Um im Vorfeld der Europawahl durch lebensnahe und facettenreiche Perspektiven auf bekannte soziale Probleme und Herausforderungen zu einem besseren Verständnis der – oft sehr unterschiedlichen – Lebens- und Arbeitsbedingungen in Europa beizutragen, haben die Bertelsmann-Stiftung und das Jacques Delors Institute Berlin im Rahmen des „Repair and Prepare: Strengthening Europe“-Projekts eine gemeinsame Studie durchgeführt. „How are you doing, Europe? Mapping social imbalances in the EU“ konzentriert sich auf sechs soziale Herausforderungen, die anhand verschiedener Indikatoren und konkreter Fallbeispiele beleuchtet werden.
Die sechs Einzeldossiers der Studie werden im wöchentlichen Rhythmus im Makronom veröffentlicht. Alle bisher erschienenen Beiträge finden Sie hier. Im letzten Teil der Serie geht es um Zugangsbarrieren, mit denen EuropäerInnen in der Gesundheitsversorgung konfrontiert werden.
Eine gute, zugängliche und erschwingliche Gesundheitsversorgung ist essenziell für die Lebensqualität der Menschen. Der letzte Teil unserer Serie konzentriert sich auf drei Faktoren, die potenzielle Barrieren im Zugang zur Gesundheitsversorgung in Europa darstellen können: Zuerst untersuchen wir, wie das Einkommensniveau die Fähigkeit zur Finanzierung der Gesundheitsversorgung beeinflussen kann – hierfür fokussieren wir uns insbesondere auf Selbstzahlungen privater Haushalte (sogenannte „Out-of-pocket-payments“). Zweitens betrachten wir den Krankenversicherungsschutz in Europa. Drittens beleuchten wir, wie sich regionale Ungleichgewichte auf den Zugang der Menschen in Europa zur Gesundheitsversorgung auswirken können.
Niedrigere Einkommensgruppen haben größere Probleme beim Zugang zur Gesundheitsversorgung
Im Jahr 2017 schätzten sieben von zehn EuropäerInnen ihre eigene Gesundheit als sehr gut oder gut ein. Während dies für 80,4% des Quintils mit den höchsten Einkommen der Fall war, traf es jedoch nur auf 61,2% des niedrigsten Quintils zu. Ein ähnlicher Unterschied ist beim Zugang zur Gesundheitsversorgung zu beobachten: Insgesamt ist der Anteil jener EuropäerInnen, die ihre Gesundheitsbedürfnisse nicht erfüllen können, gering und in den letzten Jahren sogar zurückgegangen. Allerdings sind auch in diesem Fall Haushalte mit niedrigeren Einkommen eher mit Problemen konfrontiert, ihre Bedürfnisse zu erfüllen.
Ein entscheidender Faktor ist die Frage, inwiefern sich ein Haushalt die Gesundheitsversorgung leisten kann: Vier von zehn Haushalten in der EU, die über ein Einkommen von unter 60% des Medians des Äquivalenzeinkommens (also der Armutsgefährdungsschwelle) verfügen, berichteten 2016 über einige, mittlere oder große Schwierigkeiten, Gesundheitsdienstleistungen bezahlen zu können. In der gesamten Bevölkerung liegt dieser Anteil europaweit bei knapp drei von zehn Haushalten.
Solche Ergebnisse zeigen, dass das Einkommensniveau für den Zugang zur Gesundheitsversorgung von Bedeutung ist. In einigen EU-Ländern gilt dies mehr als in anderen: Während weniger als 5% der Haushalte mit niedrigem Einkommen in Großbritannien, Finnland und Dänemark große Schwierigkeiten dabei hatten, ihre Gesundheitsversorgung zu bezahlen, traf dies auf mehr als 20% derselben Gruppe in Irland, Lettland, Belgien, Ungarn, der Slowakei und Zypern zu – und auf mehr als die Hälfte der Haushalte mit niedrigem Einkommen in Griechenland.
Die Länderunterschiede zeigen sich auch bei der Betrachtung von Eurostat-Daten über nicht erfüllte Gesundheitsbedürfnisse: Im Jahr 2017 berichteten geschätzte 2,3% der EuropäerInnen im Quintil mit den niedrigsten Einkommen, dass sie aus finanziellen Gründen auf benötigte medizinische Untersuchung verzichten mussten. Dieser Wert lag bei 9,9% für Lettland und 16,4% für Griechenland. In Griechenland lag dieser Anteil seit 2011 bei über 10% und erreichte 2016 mit 34,3% seinen Höchststand. Für Lettland meldeten mehr als 20% des Quintils mit dem niedrigsten Einkommen zwischen 2010 und 2014 einen unerfüllten Bedarf ärztlicher Behandlungen.
Hohe Selbstzahlungen als Zugangsbarriere zur Gesundheitsversorgung
Ein wesentlicher Faktor für die Erschwinglichkeit der Gesundheitsversorgung sind Kosten, die nicht vollständig von der Krankenversicherung abgedeckt und von den Patienten selbst getragen werden müssen (z.B. für Medikamente). Nach Angaben der OECD machen diese Selbstzahlungen etwa ein Fünftel der Gesundheitsausgaben in den EU-Ländern aus. In Frankreich liegt der Anteil lediglich bei etwa 10%, beläuft sich in Lettland, Zypern und Bulgarien aber auf über 40%. In Deutschland lag er bei 12,4%.
Gerade das lettische Beispiel zeigt, warum solche hohen Selbstzahlungen ein wesentliches Hindernis für die Gesundheitsversorgung darstellen können: Gesundheitsdienstleistern in Lettland werden jährliche Kontingente an Leistungen gewährt, die vom nationalen Gesundheitsdienst abgedeckt werden. Sobald diese Quoten jedoch erreicht sind, müssen die PatientInnen entweder bis zum nächsten Jahr warten oder die Leistungen selbst bezahlen.
Besonders stark sind die Auswirkungen auf das ärmste Quintil: Im Jahr 2013 war mehr als jeder vierte Haushalt dieser Einkommensgruppe in Lettland mit sogenannten „katastrophalen Selbstzahlungen“ konfrontiert. Die OECD definiert solche katastrophalen Selbstzahlungen als medizinische Kosten, die 40% der gesamten Konsumausgaben eines Haushaltes übersteigen, nachdem Ausgaben für Grundbedürfnisse (wie für Nahrung, Wohnen und Energieversorgung) abgezogen wurden.
Das Ausmaß jener „katastrophalen“ Ausgaben für die Gesundheitsversorgung variiert zwischen den EU-Ländern: Während weniger als 2% der Haushalte in Slowenien, Irland, Großbritannien, Schweden und Frankreich davon betroffen sind, trifft dies auf über 8% in Lettland, Ungarn, Portugal, Griechenland, Litauen und Polen zu. Der Anteil der Selbstzahlungen an den Gesamtausgaben der Gesundheitsversorgung spiegelt auch wider, inwieweit PatientInnen vor einer finanziellen Überlastung durch medizinische Behandlungen bzw. Versorgung geschützt sind. Wenn dieser Schutz unzureichend oder nicht vorhanden ist, können Krankheit oder die Notwendigkeit einer langfristigen Behandlung zu einer sehr hohen finanziellen Belastung führen, was wiederum nicht nur den individuellen Zugang zur Gesundheitsversorgung einschränken, sondern auch Armut erhöhen kann.
Der Krankenversicherungsschutz in Europa ist hoch, aber…
Der Umfang des Krankenversicherungsschutzes verrät einiges über das Niveau der finanziellen Absicherung, das durch ein Gesundheitssystem geleistet wird. Relevante Fragen zur Beurteilung dieses Schutzes bzw. der vorhandenen Abdeckung sind: Wer ist versichert? Welche Gesundheitsleistungen enthält der Versicherungsschutz und wie hoch ist der Anteil der Kosten, die durch den Versicherungsschutz abgedeckt sind?
Die meisten EU-Länder bieten eine universelle allgemeine Gesundheitsversorgung für einen Korb an Kernleistungen. Allgemein ist in den EU-Mitgliedsstaaten die Versicherungsabdeckung der Kosten für Arzneimitteln oder Zahnmedizin geringer als für ambulante Gesundheitsleistungen, während stationäre Versorgung am umfassendsten abgedeckt wird. Dennoch gibt es zwischen den einzelnen EU-Ländern signifikante Unterschiede in Bezug auf die Abdeckung von Gesundheitsleistungen und getragenen Kosten.
So sind beispielsweise in Zypern, Rumänien und Bulgarien mehr als 10% der Bevölkerung selbst für eine Reihe von Kernleistungen nicht versichert. In weiteren fünf Ländern betrifft dies 5 bis 10% der Bevölkerung (Polen, Litauen, Estland, Slowakei, Ungarn). Solche Lücken lassen sich teilweise dadurch erklären, dass z.B. eine relativ hohe Anzahl von Menschen im Ausland arbeitet (dies ist etwa in Bulgarien oder Rumänien der Fall) oder für internationale Institutionen mit anderen Versicherungssystemen (z.B. in Luxemburg).
Im Falle Rumäniens zeigen die Daten auch, dass die Abdeckung in städtischen Gebieten (94,9%) viel höher ist als in ländlichen Regionen (75,8%). Diese Lücke könnte zum Teil dadurch erklärt werden, dass unter denjenigen, die nicht in die Krankenversicherung einzahlen und damit nicht versichert sind, unter anderem ArbeiterInnen in der Landwirtschaft sind. Aber es betrifft darüber hinaus auch Selbständige, Arbeitslose, die nicht für Leistungen registriert sind, sowie Roma ohne Personaldokumente.
Ein erheblicher Teil der Roma ist auch in Bulgarien nicht versichert. Hier können BürgerInnen ihren Versicherungsschutz verlieren, wenn sie innerhalb von drei Jahren drei monatliche Beiträge nicht zahlen. Dies betrifft insbesondere gefährdete Gruppen wie Langzeitarbeitslose oder arme Menschen.
Nahaufnahme
Das griechische Gesundheitssystem während der Krise
In mehreren EU-Ländern gibt es einige Gruppen, die nicht obligatorisch versichert sind. Dazu können beispielsweise bestimmte Personengruppen gehören, die einer atypischen Beschäftigung nachgehen oder prekäre Jobs haben; betroffen sind aber auch bestimmte Kategorien von Selbständigen oder Personen, die noch nicht über eine Mindestanzahl von Einzahlungsjahren verfügen, einschließlich junger Menschen, die neu in den Arbeitsmarkt eingetreten sind. Wie sehr sich wiederum wirtschaftliche Krisen auf ein Gesundheitssystem auswirken können, zeigt das Beispiel Griechenland, das wir in einer Nahaufnahme beleuchtet haben.
Regionale Unterschiede in der Gesundheitsversorgung
Für einen guten Zugang zur Gesundheitsversorgung ist es relevant, dass ein Arztbesuch in Nähe des eigenen Wohnortes möglich ist. Laut der OECD hat sich die Zahl der ÄrztInnen pro Kopf in allen EU-Ländern seit dem Jahr 2000 erhöht. Allerdings bestehen nach wie vor erhebliche Unterschiede zwischen sowie auch innerhalb der Mitgliedstaaten.
Da sich medizinisches Personal tendenziell in größeren Städten oder Hauptstadtregionen konzentriert, stehen abgelegene, ländliche, aber auch benachteiligte oder Regionen mit schwacher Infrastruktur vor größeren Herausforderungen, um eine umfassende Gesundheitsversorgung anzubieten. Zu den Faktoren, die zu den Herausforderungen bei der Gesundheitsversorgung in ländlichen oder abgelegenen Gebieten beitragen können, gehören laut der OECD eine begrenzte Verkehrsinfrastruktur und längere Distanzen bis zum nächsten medizinischen Versorgungspunkt bzw. Arzt oder Ärztin. Eine geringe Bevölkerungsdichte im ländlichen Raum kann zudem die effiziente Bereitstellung von medizinischen Spezialisten, eine adäquate Mischung von Fachrichtungen oder die medizinische Versorgung rund um die Uhr erschweren.
Das Beispiel der Region Île-de-France in Frankreich zeigt, dass sich regionale Ungleichgewichte nicht nur auf ländliche oder abgelegene Gebiete beschränken, sondern auch sozioökonomisch benachteiligte Metropolregionen betreffen können. Die bevölkerungsreichste der französischen Regionen, zu der auch Paris gehört, zeigt ein erhebliches Gefälle in der Dichte der allgemeinmedizinischen Versorgung auf lokaler Ebene: Während Paris mit die höchste Dichte an AllgemeinmedizinerInnen in ganz Frankreich vorweisen kann, rangiert das benachbarte, sozioökonomisch benachteiligte Gebiet Seine-Saint-Denis unter allen betrachteten französischen Départements an zweitletzter Stelle. Ähnliche Diskrepanzen sind auch im Hinblick auf die Verteilung von SpezialistInnen und ZahnärztInnen zu erkennen.
Darüber hinaus waren mit Stand 2016 38% der ÄrztInnen in der EU 55 Jahre oder älter – in Italien galt dies gar für 54%. Gehen diese ÄrztInnen in den Ruhestand, könnte dies zusätzlichen Druck auf Regionen ausüben, die bereits Schwierigkeiten haben sicherzustellen, dass ihre BürgerInnen über ausreichenden Zugang zur Gesundheitsversorgung verfügen.
Abschließend lassen sich die wichtigsten Erkenntnisse dieses Dossiers wie folgt zusammenfassen:
- 2017 schätzten sieben von zehn EuropäerInnen ihre eigene Gesundheit als sehr gut oder gut ein. Während dies auf 80,4% der EU-BürgerInnen im höchsten Einkommensquintil zutraf, gaben dies nur 61,2% der EuropäerInnen im untersten Quintil an.
- Mehr als die Hälfte der Haushalte mit niedrigem Einkommen in Griechenland gaben 2016 an, große Schwierigkeiten zu haben, Gesundheitsdienstleistungen bezahlen zu können. In weiteren sechs EU-Ländern betrifft dies ebenfalls mehr als 20% der gleichen Gruppe.
- Während der Wirtschaftskrise haben mehr als 2,5 Millionen Menschen bzw. ein Viertel der griechischen Bevölkerung ihre Krankenversicherung verloren.
- Selbstzahlungen für Gesundheitsdienstleistungen reichen von 10% in Frankreich bis zu 45% in Lettland und Zypern und 48% in Bulgarien.
Zu den AutorInnen:
Sylvia Schmidt ist Projektmanagerin bei der Bertelsmann Stiftung im Programm Europas Zukunft, wo sie sich mit Sozialpolitik und dem europäischen Binnenmarkt beschäftigt. Auf Twitter: @_sylvia_schmidt
Philipp Ständer ist Policy Fellow am Jacques Delors Institute Berlin im Forschungsbereich Wirtschafts- und Sozialpolitik. Auf Twitter: @P_Staender
Hinweis:
Hier finden Sie die vollständige Studie, auf der diese Serie basiert.