Economists for Future

Die Grüne Modernisierung des Carpitalismus

Um der ökologischen Krise zu begegnen, ohne jedoch notwendige systemische Veränderungen umzusetzen, schwenkt die Politik auf einen Weg ein, der sich schon jetzt als Einbahnstraße erweist: die Elektrifizierung der Automobilität. Ein Beitrag von Nina Schlosser.

Bild: Pixabay

Unsere Gesellschaft befindet sich inmitten eines tiefgreifenden Transformationsprozesses. Im Zentrum: die Wirtschaft und die Suche nach Wegen zur Nachhaltigkeit. Die nächsten Jahre werden entscheiden, ob uns dieser Wandel by disaster passiert – oder by design gelingt.

Die Debattenreihe Economists for Future (#econ4future) widmet sich den damit verbundenen ökonomischen Herausforderungen und diskutiert mögliche Lösungsansätze. Die Beiträge analysieren Engführungen in den Wirtschaftswissenschaften und Leerstellen der aktuellen Wirtschaftspolitik. Zugleich werden Orientierungspunkte für ein zukunftsfähiges Wirtschaften aufgezeigt und Impulse für eine plurale Ökonomik diskutiert, in der sich angemessen mit sozial-ökologischen Notwendigkeiten auseinandergesetzt wird.

Die Kooperation zwischen Economists for Future e.V. und Makronom startete mit der ersten Ausgabe 2019. Seitdem ist jährlich eine neue Reihe mit wechselnden Themenschwerpunkten erschienen. Die mittlerweile sechste Staffel beleuchtet nun Aspekte rund um das Thema Überfluss. Hier finden Sie alle Beiträge, die bisher im Rahmen der Serie erschienen sind.

Die Folgen des globalen Klimawandels drängen in unseren Alltag. Drückende Hitzewellen, gefolgt von Starkregen und zerstörerischen Flutkatastrophen wie jene 2021 im Ahrtal, die 135 Menschen aus dem Leben riss, nehmen an Häufigkeit und Intensität zu. Von derartigen klimaverändernden Zuständen erfuhren wir bis vor wenigen Jahren vor allem aus den Nachrichten. Denn bis dahin wurden die sozial-ökologischen Kosten der vorherrschenden Produktions- und Konsumnormen vornehmlich in die Länder des Globalen Südens ausgelagert: die Ausbeutung von Natur und Mensch in Afrika, Asien oder Lateinamerika für die ressourcenintensive Produktion und den Überkonsum von Massenwaren wie Autos oder obszönen „Luxusgütern“ wie Sportwagen.

Doch der Hebel zur Kostenauslagerung nach „andernorts“ scheint zu klemmen. Die Auswirkungen der ökologischen Krise, die auch eine soziale ist, sind mittlerweile auch hierzulande erfahrbar. Um ihr zu begegnen, unbedingt notwendige systemische Veränderungen jedoch zu umgehen, schlagen die Ampelregierung und EU-Institutionen einen Weg ein, der sich schon jetzt als Einbahnstraße erweist: die Elektrifizierung der Automobilität.

Zwar stößt ein E-Auto weniger CO2-Emissionen aus, bindet demgegenüber jedoch enorme Mengen an Ressourcen. So benötigt die Lithium-Ionen-Batterie eines durchschnittliches E-Auto beispielsweise zwischen acht und 40 Kilogramm Lithium. Bis 2030 sollen in der Deutschland 15 Millionen E-Autos und in der EU 30 Millionen fahren, wofür allein Letztere 18-mal mehr Lithium benötigt. Und 20 Jahre später, wenn sie als erster Kontinent Klimaneutralität erreicht haben möchte, braucht die EU sogar das 60-Fache.

Den Batteriestoff importieren sie gegenwärtig zum größten Teil aus Chile. In der nordchilenischen Atacama-Wüste, der trockensten Wüste der Welt, bauen zwei Chemieunternehmen das Leichtmetall unter der täglichen Entnahme mehrerer Millionen Liter lithiumhaltiger Sole ab. Diese enthält allerdings auch Wasser, das die Konzerne der Bevölkerung buchstäblich abgraben.

Sozial-ökologische Folgen des Lithium-Extraktivismus im Salar de Atacama

Die Auswirkungen des Lithium-Extraktivismus auf das fragile Ökosystem im Salar de Atacama ließen sich nicht trennscharf von den Veränderungen in Folge des Klimawandels unterscheiden, erklärt ein Hydrogeologe im Interview, das ich mit ihm im April 2023 in Santiago de Chile führte. Die lokale Bevölkerung beobachtet seit Jahren ein Absinken des Grundwasserspiegels, das Versalzen und Austrocknen der Wasserreserven, Lagunen und Böden sowie die Abnahme der Biodiversität. Die Populationen von Flamingos beispielsweise, das belegen wissenschaftliche Untersuchungen bereits, haben sich in den letzten Jahren dezimiert. Die endemischen Vögel finden in den Lagunen nicht mehr genügend Nahrung und sind gezwungen zu migrieren. Nicht alle überleben die Flucht.

Die Veränderungen des Ökosystems wirken sich ebenso auf die lokale Bevölkerung aus. Die überwiegend indigenen Bäuer*innen bauen beispielsweise Getreidesorten wie Quinoa an und kultivieren Obstbäume. Sie halten Lamas, Schafe und Alpakas, deren Fleisch sie konsumieren und deren Wolle sie für die Herstellung von Kleidung nutzen. Früher tauschten sie die Waren untereinander und verkauften sie anteilig in der nächstgelegenen Stadt. Mittlerweile ist die Bevölkerung jedoch darauf angewiesen, Teile ihrer Lebensmittel dort zu kaufen.

Diese (semi-)subsistenzbasierte Lebensweise ist auf den Zugang zu Wasserreserven angewiesen, doch diese versiegen. Um tiefere Brunnen bauen zu können, bräuchten sie schwere Bohrmaschinen, die sie nicht besitzen – im Gegensatz zu den Lithiumkonzernen. Diese drillen damit bis zu 80 Meter tief in den Boden, um die lithiumhaltige Sole hochzupumpen. Eine öffentliche Wasserversorgung gibt es in Atacama nicht. Tägliche Tanklaster bringen das Trinkwasser, das seit der Diktatur (1973–1990) größtenteils privatisiert ist. Etwa 70% der regionalen Konzessionen befinden sich seitdem in den Händen der Bergbaukonzerne. An sie haben einige Menschen in Atacama ihre Wasserrechte in den letzten Jahren sogar verkauft, um die Ausgaben in den Bereichen wie Gesundheit, Bildung, Altersvorsorge, Energie und Wohnen, Mobilität und zunehmend Ernährung stemmen zu können, die die zivil-militärische Junta von Augusto Pinochet größtenteils kommodifizierte. Diese Bedingungen machen sich die Lithiumkonzerne in der Wüste des neoliberalen Chile zunutze. Gegen diese ausbeuterischen Aktivitäten hatte sich die lokale Bevölkerung noch bis vor wenigen Jahren entschieden zur Wehr gesetzt.

Lokaler Widerstand

Die Konflikte entzündeten sich an den Vertragsabschlüssen, die den beiden Konzernen 2016 (Albemarle) und 2018 (SQM) die Verdreifachung der Produktionsraten von Lithium für eine Dauer von mehreren Dekaden erlauben würden. Demgegenüber forderte das widerständige Bündnis, das sich aus indigenen und lokalen Bevölkerungsgruppen zusammensetzte, den sofortigen Stopp der Lithiumausbeutung. Und zwar so lange, bis wissenschaftlich gesichert sei, wie sich der Lithiumabbau auf das Ökosystem auswirkt.

Zudem skandalisierten die Indigenen die Verletzung ihres Rechts auf Free, Prior and Informed Consent, das in der ILO-169 verankert ist und 2010 in Chile ratifiziert wurde. Die Konvention verpflichtet Unternehmen dazu, indigene Völker vor Beginn der geplanten (kapitalistischen) Wirtschaftsaktivitäten über die Pläne und möglichen Auswirkungen in Kenntnis zu setzen, sofern diese Territorien der indigenen Völker betreffen. Dies sei lokalen Berichten zufolge nicht geschehen. Daraufhin haben sich einige der insgesamt 18 indigenen Gemeinden ortsübergreifend organisiert und gemeinsam gegen die Konzerne mobilisiert: Sie sperrten die einzige Zufahrtsstraße zu den Lithiumanlagen, organisierten einen Protestmarsch durch den Salar, und einige Demonstranten traten sogar in den Hungerstreik. Eine andere Gruppe strengte eine Klage gegen SQM wegen unerlaubter Wasserentnahmen an, verlor den Prozess jedoch.

Der Widerstand gegen die Konzerne und ihre extraktivistischen Aktivitäten hat sich in der jüngsten Vergangenheit allerdings gewandelt und richtet sich derweil sogar zum Teil gegen einstige Verbündete. Diese Dynamik ließe sich einerseits vor dem Hintergrund der oben erwähnten neoliberalisierten (Infra-)Strukturen der Daseinsfürsorge und einem abwesenden Wohlfahrtsstaat erklären. Doch auch ein Blick auf die Corporate Social Responsibility-Strategien (CSR) der Konzerne liefert Erklärungsansätze.

Nachhaltige Konzernstrategien

Um die Konflikte einzuhegen, vielmehr die Zustimmung der Bevölkerung zu erhalten und damit die extraktivistischen Kontinuitäten zu gewährleisten, haben die Konzerne ihre CSR-Strategien angepasst. Diese fußen auf drei materiellen Säulen: Geldzahlungen, „nachhaltige Entwicklungsprojekte“ und Infrastrukturmaßnahmen.

Die Konzerne transferieren jährliche Beträge in zweistelliger Millionenhöhe an den Consejo de Pueblos Atacameños, das Organ zur Vertretung der indigenen Interessen im Salar de Atacama. Der Consejo verteilt das Geld über die Gemeinden. Doch nicht alle Gemeindemitglieder haben ein Anrecht auf die „Kompensationszahlungen“, auch wenn sie vom Lithiumabbau betroffen sind. Die monatlichen Geldbeträge, mit denen sie Wasser, Lebensmittel, Haushaltsgeräte, sowie Autos, Smartphones und Fast Fashion kaufen, erhalten ausschließlich staatlich registrierte Indigene. In Atacama sind das von etwa 5.500 dort angesiedelten Indigenen lediglich 28%. Und nur sie sind dazu berechtigt, die „nachhaltigen Entwicklungsprojekte“ in Anspruch zu nehmen. Im Rahmen von Bildungsprojekten können erwachsene Indigene Schulabschlüsse nachholen, oder erlernen, wie sie die Landwirtschaft wasser-effizienter gestalten können. Die Alianza Mujer Atacameña bietet indigenen Frauen die Möglichkeit, ein eigenes Unternehmen zu gründen.

Von all dem sind nicht gesetzlich anerkannte Indigene und nicht-indigene Menschen wie Chilen*innen ausgeschlossen. Sie profitieren zumindest von den Infrastrukturmaßnahmen der Lithiumkonzerne, wozu der Lokalregierung die Ressourcen fehlen. Diese ermöglichten beispielsweise den Bau von Straßen, einer Schule, Spiel- und Fußballplätzen, Apotheken oder eines mobilen Zahnarztwagens. Sie bringen den versprochenen „Fortschritt“ in die Wüstenregion, die sich auch an dem Verständnis kapitalistischer Gesellschaften orientiert.

Die Krisenhaftigkeit gesellschaftlicher Naturverhältnisse

Aus diesen (CSR-)Strategien resultieren mindestens drei pro-extraktivistische Entwicklungen in Chile, und eine krisenverschärfende Dynamik für die Gesellschaft in Deutschland, die sich wechselseitig verstärken – aber auch zusammen lösbar wären: In der Atacama-Wüste lässt sich erstens eine gesellschaftliche Spaltung erkennen, die sich durch die Gemeinden zieht und direkt zu den Lithiumkonzernen führt. Ihnen scheint es gelungen zu sein, die Bevölkerung in „Gewinner“ und „Verlierer“ zu teilen und mit Fraktionen der indigenen Profiteur*innen eine Lithium-Allianz zu bilden. Letztere entscheidet zweitens nicht mehr ob, sondern unter welchen Bedingungen der Lithiumabbau fortgeführt wird, wodurch alternative Entwicklungsweisen aktiv verdrängt werden. Drittens lässt sich eine selektive Überwindung solidarischer Lebensweisen zugunsten einer kapitalistischen oder anders gesagt „imperialen Lebensweise“ beobachten.

Doch die dominanten Dekarbonisierungsstrategien des globalen Nordens zeigen nicht nur in Chile und anderen peripheren Gesellschaften negative Folgen, sondern auch in den kapitalistischen Volkswirtschaften selbst. Während Menschen in ländlichen Gebieten auf das Auto angewiesen sind, verstopft die steigende Anzahl ständig größer werdender E-Autos den urbanen Raum. Dadurch werden zwischenmenschliche Begegnungen erschwert, beherrschte Klassen von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen und Erholungs- und Naturräume verkleinert. Bereits tausende Arbeiter*innen der Auto- und Zuliefererindustrie haben in den letzten Jahren ihre Beschäftigung verloren. Denn E-Autos und der Lithium-Extraktivismus haben eines gemein: Sie sind kapital-, aber nicht gleichsam arbeitsintensiv. Davon profitieren in erster Linie die Eigentümer der Produktionsmittel.

Commoning gegen die Krise

Eine Vergesellschaftung und Konversion beider Schlüsselindustrien und die Dekommodifizierung von Natur und Lebenswelten könnte Widersprüche in Möglichkeiten umkehren: Beschäftigte und Betroffene entscheiden gemeinsam, was und wie produziert wird – Busse und Bahnen für Alle anstelle E-SUVs für die Wenigen. Ernährungssouveränität und Selbstbestimmung für die lokale Bevölkerung in Atacama statt Lithium für den Grünen Carpitalismus.

Ein Rückbau der Autoindustrie, ihr Umbau und Aufbau zu sozial-ökologisch gerechten Mobilitätsindustrien sichert dann nicht mehr die Dividenden der Aktionäre, sondern die Arbeitsplätze der Beschäftigten. Es entsteht sinnvolle Beschäftigung, die mit guten Arbeitsbedingungen einhergehen muss. Ein kostenloser und zuverlässiger ÖPNV garantiert die kollektive Mobilität auch in ländlichen Regionen und wirkt inklusiv, verbindend und verbraucht weniger Ressourcen wie Lithium. Das können die Menschen in Atacama nicht essen, wie kritische Stimmen skandieren. Sie brauchen gesunde Lebensmittel, eine intakte Natur und ein Recht selbst zu entscheiden, wie sie – miteinander und mit der Natur – leben möchten.

Gegen die Aufrechterhaltung neo-kolonialer, rassifizierter, hierarchischer Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse bedarf es keiner lithiumintensiven E-Autos, sondern eines glokalen Systemwandels. Orientiert an solidarischen Prinzipien wie der Demokratisierung von Entscheidungen; der Re-Sozialisierung von (Re-)Produktionsmitteln; der gemeinschaftlichen Sorge füreinander und die Natur, der Grundlage allen Lebens; der Suffizienz in der Fülle: weniger (Individual-)Verkehr, weniger Ressourcen – mehr Zeit, globale Gerechtigkeit und ein “gutes Leben für Alle“. Das stellt sich nicht von allein ein, dafür gilt es gemeinsam zu kämpfen.

 

Zur Autorin:

Nina Schlosser ist politische Ökonomin, Doktorandin der Sozialwissenschaften und Aktivistin. An der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und an der Universität Wien forscht sie zum Lithium-Extraktivismus in Chile. Schlosser ist Mitglied des Graduiertenkollegs „Krise und sozial-ökologische Transformation“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin sowie der Partei Die Linke.