Neuer Kapitalismus III

Das Kapital in der Homoplutie

Im neuen Kapitalismus ist das Kapitaleinkommen ungleicher verteilt als das Arbeitseinkommen – und bleibt das Vorrecht einer kleinen Minderheit. Das Ergebnis ist kein Volkskapitalismus, sondern eine neue Aristokratie. Ein Beitrag von Branko Milanovic.

Dies ist der dritte (und vorläufig letzte) Teil meiner Serie von kurzen Essays über den neuen Kapitalismus (die ersten beiden Beiträge finden Sie hier und hier). In diesem Beitrag geht es um Einkommen aus dem Eigentum an Produktions- und Finanzvermögen, das ich der Einfachheit halber „Kapitaleinkommen“ nennen werde.

Es gibt drei wichtige Dinge, die man über Kapitaleinkommen im neuen Kapitalismus wissen sollte:

1.

Kapitaleinkommen ist nicht dasselbe wie Arbeitseinkommen. Auf den ersten Blick scheint das offensichtlich, und sollte es auch sein. Um Arbeitseinkommen zu erzielen, muss man sich anstrengen und bemühen: am Arbeitsplatz oder im Homeoffice sein; man muss sich konzentrieren, nachdenken, sich körperlich anstrengen (versuchen Sie einmal, den Lieferjob eines Amazon-Fahrers zu machen, ganz zu schweigen von dem eines Kohlebergmanns). Kapitaleinkommen erfordert nichts von alledem. Es erfordert lediglich, dass Sie Ihren mit Bargeld gefüllten Koffer zur Bank bringen oder einen Bankangestellten bitten, Ihr Geld von einem Sparkonto in einen Investmentfonds umzuschichten. Das ist schon alles.

Dieser grundlegende Unterschied hat Auswirkungen, die von neoklassischen Ökonomen absichtlich übersehen werden. Die 100 Dollar, die man für seine Arbeit erhält, sind kein Netto-, sondern ein Bruttolohn. Denn Arbeit ist mit „Arbeitsleid“ (Disutility) verbunden. (Es ist etwas bizarr, neoklassische Ökonomen, deren ganze Welt, einschließlich der Angebotskurve der Arbeit, auf Utility beruht, an diese Tatsache zu erinnern; aber hier vergessen sie plötzlich alles.) Man sollte daher die Entschädigung für die geistige und körperliche Anstrengung abziehen, die nötig ist, um diese 100 Dollar zu verdienen, und nur der Rest sollte in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung als Nettowertschöpfung behandelt werden. Dies entspricht der Tatsache, dass die Abschreibung von Kapital nicht als Nettowertschöpfung betrachtet wird. Aber das zu tun, haben die Arbeitsmarktökonomen irgendwie vergessen.

Dies wirkt sich nicht nur darauf aus, wie die Wertschöpfung und damit das BIP berechnet werden sollte, sondern auch darauf, wie das steuerpflichtige Einkommen definiert wird. Nehmen wir eine Person mit einem sehr niedrigen Lohn. Ihr gesamter Lohn ist steuerpflichtig, während in Wahrheit nur ein Teil des Lohns ein Nettoeinkommen darstellt (über die Abschreibung der Arbeitskraft hinaus), und nur dieser Teil sollte besteuert werden. Bei Geringverdienern ist der Nettolohn daher sehr gering. Vielleicht 50% oder sogar 80% davon sind einfach dazu gedacht, den Amazon-Lieferanten oder den Bergarbeiter wieder in den Zustand der Zufriedenheit oder der Ruhe zu versetzen, in dem er sich vor Beginn seines Arbeitstages befand.

Bei viel besser bezahlten Arbeitnehmern ist der „Abschreibungsanteil“ (relativ gesehen) mit Sicherheit geringer, so dass die Nettolohndifferenzierung in Wirklichkeit viel größer ist als es der Bruttolohn vermuten lässt. Außerdem ist die Besteuerung stark zu Ungunsten der Niedriglohnempfänger verzerrt. All diese Probleme treten bei Kapitaleinkommen nicht auf, weil sie in ihrer Nettoform betrachtet werden, als Gewinne, aus denen Zinsen und Dividenden gezahlt werden, d. h. nach Abzug der Abschreibungen.

2.

Kapitaleinkommen sind viel stärker konzentriert als Arbeitseinkommen. Die folgende Abbildung ist ein typisches Ergebnis, das man erhält, wenn man die Konzentration (Gini-Koeffizient) von Kapital und Arbeit in fortgeschrittenen kapitalistischen Volkswirtschaften betrachtet. Wenn man eine Rangfolge der Personen mit dem niedrigsten Lohn (einschließlich Nulllohn) bis zum höchsten Lohn erstellt, erhält man im Allgemeinen einen Gini-Koeffizienten von etwa 0,55-0,6 (rote Linie). Man beachte beispielsweise, dass die USA und Deutschland sich in Bezug auf die Ungleichheit der Lohnverteilung nicht sehr unterscheiden. (Ich zeige hier nur die USA und Deutschland, aber die Grafik ist für alle reichen Länder fast identisch.) Aber wenn man das Gleiche mit den Kapitaleinkommen macht – vom niedrigsten zum höchsten –, erhält man einen doppelt so hohen Gini-Wert (blaue Linie).

Anmerkung: Das Diagramm zeigt die Gini-Koeffizienten von Arbeits- und Kapitaleinkommen. Letzteres ist gleich den erhaltenen Zinsen, Dividenden und Mieten.

Warum ist das so? Erstens und vor allem, weil die Mehrheit der Menschen (und damit der Haushalte) kein Kapitaleinkommen hat. Ja, in der Tat: Wie wir weiter unten sehen werden, bezieht mehr als die Hälfte der Haushalte in den reichen westlichen Volkswirtschaften kein Einkommen aus Finanzanlagen. Zweitens erhalten diejenigen, die an der Spitze der Kapitaleinkommensverteilung stehen, sehr, sehr hohe Kapitaleinkommen, und das treibt den Gini ebenfalls in die Höhe.

Schauen Sie sich die US-Daten von 2022 (jüngste verfügbare Daten) aus der aktuellen Bevölkerungsumfrage an (harmonisiert durch LIS). Wenn Sie die Verteilung der Kapitaleinkommen vom niedrigsten (links) bis zum höchsten (rechts) Wert darstellen, erhalten Sie die folgende Abbildung. Eine wahre Hockeyschläger-Kurve!

Anmerkung: Das Diagramm zeigt die durchschnittliche Höhe des Kapitaleinkommens, das jedes Perzentil der Verteilung erhält (wenn die Personen nach ihrem Pro-Kopf-Kapitaleinkommen geordnet werden). Sie zeigt, dass fast 80% der Haushalte kein oder nahezu kein Einkommen aus Finanzvermögen haben. Berechnet aus der Luxemburger Einkommensstudie, basierend auf der US Current Population Survey.

28% Prozent der US-Haushalte haben kein Einkommen aus Kapitalvermögen. 59% der Haushalte haben de facto kein oder nur ein triviales Einkommen aus Kapitalvermögen (ich gehe davon aus, dass ein triviales Einkommen aus Finanzvermögen ein Einkommen von weniger als 100 Dollar pro Kopf und Jahr ist, d. h. weniger als 8,33 Dollar pro Person und Monat). Als Kuriosum sei angemerkt, dass das mittlere jährliche Pro-Kopf-Einkommen aus Finanz- und Produktivvermögen in den Vereinigten Staaten 21,89 Dollar beträgt. Davon könnte man sich ein Glas Chardonnay in Manhattan oder vielleicht drei Bier in Iowa kaufen. Im Grunde sind also 60% der Haushalte bezogen auf das Kapitaleinkommen „Nullen“.

Wie Sie in der Grafik sehen können, wird das Kapitaleinkommen danach positiv und steigt am oberen Ende der Verteilung exponentiell an, bis es im höchsten Perzentil etwa 122.000 US-Dollar pro Kopf erreicht. Dieser Betrag wird im Übrigen unterschätzt, weil superreiche Menschen nur selten in Erhebungen einbezogen werden (sie sind objektiv schwer zu erfassen, weil es so wenige von ihnen gibt und der Umfang der Erhebungen begrenzt ist). Außerdem neigen Menschen dazu, ihr Vermögen und ihr Kapitaleinkommen zu unterschätzen. Aber das bedeutet immer noch, dass eine durchschnittliche vierköpfige Familie im höchsten US-Kapitaleinkommensperzentil jährlich etwa eine halbe Million US-Dollar allein aus Finanzvermögen erhält.

3.

Wie viele Menschen auf der Welt beziehen Einkommen aus dem Besitz von Kapital? Wir haben gesehen, dass 60% der US-amerikanischen Haushalte kein oder fast kein Einkommen aus Vermögen haben. In anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaften ist die Situation nicht anders: In Deutschland liegt dieser Anteil bei 64%, in Dänemark bei 69%, in Großbritannien bei 79%, in Italien bei 83% und in Griechenland bei 87%. Die „volkskapitalistischsten“ unter den modernen Volkswirtschaften sind Norwegen, Südkorea, Frankreich und … China.

In einigen Ländern wie Norwegen und dem Vereinigten Königreich macht die private Altersvorsorge, die in der unten stehenden Grafik enthalten ist, einen Unterschied: So sinkt beispielsweise der Prozentsatz der „Nullen“ im Vereinigten Königreich von 84 auf 79%, wenn die private Altersvorsorge mit einbezogen wird. Chile ist ebenfalls ein interessanter und recht extremer Fall: Nur 20% der Haushalte haben eindeutig Null-Kapitaleinkommen aus Vermögen. Aber 79% haben triviale Beträge (weniger als 100 Dollar pro Kopf und Jahr) aus dem chilenischen System der kapitalgedeckten Renten erhalten. In Wirklichkeit verfügt also nur 1% der chilenischen Haushalte über praktisch das gesamte chilenische Kapitaleinkommen. In den meisten anderen Ländern fallen die Einkünfte aus privaten Renten nicht sehr ins Gewicht (zum Teil, weil sie von Personen bezogen werden, die ohnehin keine Nullen sind), oder die kapitalgedeckten privaten Renten sind zu gering oder existieren gar nicht.

Anmerkung: Die Grafik zeigt den Prozentsatz der Haushalte mit keinem oder fast keinem Jahreseinkommen aus Kapital. Berechnet aus den Luxemburger Einkommenserhebungen; die meisten Daten stammen aus den Jahren 2020-2021.

In den weniger reichen Ländern ist der Prozentsatz der Nullen und Quasi-Nullen absolut überwältigend und, ja, atemberaubend. In Brasilien, Peru, Südafrika, Indien, Mexiko und Chile haben mehr als 95% der Bevölkerung überhaupt kein Kapitaleinkommen. Das bedeutet natürlich, dass 5% oder weniger der Bevölkerung das gesamte Einkommen aus Finanzanlagen beziehen.

Die von mir zusammengestellten LIS-Daten umfassen etwa 4,6 Milliarden Menschen auf der Welt. Die Daten stammen ausschließlich aus reichen Ländern und Ländern mit mittlerem Einkommen. Insgesamt beträgt der (gewichtete) Anteil der Bevölkerung mit Null-Kapitaleinkommen 77%. Die restlichen 3,6 Milliarden Menschen, für die ich die Daten (noch) nicht zusammengestellt habe, stammen alle aus viel ärmeren Ländern in Lateinamerika, Südostasien und vor allem in Afrika. Es ist sehr wahrscheinlich (ich würde sagen, fast sicher), dass nicht mehr als 5% der Menschen in diesen Ländern über ein Einkommen im Finanzsektor verfügen. Mit 95% Nullen aus diesen Ländern und 77% Nullen aus den Ländern mit reichem und mittlerem Einkommen lässt sich schätzen, dass 85% der Menschen auf der Welt ohne Kapitaleinkommen sind.

Mit anderen Worten: Das Finanz- und Produktivvermögen der Welt befindet sich im Besitz von 15% der Einwohner (Haushalte).

Willkommen in der Homoplutie

Was bedeutet das alles? Der neue Kapitalismus hat selbst in den reichen Ländern nicht das hervorgebracht, was Margaret Thatcher und vor ihr Friedrich Hayek die „Eigentumsgesellschaft“ nannten (Thatcher fügte sicherheitshalber noch „Demokratie“ hinzu). Selbst wenn wir das Einkommen aus „erzwungenen“ Ersparnissen einbeziehen, das zu Rentenvermögen wird, sind zwischen der Hälfte und fast 90% der Bevölkerung in den reichen Ländern vermögenslos. In den weniger entwickelten Ländern liegt dieser Prozentsatz bei über 90 oder sogar über 95%.

Die beiden größten Länder der Welt sind interessant. Das nominell kapitalistische Indien lässt 97% seiner Bevölkerung ohne Kapitaleinkommen zurück; das nominell kommunistische China hat sich in den letzten 40 Jahren bemerkenswert „kapitalisiert“ und etwa die Hälfte seiner Bevölkerung bezieht inzwischen ein gewisses Kapitaleinkommen – relativ gesehen mehr als in den USA und in Großbritannien.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der neue Kapitalismus in Bezug auf den Besitz von Kapital die vom klassischen Kapitalismus errichtete Schranke nicht nennenswert durchbrochen hat: Der Bezug von Kapitaleinkommen ist ein Privileg der Wenigen, und dieses Privileg ist selbst bei denjenigen, die über Kapitaleinkommen ungleich Null verfügen, außerordentlich schief.

Der neue Kapitalismus ist kein Volkskapitalismus, sondern ein homoplutischer Kapitalismus. Das Kapitaleinkommen ist nicht nach unten durchgesickert ist, sondern das Arbeitseinkommen nach oben. Dort hat es sich mit den bereits vorhandenen oder neu geschaffenen großen Vermögen verbunden, um an der Spitze eine neue Klasse zu schaffen, deren Reichtum sowohl aus Arbeit als auch aus Kapital stammt. Das ist die Homoplutie, oder neue Aristokratie, mein Freund!

 

Zum Autor:

Branko Milanovic ist Professor an der City University of New York und gilt als einer der weltweit renommiertesten Forscher auf dem Gebiet der Einkommensverteilung. Milanovic war lange Zeit leitender Ökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank. Er ist Autor zahlreicher Bücher und von mehr als 40 Studien zum Thema Ungleichheit und Armut. Außerdem betreibt er den Substack Global Inequality and More 3.0, wo dieser Beitrag zuerst in englischer Sprache erschienen ist.