In Sachen Prognosefähigkeit genießt der Internationale Währungsfonds (IWF) nicht gerade den besten Ruf. Insbesondere während Finanzkrisen waren die Wachstumsannahmen des IWF kontinuierlich zu optimistisch, wie auch das Independent Evaluation Office, eine Art Qualitätskontrolle für IWF-Aktivitäten, in einer 2014 veröffentlichten Studie feststellte.
Dennoch genießen die Prognosen des IWF immer wieder hohe Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Das gilt vor allem für den zweimal jährlich erscheinenden und mit einer gigantischen Datenbasis ausgestatteten World Economic Outlook (WEF).
Die wahrscheinlich am häufigsten gemeldete Zahl aus diesem Report ist die Prognose für das jährliche Wachstum der Weltwirtschaft. Um 3,1% soll das „Planeten-BIP“ in diesem Jahr real (also inflationsbereinigt) zulegen, 3,6% werden für 2016 prognostiziert.
Über die Annahmen, die hinter diesen Prognosen liegen, wird weitaus seltener berichtet. Dabei bieten diese einiges an Überraschungspotenzial. So prognostiziert der IWF, dass das weltweite Bruttoinlandsprodukt 2015 nominal (also ohne Inflationsbereinigung) nur noch 73,5 Billionen US-Dollar betragen wird – ein Minus von 3,8 Billionen bzw. 4,9% gegenüber dem Vorjahr.
Ein positives Real-Wachstum bei nominal abnehmendem BIP ist eigentlich nur möglich, wenn sich die Welt insgesamt in einer Deflation befindet. Davon geht der IWF allerdings nicht aus: Die Welt-Inflation wird für 2015 auf +3,3% taxiert. Gemäß dieser Rechnung müsste das nominale Wachstum also eigentlich bei +6,5% liegen.
Welche plausible Erklärung kann es für diese Lücke zwischen nominalem und realem BIP-Wachstum geben? Peter van Bergeijk, Ökonom an der Rotterdamer Erasmus Universität, hat drei Erklärungsansätze parat. Der erste ist ziemlich banal: Es könnte sich um einen schlichten Tipp- oder Softwarefehler handeln. Dagegen spricht allerdings, dass der IWF bereits in seinem Frühjahrsausblick ein schrumpfendes nominales BIP bei gleichzeitig realem Wachstum angenommen hatte, wenn auch in einer kleineren Größenordnung.
Der zweite mögliche Grund könnte sein, dass der IWF seine Prognosen auf der Annahme konstanter Wechselkurse trifft. Die Daten der einzelnen Länder werden in der jeweiligen Landeswährung erhoben. Somit kann das globale BIP bei der Umrechnung der nationalen BIP-Zahlen in US-Dollar auch unabhängig von der Inflationsrate größer oder kleiner werden. Laut van Bergeijk hätte eine Analyse der zugrundeliegenden Daten aber ergeben, dass höchstens 0,7 Prozentpunkte der Lücke zwischen realem und nominalem BIP auf Wechselkurs-Berechnungen zurückgehen könnten.
Der dritte Erklärungsansatz basiert auf offensichtlichen Datenlücken bei der Berechnung der Leistungsbilanzen einzelner Länder. So müsste die aggregierte Leistungsbilanz aller Staaten dieser Erde logischerweise eigentlich null ergeben (schließlich handelt die Erde soweit bekannt ja noch nicht mit einer außerirdischen Spezies). Jedoch hat die Welt als Ganzes laut IWF im Jahr 2015 einen Leistungsbilanzüberschuss von rund 200 Milliarden US-Dollar. Diese Waren und Dienstleistungen verschwinden also irgendwo in einem statistischen Loch und tragen so zur Schrumpfung des nominalen Welt-BIP bei.
Aber auch dieser dritte Faktor reicht nicht aus, um die statistische Lücke nur ansatzweise zu schließen. Denn die Größenordnung der verschwundenen Waren und Dienstleistungen beträgt sogar nur 0,3% des globalen BIP.
Zur Erinnerung: Der IWF rechnet mit einer nominalen Schrumpfung der Weltwirtschaft in Höhe von 4,9% gegenüber dem Vorjahr. Selbst wenn man Wechselkurseffekte (0,7 Prozentpunkte) und Leistungsbilanzfehlern (0,3 Prozentpunkte) zusammenrechen würde, blieben immer noch 3,9 Prozentpunkte an Schrumpfung übrig.
Also bleiben eigentlich nur zwei Erklärungen übrig. Szenario 1: Der IWF hat sich bei der Berechnung des nominalen BIP grob vertan. Die Welt steckt in einer heftigen Deflation und/oder die verschwundenen BIP-Billionen tauchen doch irgendwo auf.
Szenario 2 wäre weniger schön: Es besteht darin, dass sich der IWF nicht bei der Berechnung des nominalen BIP geirrt hat, sondern einfach eine viel zu optimistische reale Wachstumsrate angibt, was ja irgendwie beim Währungsfonds Tradition hätte. Das wäre für die Weltbevölkerung allerdings weniger schön: Denn eine Schrumpfung der nominalen Weltwirtschaftsleistung war in den letzten 25 Jahren stets von einer heftigen globalen Krise begleitet.
Jahr | Wachstum nominal | Krise |
1982 | -2,0% | Lateinamerikanische Schuldenkrise |
1997 | -0,2% | Asienkrise |
1998 | -0,6% | |
2001 | -0,5% | Dotcom-Blase |
2009 | -5,3% | Große Rezession |
2015 | -4,9% | ??? |
Quelle: IWF, Peter van Bergeijk.
Aber vielleicht gibt es ja noch andere plausible Gründe für die Schrumpfung? Schicken Sie uns ihre Ideen an [email protected]
UPDATE: Der IWF hat inzwischen auf die Diskrepanz zwischen nominalem und realem Wachstum reagiert (hier unser Bericht).