Kommentar

Die Degrowth-Illusion, Teil II

Degrowth-Befürworter argumentieren, dass die dafür nötigen Programme auch ohne massive Wohlstandsverluste machbar wären. Aber wenn man ein solches Programm im echten Leben anstatt auf Konferenzen und Blogs testen und konsequent vertreten würde, würde es von praktisch niemandem unterstützt werden.

Auf meinen Beitrag zur Degrowth-Illusion hat Jason Hickel von der University of London eine Replik verfasst. Ich habe Jasons Beitrag sorgfältig gelesen und meine, über einen gewissen Fortschritt in der Debatte berichten zu können – jedenfalls insofern, als dass Jason und ich bei manchen Punkten offenbar einer Meinung sind.

In seiner Replik erkennt Jason an, dass eine signifikante Reduzierung der Einkommen im Westen unvermeidbar ist, wenn die weltweite Wirtschaftsleistung nicht steigen darf und die gegenwärtige globale Einkommensverteilung – und somit auch die absolute Armut eines Viertels der Menschheit – nicht aufrechterhalten werden soll. Das ist genau das, was ich in meinem ersten Beitrag geschrieben hatte.

Allerdings glaubt Jason nicht, dass die Reduzierung der Einkommen in den reichen Ländern eine so große Sache wäre, weil die Menschen in Costa Rica mit einem Einkommensniveau zufrieden sind, das lediglich ein Fünftel des US-amerikanischen beträgt. Und die westeuropäischen Länder sind nicht weniger wohlhabend, obwohl ihre Pro-Kopf-Einkommen 40% niedriger als die amerikanischen sind. Mit anderen Worten: Wir können die westlichen Einkommen stark reduzieren und die Art der produzierten Güter verändern (Gesundheitsversorgung und staatlicher Wohnungsbau statt Autos und Flugzeuge), ohne massive Wohlfahrtsverluste hinnehmen zu müssen – vielleicht würde dies sogar Vorteile bringen, da die neue Wirtschaft die Menschen weniger arbeiten ließe und zu einem interessanteren Leben führen könnte. Obendrein würde Jason auch noch alle Schulden streichen und – so scheint es – das Mindestreserve-Bankwesen abschaffen.

Ich glaube nicht, dass dieses Programm unlogisch ist. Ich fürchte bloß, dass es so gewaltig und abseits von allem Realisierbaren ist, dass es am Rande zur Absurdität steht: Es ist schlicht unmöglich, es in der Praxis anzuwenden, und zwar nicht nur in Demokratien, sondern wahrscheinlich auch in Nordkorea. Ich will nicht unhöflich oder beleidigend sein, aber ich glaube, dass bisher nur in Kambodscha während der Herrschaft der Roten Khmer etwas annähernd Ähnliches versucht worden ist. Viele Länder haben durch Kriege große Teile ihres Gesamteinkommens verloren – aber kein Land hat sich bisher selbst freiwillig arm gemacht. Wenn man es im echten Leben anstatt auf Konferenzen und Blogs testen würde, würde Jasons Programm von praktisch niemandem unterstützt werden.

Die Ideologie der Kommodifizierung und Kommerzialisierung ist noch nie stärker gewesen

Kapitalistische Gesellschaften sind dahingehend strukturiert, dass die Bevölkerungen jene Ziele, die den Kapitalismus florieren lassen, vollständig akzeptiert haben und sie in ihrem Alltag immer wieder bestätigen – wir wollen jedes Jahr mehr und neueres „Zeug“. Die Ideologie der Kommodifizierung und Kommerzialisierung ist noch nie stärker gewesen: sie ist in Großbritannien und den USA genauso präsent wie in China, Nigeria, dem Kongo, Russland oder Brasilien. Wir arbeiten nicht nur für einen Lohn, sondern vermieten unsere Häuser und Autos für Geld, betreiben Networking an den Geburtstagen unserer Kinder, die sich wiederum um ein neues Smartphone oder Schuhmodell prügeln. Anders gesagt: Wir haben einen globalen Kapitalismus mit einer Bevölkerung, die die Ziele verinnerlicht hat, die der Kapitalismus braucht, um sich zu reproduzieren und auszudehnen, indem immer größere Mengen von Ersparnissen, Investitionen und Output erforderlich sind.

Es ist irrelevant, ob mir diese Situation gefällt (wie Jason anscheinend glaubt) oder nicht. Ich beobachte lediglich, wie die Welt funktioniert, während Jason meiner Meinung nach in einer irrealen Welt lebt. Wenn er sich die echte Welt angeschaut hätte, würde er gesehen haben, dass bis zu 50 Immigranten aus dem Sudan in Maschinenräume französischer Zügen gequetscht wurden, um ein besseres Leben zu leben und mehr Zeug zu kaufen; er hätte bemerkt, wie Leute um vier Uhr morgens aufstehen, sich vor einem Walmart anstellen und sich prügeln, um das neueste Modell von irgendeinem Zeug kaufen zu können (wie es auch an diesem Thanksgiving zweifelsfrei wieder geschehen wird). Er hätte bemerkt, wie sich Professoren an vielen, und wohl auch an seiner eigenen Universität wegen Gehaltssteigerungen von ein oder zwei Prozent endlose Schlachten liefern. Er hätte bemerkt, dass sich Familien verschulden, nur um ein neues Automodell vorzeigen zu können. Und so weiter.

Jasons Programm könnte von jenen akzeptiert werden, die 10.000 Meilen gereist sind, um die Konferenz zu besuchen, auf denen es präsentiert wird; die die Klimaanlage nutzen, während sie im Konferenzsaal sitzen und Fleisch während der Mittagspause essen – aber auch diese Leute würden nicht dafür stimmen.

Wenn die Befürworter eines solchen Programms wirklich daran glauben würden, sollten sie eine politische Bewegung gründen (oder es bereits getan haben), die dessen Implementierung und die Rettung des Planeten verspricht. Sie sollten ausdrücklich kontinuierliche jährliche Einkommensverluste von mehreren Prozentpunkten, niedrigere Löhne, Renten und Sozialtransfers versprechen, sowie eine Arbeitswoche von 20 oder weniger Stunden, die Schließung von Tankstellen und vielen Flughäfen, das Bestreiken von Fabriken, die länger geöffnet sind und von Supermärkten, die Fleisch verkaufen. Sie sollten sich dieses Programm auf die Fahne schreiben und dann schauen, wie viele Menschen dafür stimmen werden.

 

Zum Autor:

Branko Milanovic ist Professor an der City University of New York und gilt als einer der weltweit renommiertesten Forscher auf dem Gebiet der Einkommensverteilung. Milanovic war lange Zeit leitender Ökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank. Er ist Autor zahlreicher Bücher und von mehr als 40 Studien zum Thema Ungleichheit und Armut. Außerdem betreibt er den Blog Global Inequality, wo dieser Beitrag zuerst in englischer Sprache erschienen ist.