Franziska Dorn und Simone Maxand haben in der Vorwoche einen Makronom-Beitrag der trügerischen wirtschaftspolitischen Attraktivität des Durchschnitts gewidmet. Sie argumentieren, dass wir immer mehr dazu übergegangen sind, gesellschaftlichen Fortschritt oft nur noch über Durchschnittswerte zu beschreiben. Jedoch trägt dies zu einer falschen Wahrnehmung bei, da die Spitzen und Ausschläge, die Extremata und Ungleichheiten, dadurch weitestgehend ausgeblendet werden. Durchschnittswerte vermitteln Stabilität durch das Verschleiern grundlegender sozialer und regionaler Unterschiede. Doch genau diese Unterschiede sind es, die darüber entscheiden, ob Menschen von einer Transformation profitieren oder von ihr abgehängt werden, ob Regionen widerstandsfähig gegenüber Veränderung oder dem wirtschaftlichen Zerfall ausgeliefert sind und ob Klimaschutz sozial tragfähig organisiert werden kann oder politische Widerstände erzeugt.
Der Durchschnittswert ist in der Tat gerade in gesellschaftlichen Entwicklungen, welche nicht mehr auf linearen Pfaden verlaufen, sondern von ökologischen Grenzen, geopolitischer Unsicherheit, technologischen Sprüngen und demografischen Verschiebungen geprägt sind, ein schlechter Ratgeber. Die Realität beugt sich keinem Durchschnitt und ist gerade in unsteten Zeiten von Ausreißern geprägt. Es braucht daher nicht nur die Daten und Methoden, wie Dorn und Maxand argumentieren, sondern auch die politischen Institutionen müssen in der Lage sein, diese Komplexität und Widersprüchlichkeiten zu ver- und bearbeiten. Das bedeutet auch, die Anforderungen an den öffentlichen Sektor und seine Verwaltungen zu erhöhen.
Der lernfähige Staat
Ein Staat, der im politischen Diskurs vor allem an Effizienz, Kostensenkung und „Schlankheit“ gemessen wird, stößt strukturell und funktional an die Grenzen im Umgang mit disruptiver Veränderung. Vielmehr braucht es koordiniertes Handeln, die Fähigkeit, strategisch und kooperativ zu planen, sowie die Förderung von lernfähigen Strukturen. Es braucht nicht weniger Aufgaben, sondern mehr Fähigkeiten. Dazu zählen qualifiziertes Personal, experimentier- und lernfähige Verwaltungen, verlässliche Rechtsstrukturen und Institutionen. Solche „State Capacities“ und „State Capabilities“ bilden gemeinsam das Fundament, auf dem sich ein zukunftsfähiger Staat überhaupt erst entfalten kann. Für den öffentlichen Sektor und die Verwaltungen sind sie die Grundlage dafür, in Phasen tiefgreifenden Wandels überhaupt gut handeln zu können.
Ein Staat, der lernfähig ist, unterscheidet sich fundamentaler von traditionellen Verwaltungsvorstellungen als jede Effizienzreform. Er reagiert nicht bloß auf Ereignisse, sondern arbeitet mit Szenarien und Zukunftsbildern. Er beschränkt sich nicht auf strikte Regelbefolgung, sondern schafft Räume für Innovation und Anpassung. Er verwaltet nicht nur, sondern gestaltet aktiv. Er ersetzt die Illusion vollständiger Planbarkeit durch die Fähigkeit, Orientierung zu geben, Unsicherheit zu managen und Erfahrungen produktiv auszuwerten. Das Ziel ist nicht Perfektion, sondern Anpassungsfähigkeit.
Gerade die sozial-ökologische Transformation macht deutlich, wie zentral robuste staatliche Fähigkeiten für politischen Erfolg sind. Klimapolitik erschöpft sich nicht in ambitionierten Zielen. Sie verlangt eine Verwaltung, die komplexe Infrastrukturprozesse steuern und unterschiedliche Akteure zusammenbringen kann. Auch die Energiepolitik funktioniert nicht allein über Preissignale. Sie braucht Institutionen, die Versorgungssicherheit, soziale Fairness und langfristige Investitionspfade gleichzeitig im Blick behalten. Ähnliches gilt für eine vorausschauende Industrie- und Strukturpolitik, in der der Staat strategische Entscheidungen über Zukunftsmärkte und Technologien trifft und regionale Ungleichheiten abfedert. Am Ende des Tages entscheidet die konkrete Umsetzung der Politiken über Erfolg und Misserfolg, und die Qualität der Umsetzung ist dabei eine Frage staatlicher Fähigkeiten und Kapazitäten.
Eine zeitgemäße Reform des Staates richtet sich daher nicht auf dessen Reduktion und nicht auf den Durchschnitt, sondern auf dessen Erneuerung und den strategischen Umgang mit Disruption und Extrema. Dabei geht es nicht nur um Daten und Methoden, sondern darüber hinaus auch um Qualifikation, strategische Steuerung, Datenkompetenz, Kooperation zwischen Ressorts und mit externen Akteuren. Verwaltungen müssen nicht nur reagieren, sondern sie müssen aktiv gestalten. Es geht schlussendlich um die Fähigkeit, komplexe Entwicklungen zu erkennen und politische Entscheidungen kontinuierlich anzupassen. Nicht schlanker, aber fähiger. Effektiv, effizient und resilient. Nicht verwaltend, sondern gestaltend und letztendlich lernend. Nicht anhand von Durchschnittswerten, sondern anhand der realen Ungleichheiten, unterschiedlichen Dynamiken und unter Unsicherheit.
Zum Autor:
Michael Soder ist Ökonom in der Abteilung Wirtschaftspolitik der Arbeiterkammer Wien mit Schwerpunkt grüner Strukturwandel, Industriepolitik, Forschung, Technologie und Innovation. Er lehrt an der Wirtschaftsuniversität Wien und der Hochschule Campus Wien. Seine aktuellen Bücher Eine grüne Revolution: Eine neue Wirtschaftspolitik in Zeiten der Klimakrise (2024) und Hitzige Debatten: Wie der Streit ums Klima unsere Gesellschaft spaltet und was wir dagegen tun können (2025) sind im Verlag des ÖGB erschienen.







































