„Women in Academia“

Das Problem mit der „Bestenauslese“

In den letzten Jahren ist eine beeindruckende Zahl wissenschaftlicher Studien zum Thema Karrierechancen von Frauen in der Wissenschaft erschienen – die Ergebnisse sind ernüchternd: Oft liegt es nicht an den Frauen, dass sie in der Wissenschaft nicht weiterkommen, sondern an den Rahmenbedingungen, unter denen sie agieren.

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Frauen sind in wissenschaftlichen Spitzenpositionen unterrepräsentiert: In Deutschland sind momentan 49% der Studierenden und 47% der Promovierenden weiblich. Unter den Professor*innen beträgt der Frauenteil aber nur knapp 25%. Dass es wünschenswert wäre, mehr Frauen unter dem professoralen Personal an Hochschulen und Universitäten zu haben, hat sich inzwischen glücklicherweise als Mehrheitsmeinung etabliert. Der Weg dahin ist allerdings mühsam. In den letzten zehn Jahren hat sich der Frauenanteil unter den Professuren durchschnittlich nur um 0,7% pro Jahr erhöht – wenn es in diesem Tempo weiterginge, bräuchte es noch 34 Jahre bis zur Parität. Was sind die Gründe für den geringen Frauenanteil und die sehr langsame, zähe und anstrengende Veränderung?

Wir sind im Gleichstellungsbereich tätig, als Gleichstellungsbeauftragte und Gleichstellungsreferentin. In unserer Arbeit erleben wir, dass das Thema „Frauen in der Wissenschaft“ immer noch mit sehr vielen Vorurteilen belegt ist. Um diesen entgegenzuwirken, haben wir die Website „Women in Academia“ erstellt.  Unsere Idee war es, diese aktuellen Forschungsergebnisse aus den Fachkreisen herauszuholen und sie für Personen aus dem Gleichstellungsbereich und eine breitere Öffentlichkeit aufzubereiten. Dafür haben wir Forschungsergebnisse anhand gängiger Vorurteile klassifiziert. Dazu zählen beispielsweise:

Warum ist es wichtig, diese Forschungsergebnisse bekanntzumachen? Um effektive Gleichstellungsmaßnahmen zu konzipieren und umzusetzen, ist es wichtig, genau zu verstehen, wie Benachteiligung zustande kommt. Die Kenntnis der aktuellen Forschung ist also ein wesentlicher Erfolgsfaktor. In der Wissenschaft kommt man zudem mit wissenschaftlichen Studien als Argumentationsgrundlage weiter als mit persönlichen Erfahrungsberichten. Wenn in Berufungskommissionen die oben genannten Vorurteile angeführt werden, hilft wissenschaftliche Evidenz. Iris Bohnets Buch What works: Wie Verhaltensdesign die Gleichstellung revolutionieren kann von 2016 ist ein gelungenes Beispiel für eine Aufarbeitung wissenschaftlicher Erkenntnisse, die auch für fachfremde Personen zugänglich ist. Die Inhalte dieses Buches haben bereits den einen oder die andere davon überzeugt, dass noch nicht in allen Bereich Chancengleichheit besteht. Aber das Buch ist bereits ein paar Jahre alt und die Literatur entwickelt sich rasant weiter.

Gender Bias am Beispiel von Lehrevaluationen

Um zu verdeutlichen, wie die Entwicklung neuer Maßnahmen auf der Grundlage von Forschungsergebnissen aussehen kann, möchten wir die Ansicht, dass die Auswahl von professoralem Personal auf der Grundlage einer „Bestenauslese“ erfolge, näher betrachten. Hierbei wollen wir den Blick zunächst auf aktuelle Forschungsergebnisse zu Lehrevaluationen richten.

Ein essenzieller Teil unserer Tätigkeit ist das Mitwirken in Berufungskommissionen. Das Vorurteil lautet: Wenn in diesen Verfahren am Ende Männer das Rennen machen, dann liege es daran, dass sie stärker waren als die weiblichen Kandidatinnen. Aber führen Berufungsverfahren tatsächlich zur „Bestenauslese“? Wenn man sich aktuelle Forschung zu Frauen in der Wissenschaft aus dem Bereich der Gender Economics ansieht, zeigt sich, dass die angelegten Maßstäbe nicht so objektiv sind, wie es zunächst scheint. In den letzten Jahren ist eine beeindruckende Zahl wissenschaftlicher Studien zum Thema Karrierechancen von Frauen in der Wissenschaft erschienen – die Ergebnisse sind ernüchternd: Oft liegt es nicht an den Frauen, dass sie in der Wissenschaft nicht weiterkommen, sondern an den Rahmenbedingungen, unter denen sie agieren.

An unserer Hochschule sind die Lehrvorträge ein wichtiger Teil des Auswahlprozesses. Alle Kandidat*innen werden aufgefordert, Probevorlesungen zu fachspezifischen Grundlagen und individuell wählbaren Forschungsthemen vorzubereiten. Ihre Leistungen werden dann von den Mitgliedern der Berufungskommission in Hinblick auf didaktische Fähigkeiten und fachliche Kompetenzen bewertet. Der Kommission gehören Professor*innen, wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen, Studierende sowie Personen aus der Wirtschaft an. Es fließen also unterschiedliche Perspektiven in die Bewertung mit ein.

Oft liegt es nicht an den Frauen, dass sie in der Wissenschaft nicht weiterkommen, sondern an den Rahmenbedingungen, unter denen sie agieren

Heißt das, dass am Ende eine objektive Einschätzung zustande kommt? Die Literatur zu Lehrevaluationen ist umfangreich und liefert relativ eindeutige Ergebnisse: Frauen bekommen schlechtere Lehrevaluationen als Männer. Liegt es daran, dass Frauen schlechter unterrichten? Wenn das der Fall wäre, dann wäre es auch fair, dass sie seltener eingestellt werden. Eine andere Erklärung für die schlechteren Evaluationen wäre aber, dass Frauen genauso gut lehren wie Männer, aber trotzdem schlechter bewertet werden. In diesem Fall würde eine geschlechtsspezifische Diskriminierung vorliegen. Welche Erklärung ist nun stichhaltiger?

In einem US-amerikanischen randomisierten Zufallsexperiment (MacNell, Driscoll, & Hunt, 2015) wurden 72 Studierende eines Online-Kurses auf sechs Übungsgruppen verteilt. Zwei der Übungsgruppen wurden von der für die Vorlesung zuständigen Lehrperson geleitet; die restlichen vier Gruppen wurden von einem männlichen Dozenten und von einer weiblichen Dozentin betreut. Im Rahmen des Experiments tauschten die beiden Dozierenden nun in zwei Übungsgruppen ihre Identitäten. Dies war möglich, da sie nur online mit den Studierenden interagierten, aber nicht persönlich. Somit gab es eine Übungsgruppe, in der die Studierenden glaubten, von einem Mann unterrichtet zu werden, während sie tatsächlich von einer Frau unterrichtet wurden, und eine andere mit dem umgekehrten Szenario. In allen Übungsgruppen wurden die gleichen Methoden und Bewertungsmaßstäbe verwendet.

Am Ende des Kurses fanden Evaluationen statt, bei denen die Studierenden das Lehrpersonal in Hinblick auf wissenschaftliche Kompetenz und zwischenmenschliche Aspekte bewerteten. Bei der Auswertung der Daten aus insgesamt 43 Evaluationen wurden sowohl das tatsächliche Geschlecht der Lehrenden als auch das von den Studierenden wahrgenommene Geschlecht berücksichtigt. Das Ergebnis: Während das tatsächliche Geschlecht der Lehrenden keine Auswirkung auf die Evaluationen hatte, bewerteten Studierenden die Lehrenden, die sie als männlich wahrnahmen, signifikant besser als diejenigen, die sie als weiblich wahrnahmen. Wenn studentische Beiträge beispielsweise innerhalb von zwei Tagen benotet wurden, gab es für die Reaktionsschnelle des „männlichen“ Dozenten positivere Bewertungen als für die „weibliche“ Dozentin. Diese Tendenz erstreckte sich über alle Bewertungskriterien: Auch die zwischenmenschlichen Aspekte wurden besser bewertet, wenn die Studierenden davon ausgingen, dass sie von einem Mann unterrichtet wurden.

Die Studie deutet also darauf hin, dass Frauen nicht schlechter lehren, sondern auf Grund ihres Geschlechtes weniger gut bewertet werden. Kritiker*innen mögen dagegenhalten, dass das Setup speziell war: ein Onlinekurs ohne direkte persönliche Interaktion. Zudem wurde nur eine relativ geringe Menge an Datensätzen (43 Evaluationen) ausgewertet. Um diese berechtigten Bedenken auszuräumen, kann eine zweite Studie herangezogen werden. Boring (2017) wertet insgesamt 20.197 Lehrevaluationen aus, die über mehrere Jahre (2008-2013) hinweg in einem Studiengang einer französischen Universität gesammelt wurden, und prüft diese auf einen Gender Bias. Der Evaluierungsprozess bildet dabei ein natürliches Experiment, dessen Aufbau sich durch folgende Merkmale auszeichnet:

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Die Studierenden belegten in ihren ersten beiden Studiensemestern die gleichen Pflichtfächer. Die Vorlesungen wurden dabei alle von männlichen Professoren gehalten; begleitende Seminare wurden von männlichen und weiblichen Lehrkräften unterrichtet.

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Die Studierenden hatten keinen Einfluss auf das Geschlecht der Lehrpersonen, die ihre Seminare leiteten.

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Da die Studierenden zur Lehrevaluation verpflichtet waren, gab es ein Rücklaufquote von 100%.

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Nach der Evaluation legten alle Studierenden die gleichen anonym bewerteten Abschlussprüfungen ab. Die Ergebnisse dieser Prüfungen zieht Boring als Maßstab für die Effektivität der Lehrkräfte heran: Erfolgreich bestandene Abschlussprüfungen wertet sie als Indiz für eine gelungene Lehre.

Damit gab es also ein objektives Kriterium, um die Effektivität einzelner Lehrender messen. Und tatsächlich zeigten die Prüfungsergebnisse keine Unterschiede in den Lehrleistung weiblicher und männlicher Lehrkräfte. In der Auswertung der Lehrevaluationen war aber festzustellen, dass Lehrkräfte, deren Studierende die Abschlussprüfung mit Erfolg bestanden hatten, nicht unbedingt die besten Ergebnisse erhielten. Die Lehrenden wurden also nicht in Hinblick darauf bewertet, ob sie die Studierenden gut auf die Prüfung vorbereitet hatten, vielmehr spielten andere Faktoren eine wichtige Rolle – insbesondere das Geschlecht der Lehrenden.

Vor allem die Evaluationen männlicher Studenten weisen eine Voreingenommenheit zugunsten männlicher Lehrkräfte auf

So kommt  Boring zu dem Ergebnis, dass vor allem die Evaluationen männlicher Studenten eine Voreingenommenheit zugunsten männlicher Lehrkräfte aufweisen. Für männliche Dozenten war die Wahrscheinlichkeit, von Studenten als „exzellent“ beurteilt zu werden, signifikant höher als für ihre Kolleginnen. Überdies gibt die Auswertung auch Aufschluss darüber, dass genderspezifische Erwartungshaltungen die Evaluationen der Studierenden in Hinblick auf spezielle Lehrdimensionen zu beeinflussen scheinen: Männliche Lehrende wurden von männlichen und weiblichen Studierenden als kenntnisreicher und führungsstärker wahrgenommen.

„Bestenauslese“ in Berufungsverfahren? – Optimierung durch Gleichstellungsmaßnahmen

In studentischen Lehrevaluationen bekommen Frauen schlechtere Bewertungen, obwohl sie gleiche Leistungen zeigen. Spielt ein Gender Bias auch in Berufungskommissionen eine Rolle? De Paola, Ponzo & Scoppa (2018) untersuchen in einer Studie die Karrierechancen von Frauen im akademischen System in Italien. Dort nehmen Kandidat*innen für Professuren seit 2012 zunächst an einem landesweiten Qualifizierungsverfahren teil. Hierfür wurden vom Ministerium für Bildung, Universität und Forschung Kriterien zur Bestimmung der Forschungsproduktivität der Kandidat*innen vorgeschlagen. In vielen Fachbereichen wird diese anhand von bibliometrischen Indikatoren gemessen. Für alle Bewertungsausschüsse gilt, dass sie die Bewerber*innen ausschließlich anhand ihrer Veröffentlichungen und Lebensläufe bewerten. Erfolgreiche Kandidat*innen dürfen sich anschließend auf Hochschulebene um Professuren bewerben.

Die Studie zeigt, dass bei der Qualifizierung auf nationaler Ebene keine geschlechtsspezifischen Unterschiede auftreten. Auf Universitätsebene sind die Chancen von Frauen aber geringer, insbesondere in Disziplinen, in denen es nur wenige Stellen pro Bewerbung gibt.

Diese Ergebnisse werden durch eine weitere Studie von Marini & Meschitti (2018), die sich der gleichen institutionellen Besonderheit widmen, bestätigt. Die Autor*innen berechnen in ihrem Datensatz, dass bei gleicher Forschungsproduktivität für einen Mann die Wahrscheinlichkeit, eine Professur zu bekommen, 24% höher ist als für eine Frau. Die beiden Studien differenzieren also zwischen dem Potenzial für eine wissenschaftliche Karriere aufgrund von messbarer Leistung und den tatsächlichen Karrierechancen. Die Diskrepanz zwischen beiden Werten deutet auf eine geschlechtsspezifische Diskriminierung hin, die genau dann einsetzt, wenn Auswahlprozesse nicht mehr anhand von transparenten Kriterien geregelt werden.

Erste Studien zeigen, dass Modifikationen in den Studierendenevaluationen den Gender Bias reduzieren können

Unserer Meinung nach sollte die Bedeutung der vorgestellten Studien nicht unberücksichtigt bleiben, wenn man Erklärungen für den geringen Frauenanteil bei den akademischen Spitzenpositionen in Deutschland sucht. Die Studien stammen aus internationalen Kontexten und zeigen geschlechtsspezifische Diskriminierung im akademischen Betrieb in den USA, Frankreich und Italien auf. Wie auch in Deutschland lässt sich an den Universitäten dieser Länder das Phänomen der „Leaky Pipeline“ beobachten: je höher die Karrierestufe, desto niedriger der Frauenanteil. Trotz der Unterschiede zwischen den Bildungssystemen weisen alle Studien auf eine ähnliche Problemlage hin: Die Objektivität von Bewertungs- und Auswahlverfahren kann in den untersuchten Kontexten nicht gewährleistet werden. Dies sollte uns zu denken geben, wenn wir darauf vertrauen, dass in Berufungsverfahren in Deutschland eine „Bestenauslese“ stattfindet.

Wie lässt sich der Gender Bias reduzieren?

Was bedeuten die hier präsentierten Erkenntnisse also konkret für die Gleichstellungsarbeit? Für Frauen, die eine akademische Karriere anstreben, sind sie vielleicht zunächst demotivierend. Aber sobald man verstanden hat, was die Ursachen für die Diskriminierung sind, ist es auch möglich, Maßnahmen zu entwickeln, um Veränderungen zu bewirken. Erste Studien zeigen, dass Modifikationen in den Studierendenevaluationen den Gender Bias reduzieren können. Und die Studien aus Italien legen den Schluss nahe, dass die Diskriminierung reduziert wird, umso mehr der Berufungsprozess sich auf objektiv messbare Leistungen stützt. Auswahlprozesse sollten also so umgestaltet werden, dass sie möglichst unbeeinträchtigt von persönlichen Vorurteilen und subjektiven Einschätzungen stattfinden können. Dazu gehören unter anderem ein klarer Kriterienkatalog sowie die kritische Prüfung der Bewertungsergebnisse auf einen möglichen Gender Bias hin.

Die Zahl der Studien, die sich mit der Frage „what works?“ beschäftigen, sind gestiegen. Sie bringen uns zu dem Schluss: Einfache Lösungen, um den Frauenanteil in der Wissenschaft zu steigern, gibt es nicht. Ein Blick in die Forschung zu den Karrierechancen von Männern und Frauen kann aber unser Bewusstsein für mögliche Benachteiligungen schärfen und zur Verbesserung unserer Auswahlprozesse beitragen.

 

Zu den Autorinnen:

Anna Göddeke ist Professorin für Mikroökonomie an der ESB Business School der Hochschule Reutlingen, wo sie unter anderem auch als Gleichstellungsbeauftragte tätig ist. Auf Twitter: @AnnaGoeddeke

Louisa Söllner ist Referentin für Gleichstellung und Familienservice an der Hochschule Reutlingen.