Analyse

Ohne strategische Industriepolitik geht es nicht

Die industriepolitischen Initiativen der EU und der USA stecken noch in den Kinderschuhen – und welche Wege dabei erfolgreich sind, ist bisher kaum abzuschätzen. Dies darf allerdings nicht als Vorwand dafür gelten, nun auf die industriepolitische Bremse zu treten.

Industriepolitik steht wieder öfter im Fokus der wirtschaftspolitischen Diskussion. Dies ist vor allem getrieben durch umfangreiche industriepolitische Maßnahmen, die zuletzt in den USA im Inflation Reduction Act und in der EU im Net Zero Industry Act gebündelt wurden. Sie sehen u.a. eine Vielzahl von Subventionen und Steuererleichterungen zur Entwicklung und zum Aufbau von Hightech-Produktionsanlagen vor. Es handelt sich auch um selektive Eingriffe in bestimmte Industriebranchen, oft nur für einzelne oder wenige Unternehmen und somit um vertikale Industriepolitik (Rodrik 2014). Im Unterschied dazu gestaltet die weniger umstrittene horizontale Industriepolitik die allgemeinen Rahmenbedingungen für die Entwicklung industrieller Strukturen etwa im Rechts- oder Bildungssystem.

Der Bedarf an technologiepolitischen Eingriffen leitet sich dabei aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht aus unterschiedlichen Arten des Marktversagens ab (Fritsch 2018). So müssen aufgrund von Unteilbarkeiten häufig bestimmte Mindestgrößen von Forschungs- und Produktionsaktivitäten erreicht werden, um technologische Fortschritte zu erzielen. Darüber hinaus hat die Erzeugung von technologischem Wissen in der Regel positive externe Effekte. Über Marktanreize allein würde also das technologische Potential nicht ausgeschöpft werden. Entsprechend sind technologiepolitische Eingriffe des Staates bei Vorliegen von Spillovereffekten, Netzwerkexternalitäten oder Pfadabhängigkeiten in der Entwicklung und Umsetzung neuer Technologien unabdingbar (Mazzucato 2015).

Industriepolitik im Umfeld neuer gesellschaftlicher Herausforderungen

Neu ist in den letzten Jahren die engere Verbindung von industriellem Strukturwandel und gesellschaftlichen Entwicklungszielen im Zusammenhang mit großen Herausforderungen etwa in der Sicherheits-, der Gesundheits- sowie der Umwelt- und Energiepolitik. Die Industrie kann zur Erreichung der gesellschaftlichen Ziele in verschiedenen Politikbereichen entscheidend beitragen und muss dazu in kurzer Zeit in großem Umfang in neue, oft noch nicht ausgereifte und erprobte Technologien, etwa in den Bereichen Halbleitertechnologie, Datenspeicher, Künstliche Intelligenz, Energietechnik und Biotechnologie/Gentechnik investieren. Damit verbunden sind außerordentliche systemische Risiken, weil ganze Wertschöpfungsketten neu entstehen oder bestehende radikal verändert werden. In vielen Fällen können einzelne, auch sehr große private Investoren diese Risiken nicht tragen (Belitz, Gornig 2021).

Die Coronakrise und der Krieg Russlands gegen die Ukraine haben zudem die Risiken einseitiger Abhängigkeiten von ausländischen Lieferanten von Rohstoffen und Vorleistungen sowie der Unterbrechungen internationaler Wertschöpfungsketten deutlich gemacht. Nicht zuletzt die Spannungen zwischen China und Taiwan oder der Nahostkonflikt zeigen weitere Gefahren für sichere globale Lieferketten. Die Sicherung resilienter Wirtschaftsabläufe verlangt deshalb sowohl den Aufbau stärker verteilter Lieferantennetzwerke als auch die Erhöhung der regionalen Eigenproduktion entscheidender kritischer Rohstoffe und Vorprodukte wie z.B. Halbleiter.

Strategische Industriepolitik verbindet Technologie- und Investitionspolitik

Mazzucato (2013) fordert, die Innovationspolitik des Staates generell an gesellschaftlichen Zielen zu orientieren und dabei Missionen zu verfolgen, anstatt nur einzelne Sektoren, Unternehmen oder Technologien zu fördern. Der neue missionsorientierte Ansatz soll sowohl Märkte schaffen und gestalten als auch Marktversagen beheben. Indem sie sich auf Probleme konzentriert, die sektorübergreifende Lösungen erfordern, erfindet eine missionsorientierte Industriestrategie die vertikale Dimension der Industriepolitik neu. Sie macht sie aber auch komplexer und anfälliger für Politik- und Staatsversagen.

Schlüsselelemente von missionsorientierter Politik sind: koordinierte öffentliche Investitionen und eine marktgestaltende Politik, um Experimente und Innovationen zu unterstützen. Ein so umfassendes Politikkonzept wie eine integrierte missionsorientierte Innovations-, Investitions- und Industriepolitik erfordert einen enormen Koordinationsaufwand. Leidvolle Erfahrungen musste hier beispielsweise Frankreich in den 1960er Jahren mit dem Modell der „Planification“ machen. Aber auch aktuell sind die systemischen Anforderungen an eine an gesellschaftlichen Missionen orientierte politikfeldübergreifende Industrie- und Innovationspolitik angesichts der Komplexität von Innovationsprozessen enorm (Fagerberg und Hutschenreiter 2020, Lane 2020). Im Vorteil sind deshalb selektive Ansätze einer strategischen Industriepolitik, die sich auf die Entwicklung konkreter Technologien und deren Umsetzung im Wertschöpfungsprozess konzentrieren.

IPCEI – ein neuer selektiver Ansatz in der EU

Ein wichtiges neues Instrument strategischer Industriepolitik auf europäischer Ebene sind die Important Projects of Common European Interest (IPCEI). In dem unter der Schirmherrschaft der Generaldirektion Wettbewerb der EU entwickelten Instrument werden jeweils Vorhaben in mehreren Mitgliedstaaten gefördert, die auf die industrielle Nutzung zielen. Neu ist, dass sich die Förderung bis unmittelbar vor die kommerzielle Nutzung im Rahmen einer Massenproduktion erstrecken kann und die europäischen Beihilferegeln für die Projekte gelockert wurden. Die Art der Förderung über rückzahlbare Vorschüsse, Kredite, Garantien oder nichtrückzahlbare Zuschüsse sowie die zugrundeliegenden Bedingungen (zuwendungsfähige Kosten/Ausgaben, Förderquote, Förderzeitraum usw.) werden für jedes IPCEI vom betroffenen Mitgliedstaat festgelegt.

In Deutschland beteiligen sich zusätzlich einzelne Bundesländer an der Finanzierung solcher Vorhaben. Dabei sind bis zu 100% der beihilferechtlich anerkannten förderfähigen Kosten bis zur Höhe der Differenz zwischen den positiven und den negativen Cashflows während der Lebensdauer der Investition zuwendungsfähig. Die Beihilfeintensität der Vorhaben ist hoch: Aus einer Übersicht für sechs bereits von der EU genehmigte IPCEI (Mikroelektronik, Batteriezelle Summer, Batteriezelle Autumn, Mikroelektronik und Kommunikationstechnologien, Wasserstoff 1 und 2) geht hervor, dass an insgesamt 179 beteiligte Unternehmen Beihilfen in Höhe von gut 27 Milliarden Euro gezahlt werden und private Investitionen der Teilnehmer im Umfang von etwa 50 Milliarden Euro erwartet werden (European Commission 2023a).

Wenn der Staat sich also nicht allein auf die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen beschränkt, sondern sich wie bei den IPCEI unmittelbar bei Investitionen in neue Technologien und den Umbau des Kapitalstocks engagiert, müssen Fehlschläge in der staatlichen Technologiepolitik ebenso wie in der privaten Wirtschaft toleriert werden. Abwarten und Risikoscheu sind umgekehrt mit der Gefahr verbunden, wichtige technologische Entwicklungen zu verpassen oder zu verhindern. Es bedarf vielmehr der Qualifizierung des Staates sowie eines größeren Zutrauens in seine unternehmerischen Fähigkeiten (Michelsen 2023).

Das unmittelbare Engagement des Staates bei der Förderung konkreter Investitionsprojekte bedeutet aber auch eine Abkehr vom Dogma der Technologieoffenheit. Wenn eine technologieoffene Förderung im Bereich der marktfernen Grundlagenforschung noch sinnvoll ist, weil neue technologische Wege ohne ökonomisches Kalkül erkundet werden müssen, so muss sie aufgegeben werden, wenn konkrete Schritte zur schnellen Diffusion neuer Technologien in einem zunehmend marktlichen Umfeld erforderlich sind. Entscheidend sind hier verlässliche Absprachen, komplementäre Innovationen anzustoßen und Investitionen umzusetzen. Dies gelingt nur, wenn gemeinsame Vorstellungen über den notwendigen Technologiepfad entwickelt werden und systemische Risiken verringert werden. Ebenso wie Unternehmen Studien zu den erwarteten Transformationspfaden für ihre strategische Ausrichtung nutzen, kann und muss der Staat dies tun. Dazu braucht es auch den Einsatz entsprechend kompetenter Institutionen (Wambach 2023).

Erhöhung der Resilienz von Lieferketten

Ein besonderer Fall ist die Entwicklung und Produktion neuer Halbleiter, die als Basistechnologie und strategisches Vorprodukt für viele andere Technologien gelten, nicht zuletzt für Militärtechnik. In diesem Feld bemühen sich sowohl die EU als auch die USA, die Dominanz der Hersteller aus Asien zu reduzieren und die Versorgungssicherheit zu erhöhen. Neben der Stärkung von Forschung und Entwicklung in diesem Feld soll insbesondere auch die Erweiterung und der Aufbau eigener Produktionsstandorte gefördert werden.

Mit dem europäischen Chips Act, der im September 2023 in Kraft trat, will die EU insgesamt 43 Milliarden Euro an öffentlichen und privaten Investitionen in der Halbleiterindustrien mobilisieren.  Bis 2030 sollen die eigenen Produktionskapazitäten von bislang 10% auf 20% des Weltmarkts steigen (European Commission 2023b). Die USA stellen im Rahmen des Chips and Science Act aus dem Jahr 2022 bis 2031 Subventionen in Höhe von 39 Milliarden US-Dollar für den Bau von Fertigungsstätten in Aussicht (Deutsche Bundesbank 2023). Sowohl die Interventionen in den USA als auch in Europa sind dabei weniger industriepolitisch motiviert, sondern nehmen bewusst Effizienzverluste als sicherheitspolitische Versicherungsprämie in Kauf.

Industriepolitische Antworten auf die Klimakrise

Bei der Bewältigung der dringenden globalen Herausforderungen durch die Klimakrise gehen Europa und die USA in der Industriepolitik unterschiedliche Wege (Vöpel 2023). Während Europa auf die Verbindung von Preisen für CO2-Emissionen und selektiver Förderung neuer Energietechnologien durch IPCEI zunächst für Batterien und Wasserstofftechnik setzt, präferieren die USA im Inflation Reduction Act steuerliche Vergünstigungen für Investitionen der Unternehmen in klimafreundliche Technologien.

Dies ist auch der unterschiedlichen politischen Verfasstheit der beiden Regionen geschuldet. In der EU verhindern schon allein die wenig harmonisierten nationalen Steuergesetzgebungen ein ähnliches Vorgehen wie in den USA. Die Beihilfen für die europaweiten IPCEI können hingegen jeweils von den nationalen Regierungen gezahlt werden. Der Vorteil des Weges der USA für die Unternehmen besteht somit im unbürokratischen Zugang zur Förderung. Dagegen unterliegen die IPCEI-Projekte einer aufwendigen und langwierigen Prüfung. Dafür kann die CO2-Bepreisung den Unternehmen in Europa Leitplanken für künftige Preise vorgeben.

Durchstarten trotz Unsicherheit

Die EU und die USA wollen erhebliche staatliche Mittel für strategische Industriepolitik in der Verbindung von Technologiepolitik und Investitionsförderung mobilisieren. Welche Wege dabei erfolgreich sind, ist bisher kaum abzuschätzen. Auch das noch junge Instrument der IPCEI in der EU befindet sich in der Experimentierphase.

Dies darf allerdings nicht als Vorwand dafür gelten, nun auf die industriepolitische Bremse zu treten. Vielmehr kommt es jetzt darauf an, die Mittel aufzustocken und sorgfältig einzusetzen. Dazu muss beim Instrument der IPCEI mit weniger Bürokratie mehr Transparenz erreicht werden. Es bedarf einer begleitenden Evaluierung und, wenn nötig, dem Mut zum Nachsteuern. Ohne durchgreifenden technologischen Fortschritt wird die Klimakrise zu großen Wohlstandsverlusten führen. Ohne strategische Industriepolitik wird ein Durchbruch klimaschonender Produktionsweisen in absehbarer Zeit nicht gelingen. Es geht nicht mehr um die Frage, ob Industriepolitik zur Lösung der großen globale gesellschaftlichen Herausforderungen notwendig ist, sondern wie gut die neuen industriepolitischen Maßnahmen funktionieren.

 

Zu den AutorInnen:

Martin Gornig ist Forschungsdirektor für Industriepolitik in der Abteilung Unternehmen und Märkte am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.

Heike Belitz ist dort wissenschaftliche Mitarbeiterin.