnen:
Katja Rietzler leitet das Referat für Steuer- und Finanzpolitik des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung. Auf Twitter: @KatjaRietzler
Achim Truger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR) und Senior Research Fellow am IMK.
Hinweis:
Hier finden Sie die bisher in dieser Debattenserie erschienenen Beiträge.