Wirtschaftspolitik

Der falsche Paradigmenwechsel

Der Staat interveniert immer stärker in die Wirtschaft. Doch Freude über einen ökonomischen Paradigmenwechsel wäre verfrüht. Ein Beitrag von Samuel Decker.

„Der Staat ist zurück“: Mit dieser Botschaft meldeten sich Anfang 2022 viele Wirtschaftskommentatoren zu Wort. Der Energiepreisschock in Folge des russischen Angriffskriegs löste – vor allem angestoßen durch die Ökonomin Isabella M. Weber – eine Diskussion über Preiskontrollen aus, die schließlich in die Energiepreisbremse mündete.

Auch die Verstaatlichung des Gasriesen Uniper und die Diskussion von Übergewinnsteuern erzeugten in dieser Zeit den Eindruck einer Verschiebung des ökonomischen Paradigmas – weg von „der Markt regelt das“ und hin zu „der Staat muss es richten“. Bereits beim Ausbruch der Covid19-Pandemie zwei Jahre zuvor musste der Staat zu unkonventionellen wirtschaftspolitischen Maßnahmen greifen. Deutschland akzeptierte in dieser Zeit sogar eine einmalige gemeinsame Verschuldung der EU-Mitgliedsländer als Grundlage für den EU-Wiederaufbaufonds.

Der Eindruck einer neuen, pro-aktiven Rolle des Staates erhärtete sich auch durch die industriepolitische Wende in den USA, die durch den im Sommer 2022 verabschiedeten Inflation Reduction Act eingeläutet wurde. Passend zur wirtschaftspolitischen Debatte dieser Zeit sprach der Thinktank „Forum for a New Economy“ in einer Anfang 2023 veröffentlichten Studie von einem „sozio-ökonomischen Paradigmenwechsel“. Die Studie zeichnet nach, wie sich internationale Wirtschaftsorganisationen, etwa die OECD oder die Weltbank, mehr und mehr vom neoliberalen Dogma verabschiedeten. Außerdem verweist sie auf erfolgreiche Top-Ökonom*innen wie Isabella M. Weber, Mariana Mazzucato oder Dani Rodrik, die auf unterschiedliche Weise für eine neues Wirtschaftsparadigma mit dem Staat als zentralem Akteur plädieren.

Die Studie und auch der begleitende Artikel von Thomas Fricke im Makronom versprühen dabei einiges an Optimismus. Die Rückkehr des Staates ist mehr als nur eine Modeerscheinung, heißt es darin. „Bidenomics“ in den USA, Klima-Sonderfonds in Deutschland, Debatten um eine Vier-Tage-Woche in Großbritannien oder Experimente für kostenlosen ÖPNV werden als Beispiele eines progressiven Paradigmenwechsels genannt.

Autoritäre Zeitenwende in Deutschland

Doch mittlerweile mehren sich die Anzeichen, dass der Optimismus verfrüht gewesen sein könnte. Am 15. November 2023 kippte das Bundesverfassungsgericht die Sondervermögen der Bundesregierung. Wichtige industriepolitische Maßnahmen der Ampel-Koalition gerieten dadurch ins Stocken. Auch die Ansiedlung von Intel in Magdeburg, die von Anfang an von Managemententscheidungen, und nicht von Regierungshandeln abhing, wurde zuletzt auf Eis gelegt. Wesentliche progressive Politikvorhaben von Grünen und SPD scheiterten am Widerstand des FDP-Finanzministeriums oder waren bereits zuvor versandet.

Mit dem Streit um die Kindergrundsicherung, die noch immer auf ihre Umsetzung wartet, nahm etwas seinen Anfang, was Christoph Butterwegge als „sozialpolitische Zeitenwende“ der Ampel-Koalition bezeichnet. Dieser Politikwandel führt nicht weg von der neoliberalen Doktrin, sondern auf geradem Weg zu ihr zurück. Nachdem der Bürgergeldbonus nur wenige Monate nach seiner Einführung gestrichen wurde, wurden die Hartz IV-Sanktionen durch die Hintertür wieder ins Bürgergeld hineinverhandelt. Für Geflüchtete wurden umfassende Sozialkürzungen auf den Weg gebracht und Bezahlkarten eingeführt, was als Schritt in Richtung eines „autoritären Sozialstaats“ (Claudius Vogt) begriffen werden kann.

Die im Juli 2024 von der Ampel verkündete neue Wachstumsinitiative liest sich derweil über weiter Strecken als „Wunschzettel deutscher Unternehmer- und Bankenverbände“. Immer offener bringt die FDP den Koalitionsbruch ins Spiel, wenn die Ampel harten Sparmaßnahmen und ihrer Klientelpolitik für Gutverdienende und Unternehmen nicht zustimmt. Damit hat die FDP den Grundstein für einen neoliberalen Wirtschaftswahlkampf gelegt – ein progressiver Paradigmenwechsel sieht anders aus.

Allgemein war die „Zeitenwende“ von Anfang an kein progressives Projekt, sondern stand im Zeichen der neuen militärischen Aufrüstung und des rauer werdenden gesellschaftlichen Klimas. Während die FDP oder die CDU ganz unverhohlen Sozialkürzungen mit dem Verweis auf notwendige Rüstungsausgaben ins Spiel bringen, stimmen mittlerweile auch SPD und Grüne den bislang schärfsten Asyl- und innenpolitischen Gesetzesverschärfungen zu.

Verwoben mit der „Verrohung der Mitte“ findet ein beispielloser Rechtsruck statt, der sich in Wahlergebnissen von knapp 30% für die rechtsextreme Alternative für Deutschland in den ostdeutschen Landtagswahlen im Herbst 2024 widerspiegelt. Die sozialpolitische Agenda der AfD steht bekanntlich in Kontinuität mit neoliberalen wirtschaftspolitischen Leitsätzen. Auch der neue politische Akteur „Bündnis Sarah Wagenknecht“ setzt keine nennenswerten progressiven sozial- und wirtschaftspolitischen Impulse, sondern stimmt in den rechten Kulturkampf ein.

Ambivalente Industriepolitik in den USA

Der historische Rechtsruck ist, wie bei den Europa-Wahlen deutlich wurde, kein auf Deutschland beschränktes Phänomen. Etwas Größeres scheint ins Rutschen geraten zu sein. Vieles spricht dafür, dass die unterbewusste Wahrnehmung, dass sich die Klimakrise und geopolitische Umwälzungen nicht mehr produktiv politisch bearbeiten lassen, in eine regressive Stimmung umschlägt, von der rechte Kräfte profitieren.

Zwar ist die Beobachtung richtig, dass die marktliberale Globalisierungseuphorie lange gebrochen ist und vielerorts einem staatsinterventionistischen Wirtschaftsparadigma weicht. Doch die Charakterisierung dieses wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsels als „progressiv“ verkennt die tieferen Dynamiken, in welche dieser Paradigmenwechsel eingebettet ist. Das lässt sich nicht zuletzt anhand der Wirtschaftspolitik in den USA, die vielen progressiven Ökonom*innen hierzulande als leuchtendes Vorbild dient, verdeutlichen.

Zwar ist völlig unbestreitbar, dass unter der Biden-Administration ein wirtschaftspolitischer Paradigmenwechsel stattgefunden hat. Der Infrastructure and Jobs Act (verabschiedet 2021), der CHIPS and Science Act und allen voran der Inflation Reduction Act (beide von 2022) haben gewaltige öffentliche oder öffentlich inzentivierte Investitionen in Infrastrukturen, grüne Technologien und Halbleiterproduktion auf den Weg gebracht.

Die Feststellung, dass ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat, sagt jedoch noch nicht viel über dessen nachhaltige sozialpolitische und ökologische Errungenschaften aus. So stellte der Ökonom James Galbraith in einem Artikel für The Nation fest, dass es Millionen von amerikanischen Haushalten heute ökonomisch schlechter geht als vor der Biden-Administration. Die grundlegenden Lebenshaltungskosten, wie Benzin, Versorgungsleistungen, Lebensmittel und Wohnraum, sind stärker gestiegen als ihre Einkommen. Anstatt sich, wie beispielsweise Paul Krugman in der New York Times, darüber zu wundern, weshalb sich viele Menschen trotz der positiven ökonomischen Entwicklung nicht dankbarer in ihrem Wahlverhalten zeigen, empfiehlt Galbraith, die Unzufriedenheit der Menschen ernst zu nehmen.

Auch die umfassenden industriepolitischen Initiativen sind hinsichtlich ihres progressiven Gehalts mit Vorsicht zu genießen. Obwohl die Investitionen des IRA in saubere Energie historisch beispiellos sind, scheinen sie nicht auszureichen, um eine schnelle Dekarbonisierung voranzutreiben und bleiben deutlich hinter dem Ziel einer 40-prozentigen Reduzierung der Treibhausgasemissionen bis 2030 zurück (French 2024). Die Rendite privater Investitionen reicht weiterhin nicht aus, um die rapide Transformation des Energiesystems zu bewerkstelligen.

Der IRA besteht im Wesentlichen aus Steuergeschenken für ausgewählte Sektoren und Unternehmen, die jedoch keine tiefgreifende und langfristige Veränderung der privaten Investitionsstrukturen zur Folge haben müssen, und die obendrein nicht automatisch die Situation der Lohnabhängigen verbessern. In einzelnen Bereichen, etwa der E-Auto Branche, entstehen neue Jobs mit schlechterem gewerkschaftlichen Organisierungsgrad. Insgesamt ist der Organisierungsgrad unter der Biden-Administration weiter abgesunken, auf gerade einmal 10% (in Deutschland liegt er derzeit bei etwa 17%), während der Protecting the Right to Organize Act auf politischer Ebene ins Stocken geraten ist. Durch den IRA konnte die Biden-Administration die massiven Subventionsprogramme für Unternehmen in ein neues Gesetz hinüberretten, nachdem die Build Back Better-Initiative gescheitert war. Für die ursprünglich vorgesehenen umfassenden Sozialprogramme von Build Back Better galt das jedoch nicht.

Alles in Allem zeigt sich, dass die „Bidenomics“ an den grundlegenden Kräfteverhältnissen in den USA nichts geändert haben bzw. die Biden-Regierung sich mit diesen arrangiert hat. In Ermangelung einer mächtigen Gewerkschaftsbewegung und linker Organisationen, die eine aggressivere Umverteilung oder eine ernsthafte Industriepolitik in Richtung einer öffentlichen Wirtschaftsplanung durchsetzen könnten, bewegen sich die Versuche der Biden-Regierung, die Wirtschaft zu lenken, innerhalb der immer engeren Grenzen dessen, was für das Kapital akzeptabel ist.

Gerade gemessen an europäischen Standards ist der US-amerikanische Wohlfahrtsstaat noch immer völlig unzureichend. Während Franklin D. Roosevelt eine Kampfansage an die großen Unternehmen machte, geht es heute um einen Deal, der bestimmte Kapitalfraktionen bevorteilt und dabei auch in die geopolitische und ökonomische Konkurrenz mit China eingreift. Auch die Präsidentschaftskandidatin der Demokraten, Kamala Harris, würde im Falle eines (alles andere als sicheren Wahlsieges) diese geopolitisch aufgeladene Subventionspolitik für große Unternehmen weiterführen. Ein tiefer greifender Paradigmenwechsel, der die Interessen von „Arbeit“ grundlegend über die Interessen von „Kapital“ stellt, ist nicht zu erwarten und wäre im Rahmen der bestehenden Kräfteverhältnisse in den USA auch unwahrscheinlich.

Ein progressiver Wirtschaftswahlkampf?

Will man die stattfindenden wirtschaftspolitischen Verschiebungen angemessen beurteilen, zeigt sich also ein komplexes Bild. Blinder Optimismus im Sinne von „Hurra, der Staat ist wieder da“ wäre sicherlich verfehlt. Gerade angesichts des Rechtsrucks, der in den USA schon viel weiter fortgeschritten ist als in Europa, aber auch der sich massiv beschleunigenden Klimakatastrophe, wirkt Optimismus allgemein fehl am Platz. Die Zuname staatlicher Interventionen geht vielfach nicht mit grundlegenden sozialen, ökologischen und politischen Verbesserungen einher. Der neue Staatsinterventionismus ist daher aus einer progressiven Perspektive nicht per se gutzuheißen. Zugleich wäre es auch unangemessen, die progressiven Bestandteile und Potenziale, insbesondere der Industriepolitik in den USA, zu ignorieren.

In Deutschland ist derweil zu befürchten, dass wir auf einen rechten Wirtschaftswahlkampf zusteuern, gepaart mit asylpolitischer Stimmungsmache. FDP und CDU werden die schlechte Wirtschaftslage als Argument für neoliberale Politikrezepte ins Feld führen und zeitgleich den Sozialstaat gegen den Bundeswehr-Etat ausspielen. Es ist fraglich, ob Grüne und SPD dem progressive wirtschaftspolitische Konzepte entgegenstellen werden.

Dabei wäre ein progressiver Wirtschaftswahlkampf das Einzige, was die politisch verhängnisvolle Polarisierung zwischen der AfD und allen anderen Parteien aufbrechen und eine neue Polarisierung entlang der Achse progressive vs. neoliberale Wirtschaftspolitik erzeugen würde. Damit würde der AfD ihre Rolle als einzig wahrnehmbare oppositionelle Stimme im politischen „Weiter-So“ abhanden kommen. Stattdessen müsste sie sich für ihre extrem arbeitnehmerfeindlichen Politikvorstellungen rechtfertigen.

Nicht nur die Reform bzw. faktische Abschaffung der Schuldenbremse, sondern eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer und weitreichende Umverteilungsmaßnahmen zur Finanzierung wichtiger Investitionen in die Zukunft und zur spürbaren Verbesserung der Lebenssituation breiter Bevölkerungsschichten müsste dafür auf dem Programm stehen. Das Programm des Nouveau Front Populaire (NFP) in Frankreich kann dabei als Vorbild dienen.

Das Beispiel des NFP zeigt zugleich das Dilemma, in dem progressive Politik in Deutschland steckt. Mit der extrem schwachen Linkspartei und dem nach rechts abgewanderten BSW gibt es keine progressive Machtoption. Ein progressives Projekt, das unter Hegemonie eines Mitte-Links-Bündnisses dem fortschreitenden Rechtsruck mit progressiver Wirtschaftspolitik den Kampf ansagt, ist daher aus machttaktischen Gründen für Grüne und SPD nicht erfolgsversprechend.

In dieser Situation kommt dem zivilgesellschaftlichen Ökosystem für progressive Wirtschaftspolitik eine hervorgehobene Aufgabe zu, um Forderungen Gehör zu verschaffen, die Grüne und SPD nur zaghaft oder gar nicht in die Debatte einbringen werden. Vor allem Forderungen nach einer Millionärssteuer und massiven Zukunftsinvestitionen unter Beiseitedrängen der Schuldenbremse haben das Potenzial, den Fokus der gesellschaftlichen Debatte weg von Migrations- und hin zu Wirtschaftsthemen zu lenken, die gesellschaftlich polarisieren und progressiven Kräften Aufwind verleihen können.

 

Zum Autor:

Samuel Decker arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Netzwerk Plurale Ökonomik und ist Mit-Herausgeber des Buches „Advancing Pluralism in Economics“ (Routledge 2019).