In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Wie die US-Wirtschaft in den Abgrund rauscht und was das für Trumps Präsidentschaft bedeutet
piqer:
Dirk Liesemer
„It’s the economy, stupid!“: Mit diesem Slogan wurde Bill Clinton im Jahr 1992 zum neuen US-Präsidenten gewählt. Er siegte damit über Amtsinhaber George Bush senior, der nach dem Irak-Krieg eigentlich hervorragende Zustimmungswerte erhalten hatte. Allerdings ging es der Wirtschaft damals nicht allzu gut, was der Herausforderer erkannt und politisch zu nutzen gewusst hatte.
Heute ist die Zustimmung für Amtsinhaber Donald Trump überschaubar und der US-Wirtschaft geht es miserabel, wie Zeit-Korrespondentin Heike Buchter in diesem Text anhand zahlreicher Beispiele belegt. Trump steht also mit dem Rücken zur Wand. Ob er in rund einem halben Jahr als Präsident bestätigt wird, gilt daher als höchst unsicher.
Allerdings könnte sich Trumps absehbares Ende vor allem als eine europäische Hoffnung erweisen. Entscheidend sei, schreibt Buchter, welches Bild sich bis zum Tag der Wahlen durchsetzt: Noch immer versammle er eine nicht zu unterschätzende Anhängerschaft um sich, die seinen Mut bei der Bewältigung der derzeitigen Krise bewundere. Und bekanntermaßen besitzt er auch ein ungeheures Talent darin, immer und überall erfolgreich Sündenböcke zu finden.
Gleichwohl vermittelt Buchters Bericht insgesamt den Eindruck, dass mit einer Wiederwahl nicht zu rechnen ist: Die US-Wirtschaft befindet sich erst am Anfang einer beispiellosen Krise, die noch gar nicht voll durchgeschlagen hat. Es wäre eine große Überraschung, wenn die Lage im November wieder deutlich besser sein sollte.
Warum Covid-19 ein Rückschlag im Kampf gegen Armut ist
piqer:
Hristio Boytchev
Der Artikel beschreibt sehr detailliert, dass arme Menschen am härtesten von der Epidemie betroffen sind. Zum einen wirtschaftlich – etwa nimmt zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren die Anzahl der Ärmsten zu:
From 1990 until last year the number of extremely poor people—those who subsist on less than $1.90 per day—fell from 2bn, or 36% of the world’s population, to around 630m, or just 8%. Now, for the first time since 1998, that number is rising—very fast.
Zum anderen medizinisch – besonders in ärmeren Ländern können Lockdowns auch verheerende Nebenwirkungen haben. Ein Beispiel von vielen:
A team at Johns Hopkins University calculates that across 118 poor and middle-income countries, disruption to health systems and hunger could kill 1.2m more children and 57,000 mothers over six months.
Corona verdeutlicht den Kraftakt, der bei der CO2-Reduktion vor uns liegt
piqer:
Daniela Becker
Ein international besetztes Forscherteams hat sich angesehen, wie die Corona-Pandemie den Treibhausgasausstoß in Deutschland und weltweit beeinflusst hat.
Dazu haben die Wissenschaftler*innen detaillierte Daten auf unterschiedliche Weise und aus verschiedenen Quellen gesammelt.
So untersuchten wir beispielsweise die Aktivitäten im Land- und Luftverkehr anhand von Daten von TomTom und iPhone-Richtungsangaben, Aufzeichnungen über den Autobahnverkehr und Flughafenabflüge. Wir verwendeten tägliche Daten, um Veränderungen im Stromverbrauch abzuschätzen. Und wir erstellten einen Index des Niveaus und der Größe der in jedem Land betroffenen Bevölkerung, um die weltweit verfügbaren Daten zu extrapolieren.
schreibt Felix Creutzig, Professor für nachhaltige Stadtökonomie an der TU Berlin, der an der Studie beteiligt war, auf Makronom.
Auf dem Höhepunkt der Krise Anfang April führte die verringerte Aktivität demnach zu einem Rückgang der täglichen globalen Emissionen um 17% im Vergleich zum Tagesdurchschnitt im Jahr 2019.
Der Straßenverkehr trug mit 43% am meisten zum Emissionsrückgang bei. Die nächstgrößten emissionsreduzierenden Bereiche waren der Energiesektor (Elektrizität und Wärme für Gebäude und Industrie) und die Industrie (verarbeitende Industrie und Materialproduktion wie Zement und Stahl). Diese drei Sektoren waren für 86% des Rückgangs der täglichen Emissionen verantwortlich. Der Spitzenwert des täglichen Rückgangs der weltweiten Luftverkehrsemissionen (60%) war der größte der analysierten Sektoren. Der Beitrag des Luftverkehrs zum gesamten Emissionsrückgang betrug jedoch nur 10%, da der Sektor nur 3% der globalen Emissionen ausmacht (hier sind allerdings zusätzliche Erderwärmungseffekte des Flugverkehrs nicht berücksichtigt). Im Wohnsektor wurde ein geringer Anstieg der globalen Emissionen festgestellt, der dadurch zu erklären sein dürfte, dass die Menschen zu Hause bleiben mussten.
Die Tatsache, dass die Welt heute unter „Lockdown”-Bedingungen genauso viel emittiert wie unter normalen Bedingungen vor nur 14 Jahren, unterstreicht den raschen Anstieg der Emissionen in dieser Zeit.
Die Wissenschaftler*innen haben auch bewertet, wie sich die Pandemie auf die Kohlendioxid-Emissionen im restlichen Verlauf des Jahres 2020 auswirken wird. Dies wird natürlich davon abhängen, wie stark die Beschränkungen in den kommenden Monaten ausfallen und wie lange sie andauern. Wenn die weltweit aktivierten Kontakt- und Ausgangssperren Mitte Juni enden, so die Schätzung, werden die gesamten Kohlendioxidemissionen im Jahr 2020 gegenüber 2019 um nur etwa 4% sinken. Wenn für den Rest des Jahres weiterhin schwache Beschränkungen gelten, würde die Reduzierung etwa 7% betragen.
Laut dem Pariser Klimaabkommen und dem UN-Gap-Bericht müssen die globalen Emissionen bis 2030 jährlich um etwa 3% bzw. 8% sinken, um den Klimawandel deutlich unter 2 bzw. 1,5 Grad zu begrenzen. Diese Reduzierung steht im Einklang mit den prognostizierten Emissionsrückgängen in diesem Jahr.
Daher wird die Stabilisierung des globalen Klimasystems Veränderungen in unserem Energie- und Wirtschaftssystem von außergewöhnlichem Ausmaß erfordern – vergleichbar mit den Störungen, die COVID-19 mit sich bringt.
Italien: Wirtschaft ankurbeln mit günstigen Solaranlagen und Gebäudesanierung
piqer:
Daniela Becker
Autokaufprämien für fossile Verbrenner, Staatshilfen für die Flugindustrie – wenn man deutsche Schlagzeilen liest, könnte man fast den Eindruck bekommen, die Wirtschaft ließe sich nur ankurbeln, wenn die Klimakrise weiter verschlimmert wird. Dem ist natürlich nicht so.
Man könnte zum Beispiel erneuerbare Energien und Gebäudesanierungen fördern, wie die italienische Regierung es plant. Diese hat Konjunkturanreize in Höhe von 55 Milliarden Euro bereitgestellt, um die Wirtschaft des Landes wiederzubeleben.
Die Maßnahmen umfassen eine Erhöhung des sogenannten Öko-Bonus für Gebäudesanierungsprojekte von 65 auf 110% und eine Anhebung der Unterstützung für Photovoltaik-Anlagen und Speichersysteme im Zusammenhang mit Renovierungsprojekten von 50% der Kosten auf 110%. Die Maßnahme ist Teil des Decreto Rilancio, eines Richtlinienpakets zur Wiederbelebung der italienischen Wirtschaft als Reaktion auf die Corona-Krise.
Warum das Gesetz zum Kohleausstieg ein schlechter Deal ist
piqer:
Ralph Diermann
Eineinhalb Jahre ist es nun schon her, dass die Kohlekommission ein Konzept für den schrittweisen Ausstieg Deutschlands aus der Kohleverstromung vorlegte. Anfang 2020 goss die Bundesregierung diesen Vorschlag in Gesetzesform. Doch noch hat das Gesetz nicht den Bundestag passiert. Für Zeit-Redakteurin Petra Pinzler eine große Chance: Mit Corona habe sich die Situation grundlegend geändert. Der Kohleausstieg sei jetzt billiger, besser und klimafreundlicher zu haben als mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf.
Der sieht nämlich vor, Betreibern von Braunkohle-Kraftwerken für das Stilllegen ihrer Anlagen eine Entschädigung zu zahlen. Pinzler ist jedoch überzeugt, dass viele der Kraftwerke ohnehin vorzeitig vom Netz gehen werden, da sie schlichtweg nicht mehr wirtschaftlich sind. Das habe sich in den letzten Wochen sehr deutlich gezeigt: Bei viel Wind und Sonnenschein liefen Erneuerbare-Energien-Anlagen auf Hochtouren, was (im Verbund mit einem coronabedingten niedrigem Stromverbrauch) Kohlekraftwerke aus dem Markt drängte. Je mehr Photovoltaik-Anlagen und Windräder zugebaut werden, desto weniger Strom können die Kraftwerke erzeugen (und desto weniger Geld erlösen die Betreiber damit, weil die Öko-Energien die Börsenpreise senken).
Pinzler sieht die Corona-Krise in diesem Punkte als Gelegenheit:
Noch wäre also in der Klimapolitik möglich, was Corona an vielen anderen Stellen bereits ermöglicht hat: politische Flexibilität, ein Neujustieren der Gesetze auf neue Gegebenheiten. Eine Hinwendung der Politik zur Wirklichkeit.
Gibt es „faire“ Plattformarbeit? Neue Studie der TU Berlin und der Universität Oxford
piqer:
Ole Wintermann
In Corona-Zeiten geraten erneut die Matching-Plattformen ins mediale Blickfeld, die einerseits durch ihre Tätigkeit zwar neue Geschäftsmodelle ermöglichen können, andererseits aber auch weite Teile ihrer Tätigkeit einstellen müssen und infolgedessen ‚Beschäftigten‘ keine weiteren Aufträge mehr vermitteln können.
In einer solche Krisensituation ist es natürlich von besonderem Interesse, wenn sich Studien mit der Fairness solcher Plattformen beschäftigen. In diesem Fall haben Forscherinnen der Universitäten Berlin und Oxford die bekanntesten in Deutschland tätigen Plattformen unter die Lupe genommen und ein Fairness-Ranking erstellt. Hierbei standen die Bezahlungen, die Arbeitsbedingungen und die Management-Prozesse im Mittelpunkt der Analyse.
Da die Plattformen in der Regel einen schnellen Einstieg ohne weiterreichende formale Anforderungen ermöglichen, sind sie v. a. auch bei Menschen mit Migrationshintergrund beliebt. Mangelnde Sprachkenntnisse führen aber zugleich zu dem Problem, dass Geschäftsbedingungen nicht ausreichend verstanden werden und im Streitfall die Kommunikation nicht auf Augenhöhe erfolgt. Die Forscherinnen kritisieren zudem den beständigen Versuch der Plattformbetreiberinnen, die ‚Beschäftigten‘ nicht als solche deklarieren zu wollen, um auf diesem Wege bekanntermaßen Sicherungssysteme und deren Kosten vermeiden zu können.
Die Leiterin der Studie, Maren Borkert, betont jedoch zugleich auch, dass der Trend zu einer strengeren arbeitsrechtlichen Auslegung im Sinne der ‚Beschäftigten‘ sowohl in Deutschland als auch international zunimmt.
Mit 9 von 10 erreichbaren Punkten gewinnt „CleverShuttle“ das Fairness-Ranking, wohingegen (erwartungsgemäß?) „Uber“ mit einem Punkt abgeschlagen auf dem letzten Platz landet. Die Corona-Pandemie verschlechtert die finanzielle Situation der Plattformarbeiterinnen weiter: Sie haben keine Möglichkeit, temporär auf Einkommen zu verzichten oder ins Homeoffice zu gehen, sondern sind im Gegenteil in überdurchschnittlicher Weise Kundinnenkontakten ausgesetzt.
Prof. Dr. Stefan Homburg: Auch kluge Köpfe verbreiten Corona-Verschwörungsmythen
piqer:
Simon Hurtz
Bastian Brinkmann braucht nur drei Sätze, um mich anzufixen:
Stefan Homburg ist ein kluger Kopf, er formuliert druckreif und zitiert an der passenden Stelle Aristoteles. Homburg leitet das Institut für Öffentliche Finanzen der Leibniz-Universität Hannover, seine Stimme wird in der wirtschaftspolitischen Debatte gehört. Kurz: Homburg ist kein ungehobelter Covidiot, keiner von denen, die die ganze Corona-Krise für eine irre Verschwörung halten. Aber er tritt vor ihnen auf, sie applaudieren ihm.
In diesem Moment will ich unbedingt weiterlesen. Ich stelle mir eine Frage: Wer ist dieser Mensch?
Der Rest des Textes geht dieser Frage nach. Was bringt Homburg dazu, die Statistiken des RKI als Lüge zu bezeichnen, die aktuelle Situation mit der der Anfangszeit des Nationalsozialismus zu vergleichen und Sätze zu sagen wie: „Für mich sind das Sklaven-Masken, mit denen die Bevölkerung psychisch niedergehalten werden soll“?
Bastian versucht, Homburg zu verstehen:
Homburg kann seine Behauptungen sehr eloquent vortragen und ausführlich darüber reden, für das Gespräch mit der SZ nahm er sich eine Stunde und 45 Minuten Zeit, um viele Punkte zu besprechen.
Allerdings weicht Homburg der entscheidenden Frage aus: Warum hat die Bundesregierung Kontaktbeschränkungen beschlossen, wenn sie doch angeblich weiß, dass das nichts bringt? „Das ist eine Frage für Untersuchungsausschüsse und Staatsanwaltschaften“, sagt er nur und will auch auf Nachfrage keinen Grund nennen.
Diese für sein ganzes Konstrukt so entscheidende Stelle bleibt damit offen. Auch bleibt ohne Erklärung, warum so viele Regierungen der Welt zum gleichen Schluss gekommen sind und auf Kontaktbeschränkungen setzen. Dazu sagt Homburg, dass auch alle in den Ersten Weltkrieg gerutscht wären.
Die Motive von Homburg bleiben deshalb leider undurchsichtig. Glaubt er wirklich, was er sagt? Genießt er den Applaus und die Aufmerksamkeit? Was dieser Text aber leistet, und warum ich ihn hier piqe: Er zeigt am Beispiel von Homburg, wie man die Aussagen und Rhetorik von Verschwörungserzählerïnnen dekonstruieren kann – unaufgeregt, mit Fakten und viel Einordnung.
Diesen Absatz finde ich beispielhaft für die Berichterstattung über Corona-Quatsch und hoffe, dass sich Kollegïnnen daran orientieren:
In seiner Rede schürte er auch Angst vor Impfungen, ein häufiger Bestandteil von Corona-Verschwörungsmythen. Er legte einen Zusammenhang zwischen anderen Impfungen und der Corona-Pandemie nahe und berief sich – ebenfalls typisch für Verschwörungsmythen – auf scheinbare Autoritäten, deren Angaben aber nicht überprüft werden können: Ein norditalienischer Arzt habe ihm gemailt, erzählte Homburg, es habe in Bergamo im Januar Massenimpfungen gegeben. Homburg sagte, das könne ein Grund für den Covid-19-Ausbruch sein, das müsse man mal genauer recherchieren. Verschwörungsmystiker stellen häufig rhetorische Fragen, um Hypothesen öffentlich zu machen, für die es keinerlei belastbare Indizien gibt: Das wird man doch wohl noch fragen dürfen.
Vormarsch der Digitallehre: Privatisierung der Gewinne, Sozialisierung der Verluste?
piqer:
Michael Hirsch
Das fast komplett im Digitalmodus abgehaltene universitäre Sommersemester wirft ein paar grundsätzliche politische Fragen über die Organisation der höheren Bildungsanstalten auf. Sie werden leider bisher nicht an den Universitäten diskutiert, da auch diese sich, wie die Staaten insgesamt, noch immer in einem undemokratischen Ausnahmezustand befinden, der demokratische Debatten erstickt.
Die Dimension dessen, was hier geschieht, ist den meisten kaum bewusst: Sollte sich der Eindruck durchsetzen, dass die Hochschullehre ohne schwerwiegende didaktische und pädagogische Verluste auch im Digitalmodus organisiert werden kann, steht die gesamte personelle Infrastruktur von analoger Hochschullehre und analogen Bibliotheken zur Disposition.
Die ohnehin schon hochprekären Beschäftigungsverhältnisse an den Universitäten könnten sich unter dem zukünftigen Kostendruck (der zum einen aus zurückgehenden Steuereinnahmen, zum anderen aus den immensen Investitionen der Hochschulen in digitale Infrastrukturen wie Zoom resultiert) nochmals verschlechtern.
Mit der Infragestellung der Präsenzlehre ist eine ganze Welt des Lernens und der Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden in Frage gestellt. Damit ist nicht nur ein unermesslicher kultureller Verlust verbunden, sondern auch eine unbarmherzige Logik der sozialen Exklusivität, wie auch ein aktueller Beitrag aus den USA über E-Learning oder Distributed learning zeigt:
„The idea that distributed/digital learning makes things available that were otherwise closed off, and that with some guidance can all be managed in low-cost, custom-tailored, online environments, speaks to the general dismemberment of community in contemporary culture. The new era of “distributed learning”—sited at the intersection of digital capitalism and disaster capitalism—will only weaken the communitarian value of learning as it moves down from professional education to the university, high school, and eventually grade school. It will not open the world to new possibilities, but reformat it—as the basic relationship between knowledge and power has always done—around those with more privileged access and those with less. Distributed learning might make learning even less distributed than ever before.“
Der Autor dieses piqs hat als einer der ganz wenigen in Deutschland vor einigen Tagen einen Teil eines Blockseminars an einer deutschen Hochschule abgehalten, und musste dies dann auf Anweisung des Rektorats beenden. In diesem Zusammenhang hat er umfangreiche Diskussionen mit den Studierenden geführt, die sehr frustriert sind über die Digitallehre. Er ist insofern ganz persönlich betroffen von einer dramatischen Situation, die sich, so wie es im Moment aussieht, mit der absehbaren Fortsetzung des Digitalmodus im kommenden Wintersemester verfestigen könnte. Es könnte im schlimmsten Fall das Ende der Universität als Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden sein. Im glücklichen Fall gelingt uns eine demokratische Debatte über die Idee der Hochschule und die Frage, wie wir die gelebte Utopie des gemeinsamen Forschens und Lehrens vor neoliberaler Sparpolitik und der nivellierenden und sozial ungerechten Macht des Digitalkapitalismus bewahren.
Diese Gründe haben zu Deutschlands digitalem Rückstand geführt
piqer:
Sven Prange
Im Allgäu, dort wie sie Kühe halten und Käse produzieren, da ist die Welt noch in Ordnung. Und das war sie auch, als in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ein Mann den Grundstein für etwas legte, was ein deutsches Digitalwunder hätte werden können: Konrad Zuse. Der Erfinder des ersten Computers begannt die Digitalisierung in einem Allgäuer Käselager. Weil er die Abrechnungen der Käse nicht individuell und händisch erstellen wollte, entwickelt er eine maschinelle Abrechnungsmethode. Daraus entstanden die ersten digitalen Rechner. Diese Perle, inklusive Originalbildern und Zeitzeugen, die Zuse noch kannten, sind das eine Highlight dieses Films. Das andere: die tiefen Einblicke in das, was in Deutschland digital gesehen schon immer da war und doch nur selten genutzt wurde.
Ich bin eigentlich kein Freund dieser Thesen, die so gehen: Deutschland hat hier den Anschluss verloren und Deutschland hat dort den Anschluss verloren. Denn dafür, dass das Land wirtschaftlich angeblich überall lahmt und stockt, steht es dann im internationalen Vergleich ja doch recht gut dar.
Und dennoch ist eine Auseinandersetzung mit verpassten Digitalmöglichkeiten doch irgendwie geboten. Denn begonnen bei der Infrastruktur (was wir derzeit wegen der Corona bedingten Home-Office-Aktivitäten alle nochmal erleben) bis hin zu schicken Anwendungsmöglichkeiten: es gibt schon recht wenig bahnbrechende Digitalideen in dieser vergleichsweise großen und reichen Volkswirtschaft.
Beziehungsweise: Es gab und gibt die Ideen. Sie finden nur selten den Weg ins echte Leben.
Ob das nun im föderalen Kleinklein verpasste Ausbaugelegenheiten für schnelles Internet in der Kohl-Ära sind oder eher nicht so gründungsaffine Rahmenbedingungen in der Zeit danach: Die Geschichte Deutschlands und der Digitalisierung ist eine Geschichte der verpassten Möglichkeiten. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute: Es mangelt damals wie heute nicht an Möglichkeiten. Sondern an der Raffinesse, diese zu nutzen. Und daran lässt sich ja arbeiten.