Vor rund zwei Wochen hat Bernd Lucke in Düsseldorf einen Vortrag gehalten, um die Werbetrommel für seine neue Partei zu rühren. Zwischen 2013 und 2015 hatte Lucke eine große Präsenz in den deutschen, aber auch in den europäischen Medien – er war das Gesicht der eurokritischen, liberal-konservativen Alternative für Deutschland (AfD), die er nach 33 Jahren als CDU-Parteimitglied aus Frust über die Europolitik mitbegründet hatte. Nach einem Machtkampf mit Nationalisten und Rassisten des rechten Parteiflügels, die zunehmend die AfD dominierten, verließen er und andere Mitglieder des liberalen Flügels die Partei und gründeten die Alfa, die Allianz für Fortschritt und Aufbruch.
Bei der letzten Bundestagswahl wollte die Alfa allerdings nicht antreten. Inzwischen hat sie sich in LKR umbenannt, was für Liberal-Konservative Reformer steht, in Anlehnung an die gleichnamige Fraktion im Europaparlament, der Lucke angehört. Sein Mandat hatte er 2014 als AfD-Kandidat geholt.
Ich berichte über diesen parteipolitischen Stuhltanz, weil Luckes Hintergrund und jüngste politische Biografie, und auch sein Düsseldorfer Vortrag und die anschließende Diskussion mit etwa 75 Zuhörern sehr bezeichnend für die aktuelle Gemengelage des deutschen und europäischen Liberalismus, Nationalismus, Euroskeptizismus und Populismus sind.
Ich fange mit dem Positiven an. Der frühere Ökonomieprofessor Bernd Lucke ist sicherlich ein Kenner der europäischen und deutschen Politik, insbesondere wenn es um ökonomische Fragen geht. Er hat ein sympathisches Auftreten und mag konservativ sein, aber ich bin überzeugt, dass er selber nichts mit Rassisten gemein hat – woraus sich die Frage ableitet, warum er sich dann in ihrer Gesellschaft wiedergefunden hat. Ich werde später versuchen, darauf eine Antwort zu geben.
Luckes Euro-Analyse ist nicht weit weg von der in Deutschland (aber nicht international) dominanten Sichtweise. Er entfaltet seine Argumente in wissenschaftlicher Sprache – wenn auch auf sehr einseitige Weise. Ich meine, auch hierfür eine Erklärung zu haben.
Lucke und der Euro
Lassen Sie mich Ihnen einen Eindruck des Lucke´schen Diskurses geben, wobei ich mich auf den Euro konzentriere (er hat ausführlich über das Zuwanderungsthema gesprochen, was ich aber beiseitelassen werde – interessanterweise hat das Thema bei der anschließenden Diskussionsrunde mit dem Publikum auch keine größere Rolle gespielt). Lucke argumentiert, dass Kanzlerin Merkel die Gemeinschaftswährung spätestens 2012 hätte auflösen sollen, als klargeworden sei, dass der Euro nicht erhalten werden könne, ohne die ihm zugrundeliegenden Verträge zu brechen, die die Basis für Deutschlands Beitrittsentscheidung gewesen seien. Er sprach lange über die Target 2-Salden, wobei er sich auf Hans-Werner Sinns populäres Buch Die Target-Falle bezog (Target 2 ist das Zahlungssystem innerhalb der Eurozone, mittels dessen die nationalen Notenbanken Überschüsse und Defizite mit der EZB verbuchen, wenn sie grenzüberschreitende Transfers zwischen Geschäftsbanken vermitteln).
Lucke behauptet, dass die von der Bundesbank gehaltenen Forderungen so groß seien, dass sie im Falle eines Auseinanderbrechens der Eurozone nicht mehr bedient werden könnten – und ein Zusammenbruch sei sehr wahrscheinlich, weil die EZB sich an die unbegrenzten Anleihenkaufprogramme (QE) gebunden hätte, um Probleme zu lösen, die aber letztlich Ausdruck mangelnder Wettbewerbsfähigkeit wären. Lucke meint, dass diese de facto monetäre Finanzierung von Staatsausgaben ab einem gewissen Punkt inflationär sein wird: Das QE-Programm, das den Euro am Leben hält, würde dann beendet werden.
Lucke hat zwar einige Gerichtsprozesse in dieser Frage verloren, spricht aber weiterhin von „illegaler“ monetärer Finanzierung – deren Hauptprofiteure Spanien und Italien seien: Eine ökonometrische Studie von „Kollegen“, die er in Auftrag gegeben habe, hätte dies klar gezeigt. Sein Vortrag ließ die Zuhörer mit dem eindeutigen Eindruck zurück, dass der Euro in der Mülltonne der Geschichte enden würde, ohne allerdings ein klares Statement abzugeben, was Deutschland tun müsse, um dieses Ende zu beschleunigen oder das bestmögliche Ergebnis zu erzielen.
Nicht alle diese Punkte sind komplett unvernünftig. Dass die Architektur der Eurozone unzureichend ist und verändert werden muss, steht außer Frage. Dennoch hat Luckes Analyse deutliche Schwächen, von denen ich die offensichtlicheren kurz aufzeigen will.
Luckes Schlussfolgerung, dass die Währungsunion für immer und ewig innerhalb des vor ihrer Gründung gesteckten Rechtsrahmens operieren müsse, ist – vorsichtig formuliert – auf keinen Fall unausweichlich. Warum sollten die Mitgliedstaaten und europäischen Institutionen nicht den Rechtsrahmen verbessern, wenn sich der alte als eindeutig suboptimal herausgestellt hat? Das wäre doch der normale Verlauf einer institutionellen Entwicklung: Der US-Dollar hat eine jahrhundertelange institutionelle Geschichte und wurde währenddessen erheblich verändert.
Für einen orthodoxen deutschen Ökonomen ist es schon etwas merkwürdig, dass Lucke das Mandat der EZB kein einziges Mal erwähnt hat – weder dass die EZB ihr Inflationsziel „von unten“ verfehlt, noch dass die QE-Programme eine Politik sind, die alle Zentralbanken auf der Welt im Angesicht der Krise verfolgt haben, und alles andere als ein hinterhältiger Plan sind, der in irgendwelchen südeuropäischen Finanzministerien ausgeheckt wurde.
Lucke unterließ es zudem darauf hinzuweisen, dass der Aufbau der Target 2-Forderungen durch die Bundesbank anfänglich größtenteils auf die Finanzierung der deutschen Exportüberschüsse gegenüber anderen Eurostaaten zurückzuführen war. In Deutschland wären Jobs verloren gegangen und Profite geschmälert worden, hätte es diese Art der Finanzierung nicht gegeben. Lucke enthielt seinem Publikum auch vor, dass auf die Bundesbank nur etwa ein Viertel der denkbaren Verluste entfallen würden, weil diese nach dem EZB-Kapitalschlüssel verteilt werden. Er verschwieg zudem, dass Hans-Werner Sinn zwar für sich reklamieren kann, die Target-Debatte gestartet zu haben – und in Deutschland als Autor populärwissenschaftlicher Bücher sehr bekannt sein mag –, aber internationale Geldpolitik-Experten Sinns Ansichten sehr kritisch gegenüberstehen.
Und nicht zuletzt war es kein hinterhältiger Trick, dass die Vorzüge von QE überproportional Ländern wie Spanien und Italien zugutekamen, sondern ist vielmehr darauf zurückzuführen, dass die Zinsen in diesen Ländern während der Krise extrem angestiegen waren, während Deutschland damals durch die Flucht in den „sicheren Hafen“ überproportional von den sinkenden Zinsen profitierte – was im Übrigen ein wesentlicher Faktor beim Erreichen der „Schwarzen Null“ war.
Mit anderen Worten: Lucke versuchte, sein Standing als Ökonom durch seine Kenntnisse der akademischen Forschung und wissenschaftliche Evidenz zu erhöhen. Gleichzeitig regte er den Appetit seiner Zuhörer durch geldpolitische Verschwörungstheorien an, spielte mit ihren Ängsten (z. B. vor Inflation und Altersarmut) und schürte ihre Ressentiments gegenüber durchtriebenen Südeuropäern und deutschen Politikern. Seine Analyse war nicht komplett falsch, aber indem er wesentliche Fakten und Argumente ausließ und die gemeinsame Währung als Nullsummenspiel skizzierte, das zu Deutschlands Nachteil gespielt würde, zeichnete er ein extrem verzerrtes Bild.
Freunde wie diese
Allerdings war ich vermutlich der einzige Zuhörer, der das so sieht. Mehr noch: Es wurde in der anschließenden Diskussionsrunde schnell offenkundig, dass der Appetit und auch die Ressentiments des Publikums viel größer waren als das, was der frühere Ökonomieprofessor bedienen wollte. Die meisten Teilnehmer – etwas überdurchschnittlich älter und männlich – waren extrem besorgt wegen der Target-Salden und dem QE-Programm, die sie als nichts weniger als Ausbeutung ansahen. Viele schienen Sinns Polemik und andere geldpolitische Analysen von noch dubioserer Qualität gelesen zu haben. Weimar wurde mehr als einmal erwähnt.
Sie hungerten nach einer hasserfüllteren Anklage der Target 2-Ungerechtigkeiten – Lucke zögerte und versuchte, den Unterschied zwischen echten Ressourcen und nur auf dem Papier bestehenden zu erklären. Einige fragten nach einem Fahrplan, mit dem Deutschland aus dem Euro aussteigen könne – Lucke wich aus. Sie forderten eine Unterstützungserklärung für den Brexit – Lucke sagte, der Brexit wäre ein Fehler. Dann wurde eine Behauptung aufgestellt, die ich zum ersten Mal hörte, aber dann entdeckte, dass sie in der euroskeptischen deutschen Rechten ein heißes Thema ist: Einer bat Lucke zu erklären, warum Deutschland sein Vetorecht verlieren würde, wenn die Briten aus der EU austreten – Lucke sprach über die undurchsichtigen Stimmrechte des Europäischen Rates und erklärte, dass Deutschland nicht „sein“ Veto verlieren würde, aber dass dies tatsächlich ein ernsthaftes Thema wäre und „etwas“ dagegen getan werden müsse.
Zum Schluss wurde Lucke von einem jüngeren Mann mit Kurzhaarschnitt, den das Thema sichtlich erregte, gefragt, warum er die AfD, also die einzige ernsthafte Partei, für die Unterstützer der Rechten stimmen könnten, durch seinen Austritt geschwächt habe – Lucke sagte, er stimme der Islamophobie nicht zu, wäre für den Freihandel und die Mitgliedschaft in EU und Nato.
Kurz gesagt: Bernd Lucke versucht, das nationalistisch-populistische Spiel zu spielen. Er bestellt das Feld für soziale oder persönliche Ressentiments, er bietet einen externen Blitzableiter (Euro/EU, Wirtschaftsflüchtlinge) für die Frustration der Menschen an, deren Ursachen aber mehr mit ihnen selbst oder mit der heimischen Politik zu tun haben.
Aber er ist darin nicht besonders gut. Seine Aussagen locken Rechte, Nationalisten und geldpolitische Verschwörungstheoretiker an. Das galt in der AfD, und es gilt auch heute. Aber Lucke befriedigt diese Menschen nicht. Für sie ist Lucke zu detailversessen. Sein professoraler Hintergrund (und der als Mitglied des Europaparlaments) ist Segen und Fluch zugleich: Er verleiht ihm Ansehen und ermöglicht es ihm, ein komplexes (aber einseitiges) Bild zu zeichnen. Aber Lucke ist dann doch zu gewissenhaft, um unverblümt Lügen zu erzählen oder „vernünftigen“ ökonomischen Prinzipien zuwiderzuhandeln. Ich bin mir sehr sicher, dass er es vorzog, mit mir zu diskutieren als sich auf manche seiner Unterstützer einzulassen. Und was für seinen politischen Erfolg am problematischsten ist: Er weigert sich, simple und radikale Lösungen zu befürworten. Seine Rede wurde gut aufgenommen – aber die anschließende Debatte hat viele enttäuschte Anhänger zurückgelassen.
Ein bevölkerter Marktplatz
Bernd Lucke hat die CDU nach mehr als drei Jahrzehnten verlassen und sein seitdem praktiziertes parteipolitisches Speeddating kann man durchaus als symptomatisch für die jüngste Welle von Neuausrichtungen der Rechten in der europäischen Politik ansehen. Die früheren Mitte-Rechts-Volksparteien sind stark unter Druck geraten, wenn auch in den meisten Ländern weniger dramatisch als ihre Mitte-Links-Gegenstücke, die Sozialdemokraten.
In Deutschland hat die CDU durch ihre Bewegung zur Mitte eine Lücke für Positionen wie die von Lucke aufgetan. Aber es ist eine kleine Lücke: Es gibt schlichtweg nicht genug Ökonomen mit einer Obsession für Moral Hazard und anreizkompatible Regeln – nicht einmal in Deutschland. Auch wenn man noch ein paar Führungskader oder Freiberufler und zinsfixierte Inflationsphobiker mit in den Topf wirft, reicht das nicht aus. Die ökonomische Situation in Deutschland ist zu gut, um die Verbitterung auf ein Niveau zu heben, auf dem Mainstream-Konservative anderen Parteien den Rücken kehren. Teile der Arbeiterschaft mögen nach rechts gerutscht sein und werden dies vielleicht auch weiterhin tun – aber sie wollen Schutz und Protektionismus, und keinen Neoliberalismus.
Außerdem gibt es im rechten Spektrum jede Menge Wettbewerb. Spätestens seit der Absage der FDP an eine Jamaika-Koalition ist klar, dass die Parteiführung um Christian Lindner neben den traditionellen liberalen Milieus auch die nicht offen rassistischen Elemente der nationalistischen Rechten ansprechen will. Luckes LKR ist ein Vogel, der – zumindest unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen – nicht fliegen kann. Währenddessen hat die Unterstützung für Luckes alte Partei weiter zugenommen, die AfD ist die drittstärkste Kraft im Bundestag.
Lucke, seine Professorenkollegen und manche Neoliberale dachten, sie könnten den populistisch-nationalistischen Tiger reiten. Aber Ressentiments zu schüren ist ein gefährliches Spiel und sie wurden böse gebissen. Vielleicht wird Bernd Lucke bald einer vierten Partei beitreten, der FDP. Währenddessen läuft der Tiger weiterhin frei herum.
Zum Autor:
Andrew Watt ist Referatsleiter europäische Wirtschaftspolitik und stellvertretender Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung. Außerdem betreibt er den Blog €-Vision, wo Sie eine englische Version dieses Beitrags finden.