Fremde Federn

„Aufstehen“, zehn Jahre Finanzkrise, Politik als Elitensport

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Warum Integration für weibliche Flüchtlinge oft schwerer ist, wieso der weltweite Wettbewerb um den nächsten Job zunehmend die Hochqualifizierten trifft und wie „die Reichen“ die Weltverbesserungs-Rhetorik gekapert haben.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Warum sich so wenig verändert hat durch die Finanzkrise vor 10 Jahren

piqer:
Georg Wallwitz

Martin Wolf sinniert in der FT über die Frage, warum sich kaum etwas verändert hat durch die Finanzkrise. Es ist ja grundsätzlich in Ordnung, nichts verändern zu wollen. Aber warum war es in diesem Fall so, obwohl eine ganze Reihe offensichtlicher Probleme offensichtliche Lösungen gehabt hätte. Das mündet bei Wolf in eine grundsätzliche Systemkritik:

„The financial crisis was a devastating failure of the free market that followed a period of rising inequality within many countries. Yet, contrary to what happened in the 1970s, policymakers have barely questioned the relative roles of government and markets. Conventional wisdom still considers “structural reform” largely synonymous with lower taxes and de-regulation of labour markets. Concern is expressed over inequality, but little has actually been done. Policymakers have mostly failed to notice the dangerous dependence of demand on ever-rising debt. Monopoly and “zero-sum” activities are pervasive. Few question the value of the vast quantities of financial sector activity we continue to have, or recognise the risks of further big financial crises.“

Es gibt eine ganze Reihe sinnvoller Verbesserungsvorschläge:

„Some have argued for … the elimination of the tax deductibility of debt interest. Some note the perverse impact of executive incentives. Some argue convincingly for higher equity requirements on banks … Others ask why only banks have accounts at central banks. Why should every citizen not be able to do so? Some wonder why we cannot use central banks to escape dependence on debt-fuelled growth.

Beyond finance, it seems ever clearer that protection of intellectual property has gone too far. Also, why not shift taxation on to land? Why are we letting the taxation of capital collapse? And why are we not trying to revitalise antitrust?“

Der Umstand, dass davon kaum etwas umgesetzt wurde, deutet für Wolf auf eine Selbstgefälligkeit und Ideenlosigkeit hin, welche die Bevölkerung mit Wut erfüllt.

Weltweiter Wettbewerb um den nächsten Job: Es trifft zunehmend die Hochqualifizierten

piqer:
Ole Wintermann

Alana Semuels beschreibt in ihrem Beitrag für The Atlantic die Diversität der Menschen, die auf globalen Gig-Plattformen tätig sind, ihre unterschiedlichen beruflichen und persönlichen Hintergründe und ihre Beweggründe, Online-Gig-Jobs anzunehmen. Dabei konzentriert sie sich auf die Erfahrungen der Menschen, die auf Fiverr ihre Dienste anbieten.

So ermöglichen diese Plattformen den Menschen in den sich entwickelnden Ländern eine Einkommens- und Karriere-Perspektive, die sich ihnen in ihrem persönlichen regionalen oder nationalen Umfeld so nicht geboten hätte. Der malaysische Staat begreift das Engagement auf diesen Plattformen inzwischen als großartige Chance, viele Menschen im eigenen Land aus bitterer Armut zu führen.

Nach einem Abschnitt, in dem sie ihren US-Leserinnen die Logik der weltweiten Marktwirtschaft erklärt, kommt sie zu der für sie überraschenden Erkenntnis, dass ja der weltweite Wettbewerb nicht nur Druck auf die US-Arbeiterinnen, sondern auch auf das eigene hochgebildete Leserklientel ausübt (Übersetzer, Texter, Architekten, Designer).

„But that also means similarly talented people can charge equal rates, regardless of their actual qualifications, even if they live in countries that have vastly different costs of living.“

Die Menschen in Indien, Nigeria, Vietnam, den Philippinen profitieren von den Plattformen demnach eher, während in den USA die Hochqualifizierten darunter leiden.

Versuche, die Verhandlungsmacht der Diensteanbieter zu steigern, sind bisher gescheitert, so die Autorin. Die Möglichkeit, die Honorare anzuheben, hat nur eine kleine „Oberschicht“ der Freelancer, die es geschafft haben, mit dieser Plattform eine Personenmarke zu entwickeln.

Und Bildung scheint auch keine Lösung zu sein:

„But the usual mantra told to people who have lost their jobs to outsourcing—get more education, get more training—doesn’t make sense in an economy where educated people across the world are competing.“

Rat an die Kohlekommission: Klimaschutz zu bremsen, führt nicht zu mehr Gerechtigkeit – im Gegenteil

piqer:
Alexandra Endres

Der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU) berät die Bundesregierung seit 26 Jahren. Am Freitag legte er ein aus mehreren Gründen bemerkenswertes neues Papier zur Klimapolitik vor:

Der Rat schlägt einen Pass für Menschen vor, die wegen des Klimawandels ihre Heimat verlassen müssen. Sie sollen Staatsbürgerrechte in den Ländern bekommen, die das Elend verursacht haben. Es ist noch nicht lange her, da wurde Ricarda Lang, die Bundessprecherin der Grünen Jugend, für diesen Vorschlag massiv angefeindet.

Der WBGU ist dafür, dass die Bundesregierung in Zukunft Klimaklagen unterstützt, selbst wenn diese sich gegen deutsche Unternehmen richten. Was eine interessante Frage aufwirft: Was geschähe, wenn die Bundesregierung selbst verklagt würde?

Er plädiert dafür, einen Fonds einzurichten, der den Umbau zu einer klimafreundlichen Gesellschaft bezahlt, finanziert durch einen Kohlendioxidpreis und eine moderate Erbschaftssteuer.

Und er gibt der Kohlekommission einen Rat mit auf den Weg, der für Wissenschaftler, wie ich finde, ungewöhnlich deutlich formuliert ist:

Es ist unredlich, den Klimaschutz zu verzögern und das mit Gerechtigkeitsargumenten zu verschleiern. Wir wissen doch: Wenn die Treibhausgasemissionen nicht bis Mitte des Jahrhunderts gegen Null gehen, dann laufen wir Gefahr, einen Umbruch des gesamten Erdsystems zu erzeugen – und das ist auch aus Gründen der Gerechtigkeit unverantwortlich.

Das sagt der WBGU-Vorsitzende Dirk Messner im Interview. Er sagt auch:

Mit den Menschen und Organisationen in den Kohleregionen sofort und verlässlich zukunftsfähige Wirtschaftsstrukturen aufzubauen, das liegt auch im Interesse der Beschäftigten und vor allem ihrer Kinder.

Soweit die Wissenschaftler. Was macht die Politik daraus? Wenige Stunden nach der Veröffentlichung des WBGU-Papiers warf SPD-Chefin Andrea Nahles den Grünen vor, den Ausstieg aus der Braunkohle zu forcieren, ohne sich um die Menschen vor Ort zu kümmern. Genau die Rhetorik, die Messner unredlich nennt.

Die geteilte Elite oder Politik als Elitensport?

piqer:
Thomas Wahl

Wenn Thomas Piketty eine Studie veröffentlicht, dann wird es interessant, ob man seiner Meinung folgen wird oder nicht.

In seiner jüngsten Analyse hat er das Wahlverhalten zwischen 1948 bis 2017 in den USA, Großbritannien und Frankreich analysiert und mit den Wählerdaten über Einkommen, Vermögen und Bildungsstand korreliert. In diesen Ländern ergab sich ein vergleichbares Muster:

The cultural elite and the moneyed elite (“Brahmins” and “merchants”, as Piketty calls them) are both growing. Both have captured their chosen political parties. On left and right, politics is now an elite sport.

Der große Trend ist: Die „Brahmins“, also die Bildungselite, wechselte nach links. Sie ist eher jung, städtisch und sie wächst (in den USA haben z. B. 13% einen Master oder PhD). Auch die Gruppe der Vermögenden wächst. Mit Marx gesprochen, könnte man das als entstehende Klassen charakterisieren. Piketty zeigt nun,

… that high-income earners are split between right and left. But people with wealth (some of whom simply own their own homes outright) are much more predictably rightwing. “Wealth is a stronger determinant of voting attitude than income,” writes Piketty.

Auch wenn viele Wohlhabende nicht immer einer der „Klassen“ eindeutig zugeordnet werden können, wählen sie meist eines der Lager und entwickeln dann eine „ursprüngliche“ Feindschaft. Wobei die meisten Politiker Schüler der „Brahmins“ sind. Trump hat offensichtlich dieses Schema durchbrochen.

Für diese beiden Eliten ist der Rest des Volkes dann das „Wahlfutter“ – sie werden umworben und manipuliert, bekommen aber letztendlich nicht, was sie wirklich wollen oder brauchen.

Analyseergebnisse und die Schlussfolgerungen Pikettys decken sich m. E. gut mit dem, was man in der Politik beobachten kann. Intellektuelle mit gutem Einkommen sind Meinungsführer im linken Spektrum, die „wirtschaftsnahen“ Kreise dominieren das konservative Spektrum. Wirklich „volksnah“ sind wohl beide nicht?

Wer sind die Menschen, die Sahra Wagenknecht und „Aufstehen“ sympathisch finden?

piqer:
Dirk Liesemer

Gestern hat Sahra Wagenknecht die Sammlungsbewegung „Aufstehen“ auf der Bundespressekonferenz vorgestellt. Viel wird jetzt darüber berichtet, was sie vorhat, wer noch dahinter steht und welche Machtperspektiven ihre Gruppe überhaupt hat. Das neue deutschland kehrt in diesem kostenpflichtigen Artikel die Perspektive um und stellt Umfragedaten von YouGov vor, die allerdings mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten sind: Wie muss man sich die Menschen vorstellen, die Wagenknecht und damit auch das Projekt unterstützen?

Ganz kurz einige Ergebnisse, der im Artikel detaillierten Darstellung: tendenziell älter, männlich, gebildet, linkskonservativ, islamkritisch. Weniger wichtig ist ihnen die Legalisierung von Marihuana, die Autobahnmaut und die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften. Alles in allem zeigen die Erkenntnisse recht klare Tendenzen auf.

Warum Integration für weibliche Flüchtlinge oft schwerer ist

piqer:
Fabian Goldmann

Flüchtlinge sind in der Regel jung und männlich. Soweit das Klischee. In der Realität machen Frauen allerdings über 40 Prozent geflüchteter Menschen aus. Ihrer besonderen Situation hat sich nun eine Studie der OECD gewidmet. Diese stellt unter anderem fest, dass es weibliche Flüchtlinge entgegen dem Klischee oft viel schwerer bei der Integration haben.

Woran das liegt, welche Probleme Frauen bei Flucht und Integration noch begegnen und wie sich das ändern lässt, hat das Migazin zusammengefasst. Noch mehr Wissenswertes rund um das Thema hat die Böll-Stiftung in einem Dossier zusammengestellt.

Euro als Leitwährung? Nicht mit (diesem) Deutschland

piqer:
Christian Odendahl

Heiko Maas hat im Handelsblatt einen lesenswerten Rundumschlag geschrieben, um das zukünftige Verhältnis Europas zu den USA neu zu gestalten. Ein ökonomischer Vorstoß darin war, dass Europa ein eigenes Zahlungssystem aufbauen sollte:

Deshalb ist es unverzichtbar, dass wir europäische Autonomie stärken, indem wir von den USA unabhängige Zahlungskanäle einrichten, einen Europäischen Währungsfonds schaffen und ein unabhängiges Swift-System aufbauen.

Er fügt an: „Der Teufel steckt in tausend Details.“ Das würde ich auch sagen.

Ein „Detail“ hat Sebatian Dullien in diesem gepiqden Text sehr gut auseinander genommen: die Frage, ob ein solcher Vorstoß mit dem deutschen Export-Wirtschaftsmodell vereinbar ist. Die Antwort ist: eher nicht.

Warum? Ein Zahlungssystem wie Swift allein reicht nicht, es muss auch genutzt werden – und zwar in Euros, nicht in US-Dollar. Das bedeutet, die Welt muss den Euro als Leitwährung akzeptieren. Und hier fängt das Problem für Deutschland an.

Eine Leitwährung heißt: die Menschen auf der Welt nutzen den Euro für alle möglichen Transaktionen, Geldanlagen etc. Das bedeutet, die Welt braucht Euros und Wertpapiere in Euros, und das nicht zu knapp. Historisch haben daher Länder mit Leitwährungen A) Staatsdefizite gemacht, so entstanden die Staatsanleihen, die die Welt brauchte, und B) Handelsdefizite gefahren, damit die Welt Waren an das Land mit Leitwährung verkaufen und die daraus verdienten Dollars (früher Pfund) zu Hause nutzen konnte.

Deutschland ist weder zu A) noch zu B) bereit, im Gegenteil. Das wusste früher auch die Bundesbank, wie Dullien schreibt:

Dieser Konflikt … war einer der Gründe für die jahrzehntelange Opposition der Bundesbank gegen die internationale Verwendung der D-Mark. … Bis in die frühen 80er Jahre hinein bremste die Bundesbank aktiv deren Internationalisierung.

Sehr lesenswert und gut erklärt. Ein komplexes ökonomisches Thema, das jetzt aber politisch Relevanz bekommt, da sollte man im Bilde sein.

Die Reichen werden die Welt nicht retten

piqer:
Cornelia Daheim

Ein lesenswertes Meinungsstück (aus US-Perspektive) zur These, dass der aktuelle Boom der Weltverbesserungs-Haltung in den USA unter den Reichsten der Reichen vor allem ein Mittel zum Erhalt eines Systemzustands ist, von dem sie selbst stark profitieren. Während früher „Verändert die Welt“ der „Ruf der Unterdrückten“ war, hätten „die Reichen“ ihn heute gekapert. In dem Blick auf die Rhetorik der Weltverbesserung durch mächtige Institutionen ist das erst einmal erstaunlich lustig bis beunruhigend (wie im Slogan „Lehnt euch zurück, entspannt euch und verändert die Welt“ des Weltwirtschaftsforums). Für den Autor ist das zugrunde liegende Prinzip die „falsche Veränderung“, der es eben eigentlich darum geht, ein System zu erhalten, von dem die neuen, reichen Weltverbesserer stark profitieren. Statt dessen bräuchte es radikale politische Massnahmen:

Wir können tatsächlich echte Veränderung erreichen, aber dazu brauchen wir aggressive Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmer. Wir müssen Einkommen umverteilen und die Ausbildung und Gesundheit erschwinglicher machen. Aber solche Maßnahmen könnten die Gewinner teuer zu stehen kommen. So haben sie ein starkes Interesse daran, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass sie innerhalb des Systems Hilfe leisten können – innerhalb dieses Systems, das für die Gewinner so nützlich ist.

Sicher gibt es mehr Grautöne und komplexere Motivationen und Wirkungs-Gemengelagen in diesem Feld, als der Text darstellen kann und will. Dennoch ist das lesens- und bedenkenswert. Und wer lieber im Original liest oder mehr dazu wissen will: das ist ein ursprünglich in der New York Times erschienener Beitrag des Journalisten und Autors Anand Giridharadas, der auch ein Buch zum Thema veröffentlicht hat.