Fremde Federn

Bidenomics, digitale Ordnung, technologischer Solutionismus

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wer heute noch eine Gewerkschaft braucht, inwiefern Joe Bidens Pläne tatsächlich einen revolutionären wirtschaftspolitischen Umbruch einleiten könnten und warum Ölkonzerne so schnell nicht klimafreundlich werden.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Orry Mittenmayer, wer braucht heute noch eine Gewerkschaft?

piqer:
Raul Krauthausen

Ich spreche mit dem Gewerkschafter Orry Mittenmayer, seines Zeichens Aktivist für bessere Arbeitsbedingungen und Vorsitzender des ersten Betriebsrates von Deliveroo. Er ist Gründer der Kampagne “Liefern am Limit”, Politikwissenschaftler, gelernter Buchhändler und zudem ehrenamtlicher Aktivist bei der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG).

Er wurde vor drei Jahren bekannt, als er sich wie David gegen Goliath der Plattform-Ökonomie entgegenstellte. Seither kämpft er für bessere Arbeitsbedingungen bei Essens-Lieferdiensten. Raul und Orry sprechen unter anderem darüber, wie man künftige Aktivist*innen empowert und wie man sich nicht zu ernst nimmt. Weitere Themen sind die Entglorifizierung von Ausbeutung und wie mächtig ein Generalstreik sein kann, um auf Missstände hinzuweisen.

Stimmen die Menschen über Home Office mit den Füßen ab?

piqer:
Ole Wintermann

Aktuell findet sich ein lesenswerter Beitrag von n-tv zur “Rückkehrsituation” in deutschen Unternehmen, der ein spannendes Bild der zukünftigen Arten des Arbeitens zeichnet. Derzeit ist es vor allem die deutsche IT-Branche, die den Beschäftigten den wegweisende Pfad Richtung mehr Selbstbestimmung aufzeigt. Nicht nur Google hat den Beschäftigten inzwischen weitreichende Autonomie der Wahl des Arbeitsortes angeboten. SAP geht noch einen Schritt weiter: War es vor der Pandemie schon möglich, 4 Tage an einem Wunsch-Arbeitsort zu verbringen, gibt das Unternehmen die Wahl des Arbeitsortes – immer unter Berücksichtigung der Arbeitskontexte – nun komplett in die Hände der Beschäftigten. Bei HP ist man dazu übergegangen, den dritten Ort des Arbeitens als Standard zu setzen. Siemens plant vergleichbares. Bosch ist auf der Suche nach einem hybriden Modell.

Gerade technologielastige Firmen sind sich des globalen Wettbewerbs um Fachkräfte bewusst. Selbstbestimmung bei der Arbeit ist demnach ein Auswahlkriterium im Sinne des Arbeitgebers. Befragungen von Beschäftigten durch das Beratungsunternehmen EY und das Leibniz-Institut für Arbeitsforschung unterstützen diese Entwicklungen. Selbst konservative Firmen wie Porsche, bei denen bisher gerade einmal 2 Tage im Monat (!) mobiles Arbeiten erlaubt waren, weiten die Mobile-Arbeit-Quote auf 50% aus. Gewerkschaften scheinen dem Trend zur Flexibilität im Moment noch nicht so offen gegenüber eingestellt zu sein, befürchten sie doch vor allem, dass die erhöhte Selbstbestimmung zu mehr Eigenausbeutung führen könnte.

Fazit: Mit Blick auf die Bemühungen des Bundesverbandes der Industrie in den letzten Wochen, die Menschen via politischen Drucks wieder zurück ins Büro zu beordern, scheint Technologienähe immer auch Innovationsbereitschaft zu steigern.

Bidens Wirtschafts- und Finanzpolitik: Historische Revolution?

piqer:
Michael Hirsch

Der in „Sidecar“, dem Blog der bedeutendsten linken englischen Debattenzeitschrift „New Left Review“ erschienene Beitrag stellt die historischen Dimensionen von Joe Bidens Wirtschafts-, Steuer-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik heraus. Es geht um nichts weniger, als eine Revolution rückwärts von der 1979 unter Jimmy Carter eingeleiteten neoliberalen Revolution im Verhältnis von Staat, Kapital und Arbeitsmarkt. Diese Revolution begann damals so:

In 1979, when Jimmy Carter appointed Paul Volcker chair of the Federal Reserve, the mandate was clear. Tackle inflation, whatever the cost. And so he did. In late 1980, interest rates reached a record high of 20%, and inflation fell from a peak of 11.6% to 3.7% in 1983. For the capitalist class, this came with an economic and political bonanza. The rate hikes triggered a severe recession, precipitating a wave of restructuring and lay-offs that helped to crush the trade unions, demoralize the left and discipline the global south. The result was a ‘revenge of the rentiers’, and a well-documented surge in inequalities.

Die neoliberale Revolution war eine Zeitenwende in den wirtschaftspolitischen Machtverhältnissen. Insofern macht es Sinn, die von der Biden-Administration eingeleiteten Maßnahmen als Umkehrung einer Revolution zu verstehen und die Geschichte rückwärts zu betrachten:

Volcker’s ‘1979 coup’, as Gérard Duménil and Dominique Lévy called it in Capital Resurgent (2004), came in a period when declining systemic dynamism in the advanced-capitalist world – brought on by intensifying competition, with successful Japanese and German catch-ups – was met by rising labour militancy and mass social movements, producing a general crisis of governability. Meanwhile radical forces in the former colonial countries called for a New International Economic Order, based on economic sovereignty and the regulation of multinationals. The 1979 coup was arguably the most consequential factor in turning the tide against these insurgent forces.

Der Artikel stellt die Frage, ob Bidens Pläne tatsächlich einen solchen revolutionären Umbruch einleiten könnten:

Stabilize prices, crush labour, discipline the south. This was the basic logic of the 1979 coup. For four decades, financial returns were systematically prioritized over labour standards, employment, ecological conditions and development prospects. Now, in 2021, there are signs that this era is finally coming to an end. Yet to what extent, and by what means?

Lustigerweise geht das konservative „Wall Street Journal“ besonders weit in diese für die wirtschaftspolitische Rechte pessimistische, für die Linke optimistische Variante:

The most exaggerated expression of ‘left optimism’ to date comes from the Wall Street Journal. America’s leading conservative newspaper tells us that ‘Joe Biden may be the most anti-business President since FDR’. His Administration is implementing ‘a Bernie Sanders–Elizabeth Warren agenda that would vastly expand government control over business and the economy.’ The WSJ is not particularly perturbed by Biden’s spending spree; but it is incensed about the planned rise in corporate and wealth taxes, as well as the attempt to bolster union organizing with the Pro Act, ‘the most far-reaching labour legislation since the 1930s.’

Der Beitrag erläutert dann en détail, wie weit Bidens Pläne tatsächlich gehen und wie realistisch ihre Umsetzung ist. Dabei geht es zum einen um die Problematik von Inflation und Preisstabilität. Um die Frage danach, wie und in welcher Konstellation von (verschuldeter) Öffentlicher Hand und (chronisch überschüssigem) privatem Kapital in Zukunft die gigantischen staatlichen Infrastruktur-Aufgaben nicht nur im Bereich der Sozial-, Bildungs- und Gesundheitspolitik, sondern auch in dem der öffentlichen Verkehrs- und Vesorgungsinfrastrukturen finanziert werden. Der Investitionsstau mag in den USA höher sein als zum Beispiel in Deutschland. Doch auch hierzulande haben die über Jahrzehnte vernachlässigten Investitionen in öffentliche Infrastrukturen unvorstellbare Ausmaße. Und man wundert sich, warum von den fortschrittlichen politischen Parteien in diesem Land hier nicht ähnlich beherzte Pläne vorgeschlagen werden wie von den US-Demokraten.

Neue Ordnungen braucht das Land: Mehr Digitalisierung wagen

piqer:
Anja C. Wagner

Viele Menschen in Deutschland meinen oder hoffen, die Corona-Phase hätte dem digitalen Wandel in diesem Lande einen ungeheuerlichen Schub ermöglicht. Aber Digitalisierung ist weit mehr als ein bisschen Homeoffice, Remote-Arbeit via Videokonferenz, E-Learning oder E-Commerce. Vielmehr bedeutet Digitalisierung eine neue soziopolitische wie sozioökonomische Ordnungsstruktur, die selbstverständlich auch eine soziokulturelle Veränderung unseres Zusammenlebens ermöglicht und auch voraussetzt. Und hier stößt diese Republik an allen Ecken und Enden an ihre Grenzen – dies hat Corona unmissverständlich offengelegt.

In den Gesundheitsämtern, den Schulen und im Einzelhandel wurde die bislang versäumte, nachhaltige Digitalisierung offensichtlich. Das hat verschiedene Gründe – der Autor benennt einige systemische Problemfelder, an die auch wir immer wieder stoßen.

Zum Teil lag das am mangelnden Veränderungswillen, manchmal sogar an einer Verweigerungshaltung, zum Teil an fehlenden Freiheitsgraden in den Institutionen und Strukturen.

Man müsste die grundlegende Mentalität in diesem Land verändern – nur wie? – sitzen deren Werte und Normen traditionell sehr tief. Und letztlich profitieren die alten Stakeholder weiterhin von ihrer Resilienz.

Die Industrialisierung kam Deutschland von der Mentalität her entgegen, die Digitalisierung dagegen läuft Deutschland davon.

Aber die globale Ökonomie verändert sich aktuell grundlegend.

Die technische Möglichkeit, heute Daten massenhaft zu speichern und über Algorithmen und künstliche Intelligenz smart und in Echtzeit überall auf der Welt zu verknüpfen, macht Daten zu einer Ressource und zu einem spezifischen, d.h. nicht durch Kapital oder Arbeit substituierbaren Produktionsfaktor. Künstliche Intelligenz repliziert zudem spezialisiertes Wissen zu geringen Grenzkosten, macht es überall verfügbar und reduziert somit Spezialisierungsvorteile und komparative Kostenvorteile. Dadurch verändert sich das Verhältnis zwischen Daten, Kapital und Arbeit in einer makroökonomischen Produktionsfunktion. (…) Als Folge werden die traditionellen industriellen Wertschöpfungsketten und vertikalen Branchenstrukturen in hybride Ökosysteme transformiert. Das aber erfordert die Fähigkeit zur Kooperation und Agilität.

Die inkrementelle Verbesserungslogik der hiesigen mittelständischen Unternehmen, die (top-down geführt) entlang der arbeitsteiligen Globalisierung organisiert wurde, kommt in die Defensive. Wenn Daten als Ressourcen über Plattformen gehandelt werden, lösen sich vertikale arbeitsteilige Wertschöpfungsketten auf.

Stattdessen bilden sich branchenübergreifende Cross-Industry-Ökosysteme und Wertschöpfungsnetzwerke, die ein höheres Maß an Kooperation, Kreativität und Agilität erfordern. Gleiches gilt für Innovationsprozesse, die weniger inkrementell als vielmehr disruptiv, experimentell und interdisziplinär verlaufen. Viele etablierte Unternehmen haben genau hier, bei den kulturellen Anpassungen, erhebliche Probleme.

Und nicht nur die Unternehmen haben Probleme – auch das Bildungssystem muss entsprechend angepasst werden. Wir benötigen begleitende Bildungsressourcen und -infrastrukturen, die ein wirkliches lebenslanges Lernen ermöglichen und Menschen für wechselnde Tätigkeitsprofile und Lebensmodelle bereitstehen. (Diese Passage im Artikel fasst mein Buch „Berufen statt zertifiziert“ ganz gut zusammen.)

Als Handlungsfelder für die Digitalisierung empfiehlt der Autor:

  • Ausbau der digitalen Infrastruktur
  • Modernes Datenrecht etablieren
  • Künstliche Intelligenz anwendungsfähig machen
  • Skalierungsbedingungen für europäische Geschäftsmodelle verbessern
  • Standortbedingungen für Start-ups verbessern
  • Öffentliche Verwaltung und staatliche Institutionen reformieren
  • Bildungs- und Ausbildungssysteme reformieren

Danke für Nichts! Technologischer Solutionismus im Woke Capitalism

piqer:
Magdalena Taube

Google hat eine Initiative zum „Aufbau einer gerechteren Kamera“ angekündigt. Das Unternehmen plant, den Weißabgleich und die Belichtungsalgorithmen anzupassen, um dunklere Hauttöne besser zu berücksichtigen. Einige begrüßen das Projekt, andere halten es für technologischen Solutionismus.

„Technologischer Solutionismus“ ist ein Begriff, der von Evgeny Morozov in die Debatten rund um Technologie und Gesellschaft eingeführt worden ist. Das geschah im Jahr 2013 in seinem Buch „To Save Everything, Click Here: The Folly of Technological Solutionism“, das zeitgleich auf Deutsch unter dem nicht ganz so smarten Titel „Smarte neue Welt. Digitale Technik und die Freiheit des Menschen“ erschien.

„Technologischer Solutionismus“ ist ein Kampfbegriff. Die zugrundeliegende Kritik lautet: gesellschaftliche Probleme sollen durch technische Tricks gelöst werden, was teils sogar so weit geht, dass diese Probleme überhaupt erst erschaffen werden, um die technischen Lösungen (neue Gadgets, neue Algorithmen etc.) vermarkten zu können. Was teils aber auch bedeutet, dass die gesellschaftlichen Probleme, wie im eingangs genannten Fall – Rassismus – durch die Technik „verlängert“ und erschwert werden, weil man verkennt, dass die Ursachen in gesellschaftlichen Strukturen liegen und entsprechend nur dort bekämpft werden können.

Ich habe schon in zahlreichen piqds auf Fehlentwicklungen und Schieflagen hingewiesen, die sich als „technologischer Solutionismus“ bezeichnen lassen. Nun ist dieser Fall hier, der übrigens in dem Guardian-Artikel „Skin in the frame: black photographers welcome Google initiative“ aktuell diskutiert wird, nicht nur besonders exemplarisch, sondern auch besonders interessant, weil die Firma Google zu jenen Big-Tech-Playern gehört, die sich die Weltverbesserung ganz groß auf die Fahnen geschrieben haben.

„Don’t be evil“ ist ein Satz aus Googles Unternehmenskodex, der bereits zu Beginn der Geschichte als Motto der Silicon-Valley-Firma vermarktet worden ist – und sicherlich nicht wenig zum Erfolg beigetragen hat, weil es ja damals noch viel stärker als heute darum ging, Vertrauen in (Big) Tech aufzubauen. Im Jahr 2015, da die Macht dieses Unternehmens ins schier Unermessliche gestiegen war und die Agenda um Bereiche wie selbstfahrende Autos und humanitäre Hilfe erweitert worden war, nannte sich das Konglomerat fortan Alphabet und reformierte sein Motto: „Do the right thing“.

Google ist somit ein Paradebeispiel für den aktuell heiß diskutierten „Woke Capitalism“. Hier inszenieren sich die größten Mit-Verursacher der aktuellen Krisen und Probleme als vordringliche Kräfte zur Überwindung derselben! Damit sagen sie einmal mehr: „An uns kommt keiner vorbei.“ Und: „Ohne uns geht hier nichts.“

Wäre es nicht an der Zeit dieser Selbstherrlichkeit, die ja nichts anderes als eine Machtdemonstration ist, etwas entgegenzusetzen?

In den Anfängen der globalisierungskritischen Bewegung wurde noch einiges auf die Macht der Kund*innen gesetzt? Sprich: die Macht, sich als Kund*in einem Konzern und seinen Produkten zu verweigern. Angeblich soll Verweigerung bei Firmen wie Google gar nicht mehr möglich sein, weil sie überall (verwickelt) sind. Doch vielleicht sollten wir uns nicht so sehr von diesem Gedanken lähmen lassen. Die Verweigerung kann im Kleinen anfangen, größere Kreise ziehen, wachsen, sich vernetzten – wie das Wurzelgeflecht eines Walds.

So schnell werden Ölkonzerne nicht klimafreundlich

piqer:
Alexandra Endres

Der Mittwoch der vergangenen Woche war für Klimaschützer ein besonderer Tag. Und zwar aus drei Gründen:

In den USA setzte ein aktivistischer Investmentfonds durch, dass Gregory Goff und Kaisa Hietala in den Vorstand von ExxonMobil berufen wurden. Die beiden

sollen (ExxonMobil-Vorstandschef Darren) Woods und Kollegen klar machen: Die Klimakrise zu ignorieren und nur kosmetisch zu bekämpfen, wie es ExxonMobil seit Jahrzehnten tut, schädigt nicht nur die Umwelt, sondern auch die Profite der Aktionäre.

Im niederländischen Den Haag verurteilte das örtliche Bezirksgericht den Ölkonzern Royal Dutch Shell, bis 2030 seine weltweiten CO2-Emissionen gegenüber 2019 um 45 Prozent zu reduzieren.

Und wiederum in den USA stimmte eine Mehrheit der Aktionäre des US-Ölmultis Chevron dafür, dass der Konzern Pläne vorlegen solle, um zu zeigen, wie er die Treibhausgasemissionen aus allen seinen Produkten reduzieren wolle. Auch dahinter steckten Klimaaktivisten.

Gerichte, Investoren und Regierungen (zumindest in den USA und Europa) drängen also die Ölkonzerne immer stärker in Richtung Klimaschutz. Doch die bewegen sich weiterhin nur sehr langsam (wenn überhaupt).

Warum, beschreibt Bernhard Pötter im hier gepiqden taz-Artikel:

Exxon Mobil… sieht für weitere 20 Jahre eine stabile Nachfrage nach Öl und Gas. (…) Der Konzern wettet also auf das Scheitern der Klimapolitik.

Auch in der gesamten Ölbranche deutet wenig auf ein Umlenken hin. „Immer noch fließen 99 Prozent der Investitionen der Öl- und Gasindustrie in ihr Kerngeschäft“, sagt Timur Gül, Leiter der Abteilung Energietechnologiepolitik bei der IEA.

Zentral sei, „wie ernsthaft die Politik die Dekarbonisierung vorantreibt“, so Gül. Und in einem globalen Maßstab gibt es da derzeit widersprüchliche Signale, wie Kirsten Westphal, Energieexpertin der Stiftung Wissenschaft und Politik beschreibt:

In Europa und den USA und vor allem in Deutschland sei Klimaneutralität „Gesetz und damit gesetzt“, das bedeute langfristig das Aus für Öl und Gas. Das aber lasse weltweit möglicherweise die Preise sinken, wenn jetzt noch maximal gefördert werde. Auch komme aus Asien „ein Nachfragesog, vor allem auch nach Gas, um damit die Kohle zu ersetzen“.

Westphal sagt deshalb:

„Wir bräuchten idealerweise einen gemeinsam verhandelten Ausstiegspfad, national und international.“

Laut einer neue Studie des britischen Thinktanks Carbon Tracker haben acht von zehn großen privaten Ölkonzernen zwar „Netto-Null“-Ziele für Emissionen formuliert. Aber dahinter steckt in den meisten Fällen kein ambitionierter Klimaschutz.

Nur der italienische Eni-Konzern legt sich fest, alle CO2-Emissionen, auch die seiner Kunden, bis 2050 auf Null zu bringen und verspricht Zwischenziele für 2030. Ganz unten auf der Liste: ExxonMobil (…).

Die CO2-Konzentration steigt weiter

piqer:
Nick Reimer

So sicher, wie es regnet und die Blumen blühen, so sicher gibt es in jedem Juni einen anderen, weniger inspirierenden Frühlingsritus: Das Verkünden eines neuen Höchstwerts für die atmosphärische Konzentration der Treibhausgase. In diesem Jahr sind es 419,13 CO₂-Moleküle pro Million Luftmoleküle, gemessen in ppm – „parts per million“,  Teile pro Million. Basierend auf geologischen Beweisen, die Wissenschaftler über sechs Jahrzehnte gesammelt haben, ist die diesjährige Konzentration die höchste seit 4,5 Millionen Jahren.

In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts begann der junge Chemiker Charles Keeling an der US-Pazifikküste, mit einem selbstgebauten Manometer die Kohlendioxidkonzentration der Luft zu messen. Professor Roger Revelle wurde auf die Experimente aufmerksam und schickte Keeling 1958 nach Hawaii, um am 4.170 Meter hohen Vulkan Mauna Loa eine Messreihe aufzubauen. Die Lage des Laboratoriums ist für atmosphärische Untersuchungen ideal, die Höhenluft unterliegt kaum lokalen oder von Menschen verursachten Einflüssen – die nächsten Industrieschlote sind Tausende Kilometer weit weg.

Seit Beginn der Messreihe hat sich an der Ausrüstung und den Methoden nichts Wesentliches verändert. Keeling und sein Team nehmen vier Proben pro Stunde. 1958 waren darin 315 Teile Kohlendioxid pro Million Teile Luft enthalten. 1970 waren es 324 dieser „parts per million“, als die Klimarahmenkonvention 1992 beschlossen wurde, registrierten die Wissenschaftler bereits 354 ppm. Jahr für Jahr stieg die Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre, zum Beginn des Industriezeitalters – das belegen geologische Aufzeichnungen – hatte die Treibhausgas-Konzentration noch 280 ppm betragen. Mit anderen Worten, durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe in Generatoren und Autos hat die Menschheit die Treibhausgas-Konzentration um 40 Prozent erhöht.

Pandemiebedingte wirtschaftliche Störungen hatten praktisch keine Auswirkungen auf die CO₂-Entwicklung, ein Ergebnis, das Forscher bereits im April 2020 vorhersagten. Der Mai-Durchschnitt stieg gegenüber Mai 2020 um 1,8 ppm, etwas weniger als die jährliche Wachstumsrate zwischen 2011 und 2017. Prognosen zufolge wird die globale Oberflächentemperatur der Erde bei einer Konzentration von 450 ppm durchschnittlich 2 Grad wärmer sein als zu vorindustrieller Zeit.

Der Ausstoß von Treibhausgasen hat nicht nur gravierende Folgen für die globalen Temperaturen, sondern verändert auch die Erdatmosphäre selbst. Deren zweite Schicht, die in rund 20 Kilometern Höhe beginnt, schrumpft merklich. Zu diesem Ergebnis kam ein internationales Forscherteam, das nun in der Fachzeitschrift Environmental Research Letters veröffentlicht wurde. Das könnte potenziell auch gefährlich für Satelliten und GPS werden.