Kommentar zum OMT-Urteil

Das Verfassungsgericht überschreitet sein Mandat

Das Bundesverfassungsgericht hat der EZB-Geldpolitik seinen Segen erteilt – so scheint es zumindest. Ein genauerer Blick auf die Entscheidung macht aber deutlich, dass das Gericht sich doch sehr tief in die Belange der Zentralbank einmischt.

Tagungsraum der EZB-Zentrale in Karlsruhe. Foto: Mehr Demokratie via Flickr (CC BY-SA 2.0)

Es ist immer etwas problematisch, wenn Gerichtsurteile dahingehend kommentiert werden, ob diese nun richtig oder falsch sind – genau für diese Entscheidung gibt es ja schließlich Richter, die für die Auslegung von Gesetzen ausgebildet und zuständig sind.

Im Falle des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum OMT-Programm der Europäischen Zentralbank (EZB) liegt die Sache aber etwas anders – denn in dem Verfahren ging es eben nicht nur um rein juristische Angelegenheiten, sondern um die Be- bzw. Verurteilung der Qualität eines ökonomischen Krisenbewältigungsansatzes. So jedenfalls liest sich die Erklärung, mit der das Verfassungsgericht seine Entscheidung begründete.

Auf den ersten Blick hat das Verfassungsgericht entschieden, dass das OMT-Programm nicht gegen deutsches Recht verstößt und die Bundesbank sich dementsprechend daran beteiligen darf. Die Richter folgen – man könnte auch sagen: beugen sich – damit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs aus dem Juni 2015.

Wirft man jedoch einen Blick auf die Details, muss man doch zu der Einschätzung kommen, dass das Verfassungsgericht den geldpolitischen Werkzeugkasten der EZB in nicht unerheblicher Weise einschränkt. Die Karlsruher Richter haben der EZB sechs Auflagen erteilt, die sie aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs ableiten.

So dürfen die Ankäufe nicht angekündigt werden und es muss zwischen der Emission eines Schuldtitels und seinem Ankauf durch das Eurosystem eine im Voraus festgelegte Mindestfrist liegen. Diese beiden Punkte sind an sich nichts Neues und entsprechen ohnehin dem von der EZB vorgenommenen Prozedere. (Okay, zugegeben: Die Forderung, dass die Ankäufe nicht angekündigt werden dürfen, ist an sich schon extrem verwirrend. Gehen wir jetzt einfach mal davon aus, dass damit gemeint ist, die EZB dürfe nicht angeben, dass sie einen speziellen Bond kaufen will).

Wenn OMT nötig werden sollte, darf OMT nicht angewendet werden, weil OMT nötig geworden ist

Problematischer wird es bei den weiteren vier Punkten. So schreibt das Verfassungsgericht, dass „nur Schuldtitel von Mitgliedstaaten erworben werden [dürfen], die einen ihre Finanzierung ermöglichenden Zugang zum Anleihemarkt haben“. Dieser Satz bedeutet – bei konsequenter Auslegung – praktisch das Ende des OMT-Programms. Zur Erinnerung: OMT basiert im Kern darauf, dass die EZB „im Notfall“ die Anleihen von Eurostaaten kauft – und mit diesem Notfall ist gemeint, dass die betroffenen Staaten eben keinen „ihre Finanzierung ermöglichenden Zugang zum Anleihemarkt haben“. Heißt: Wenn OMT nötig werden sollte, darf OMT nicht angewendet werden, weil OMT nötig geworden ist. Genau diese Der-Markt-hat-Recht-Logik war es im Übrigen, die Mario Draghi mit seinem „Whatever it takes“ durchbrechen wollte.

Das Gericht merkt ebenfalls an, dass „die erworbenen Schuldtitel nur ausnahmsweise bis zur Endfälligkeit gehalten werden“ dürfen. Für OMT ist das komplett irrelevant, weil die EZB im Rahmen dieses Programms ja ohnehin keine einzige Anleihe gekauft hat. Allerdings bietet die Auflage erhebliche Angriffsfläche gegen das viel wichtigere QE-Programm: Denn die EZB hat durchaus vor, die unter QE gekauften Anleihen bis zur Endfälligkeit in ihrer Bilanz zu halten (und – Stand heute – das bei Fälligkeit erhaltene Geld wieder zu reinvestieren). Jetzt kann man darüber streiten, was die genaue Definition von „ausnahmsweise“ ist – spätestens bei einer Quote von 50% dürfte es sich aber definitiv nicht mehr um Ausnahmen halten. Das hieße also, dass die EZB oder zumindest die Bundesbank jede zweite derzeit gehaltene Anleihe vor Fälligkeit wieder verkaufen müsste.

Als weitere Auflage fordern die Verfassungsrichter, dass „die Ankäufe begrenzt oder eingestellt werden und erworbene Schuldtitel wieder dem Markt zugeführt werden“ müssen, „wenn eine Fortsetzung der Intervention nicht erforderlich ist“.

EZB-Verfahren auf Wiedervorlage

Spätestens mit diesem letzten Halbsatz machen die Richter die Tür für weitere Klagen ziemlich weit auf. Denn dieser Satz impliziert, dass es möglich ist, die „Erforderlichkeit“ geldpolitischer Maßnahmen juristisch zu bewerten – sonst hätten sie diese Auflage ja nicht zu erwähnen brauchen.

Durch diese Auflagen tut das Gericht so, als wenn es selbst oder irgendjemand anders allgemeingültig beurteilen könnte, was eine angemessene Geldpolitik und ökonomisch „erforderlich“ ist. Aber dem ist definitiv nicht so. Die Bewertungen ökonomischer Erforderlichkeiten sind immer höchst subjektiv (wenn auch im Idealfall empirisch und theoretisch begründbar) und auch von individuellen Prioritäten beeinflusst. Es wird also nie abschließend geklärt werden können, wann und wie welche geldpolitische Maßnahme dem gesetzlich definierten Ziel der Preisstabilität dient.

Das ist ja auch der Grund, warum etwa Leitzins-Entscheidungen von einer Gruppe von Individuen vorgenommen werden und nicht von einer Excel-Tabelle, in die man einfach ein paar Variablen eintippt. Oder warum Debatten unter Volkswirten häufig so überhitzt sind.

Der springende Punkt beim OMT-Urteil des Verfassungsgerichts ist also: Die meisten der gestellten Auflagen haben in ihrem Kern nichts mit dem juristisch zu bewertenden Vorgang der Staatsfinanzierung zu tun. Das Gericht nimmt sich heraus, eine Schwelle zu definieren, ab der aus legitimer Geldpolitik verbotene Staatsfinanzierung wird. Diese Definition wurde jedoch nicht auf Basis von juristischen, sondern von mindestens diskutablen ökonomischen Maßstäben vorgenommen.

Besonders deutlich wird dies dadurch, dass das Verfassungsgericht die OMT-Fähigkeit eines Landes wie geschildert davon abhängig macht, ob „die Anleihemärkte“ dessen Kreditwürdigkeit als gegeben ansehen – eine solche fundamentalistische Marktgläubigkeit findet man heutzutage nur noch sehr selten. Dass ausgerechnet das höchste deutsche Gericht mittels einer so überholten Theorie bzw. Ideologie die EZB in ihrem Handeln beschränkt, ist schon sehr bedenklich. Man könnte sogar sagen, dass die Verfassungsrichter, indem sie der EZB erklären, unter welchen ökonomischen Prämissen die Zentralbank ihr Mandat auszuüben hat, ihr eigenes Mandat bei weitem überschreiten.

Die Richter werden demnächst noch einmal Gelegenheit haben, es besser zu machen. Denn auch gegen das QE-Programm ist eine Klage anhänglich. Es wird spannend sein zu sehen, wie sich das Verfassungsgericht dann bei dieser noch viel wichtigeren Entscheidung verhalten wird.