Um im Vorfeld der Europawahl durch lebensnahe und facettenreiche Perspektiven auf bekannte soziale Probleme und Herausforderungen zu einem besseren Verständnis der – oft sehr unterschiedlichen – Lebens- und Arbeitsbedingungen in Europa beizutragen, haben die Bertelsmann-Stiftung und das Jacques Delors Institute Berlin im Rahmen des „Repair and Prepare: Strengthening Europe“-Projekts eine gemeinsame Studie durchgeführt. „How are you doing, Europe? Mapping social imbalances in the EU“ konzentriert sich auf sechs soziale Herausforderungen, die anhand verschiedener Indikatoren und konkreter Fallbeispiele beleuchtet werden.
Die sechs Einzeldossiers der Studie werden im wöchentlichen Rhythmus im Makronom veröffentlicht. Alle bisher erschienenen Beiträge der Serie finden Sie hier. In dem folgenden Beitrag geht es um die Qualität der Arbeitsplätze, die während des jüngsten Jobbooms in der EU entstanden sind.
Insgesamt sind die Beschäftigungszahlen in Europa seit 2013 gestiegen. Viele Beobachter sorgen sich allerdings, dass viele der neu entstandenen Jobs mit weniger Arbeitsplatzsicherheit, schlechteren Arbeitsbedingungen sowie niedrigeren Einkommen und zunehmend eingeschränktem Zugang zu Sozialleistungen einhergehen. Kurz: Es besteht die Sorge, dass der Aufschwung, den Europa in den letzten Jahren erlebte, von einem Anstieg an prekärer Arbeit begleitet wird.
Viele Menschen verbinden mit prekärer Arbeit vor allem befristete Arbeitsverträge oder Teilzeitbeschäftigung. Einem umfassenderen Ansatz folgend, beinhaltet prekäre Arbeit aber drei Dimensionen: unsichere Beschäftigungsverhältnisse, wie zum Beispiel befristete Arbeitsverträge; einen Mangel an sozialer Absicherung oder ein Umfeld, das keine unterstützenden Maßnahmen wie Weiterbildungen oder Trainings bietet; und Angestellte mit sehr geringen finanziellen Ressourcen, die sich eine kurzfristige Reduktion oder gar den Wegfall ihres Einkommens nicht erlauben können.
Um einen Einblick zu bekommen, was prekäre Arbeit für die Beschäftigten in Europa bedeutet, illustrieren wir im Folgenden diese drei Dimensionen jeweils anhand eines Beispiels: Wir fokussieren uns auf junge Menschen mit befristeten Arbeitsverträgen, setzen uns mit der sozialen Absicherung von Selbstständigen auseinander und zeigen schließlich, dass Arbeit nicht immer gleichbedeutend mit Schutz vor Armut ist.
Junge Menschen in befristeten Beschäftigungsverhältnissen
In der EU gab 2017 eine/r von vier ArbeitnehmerInnen in Teilzeit sowie jede/r zweite Beschäftigte mit einem befristeten Arbeitsvertrag an, dass er oder sie gerne in einem normalen Beschäftigungsverhältnis arbeiten würde – ein solches aber nicht finden konnte. Während atypische Beschäftigung nicht automatisch prekärer Arbeit gleichkommt, suggeriert unfreiwillige atypische Beschäftigung, dass die Betroffenen nach besserem Arbeitsschutz und höheren Einkommen durch Mehrarbeit suchen.
Insbesondere junge Menschen sind einem höheren Risiko von unsicheren Beschäftigungsverhältnissen ausgesetzt, vor allem in Form von befristeter Beschäftigung. Während sich 2017 nur 14% der gesamten erwerbstätigen Bevölkerung in der EU in befristeten Arbeitsverhältnissen befanden, betrug dieser Anteil bei den 15- bis 24-Jährigen ganze 44% – Tendenz steigend.
Viele EU-Mitgliedstaaten haben während der Wirtschafts- und Finanzkrise die Regulierungen von befristeten Arbeitsverträgen gelockert. Die dadurch entstehende Flexibilität für ArbeitnehmerInnen sollte die während der Krise wachsende Arbeitslosigkeit eindämmen. Dieses Instrument wurde beispielsweise in Griechenland, den Niederlanden, Spanien und Polen angewandt. Wenn befristete Arbeitsverträge für junge ArbeitnehmerInnen jedoch die Norm werden, schwächt dies ihre Verhandlungsposition und kann sich negativ auf ihre Gehälter auswirken. Ein Beispiel dafür ist Frankreich, wie wir hier in einer Nahaufnahme zeigen.
Nahaufnahme
Extrem kurze Arbeitsverträge in Frankreich
Außerdem deuten Forschungsergebnisse darauf hin, dass die „Sprungbrett-Funktion“ befristeter Beschäftigungsverhältnisse hin zu einer Festanstellung inzwischen schwächer geworden ist: Zwischen 2008 und 2014 sind die Übergangsraten von befristeten zu unbefristeten Verträgen in einer Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten zurückgegangen, während die Übergänge von befristeten Beschäftigungsverhältnissen in die Arbeitslosigkeit zunahmen. Allerdings sollte beachtet werden, dass sich sowohl der Anteil temporärer Beschäftigungsverhältnisse als auch die Übergangsraten von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat teils stark unterscheiden. So beträgt der Anteil befristeter Arbeitsverhältnisse in Spanien und Polen beispielsweise über 20%, während in Großbritannien nur 5% der ArbeitnehmerInnen temporäre Arbeitsverträge haben. Dementsprechend sind die Übergangsraten zu unbefristeten Stellen in Spanien und Polen relativ gering, während sie in Großbritannien relativ hoch sind.
Selbstständigkeit: Für viele Europäer eine Last, kein Segen
Rund 32 Millionen Menschen in Europa sind selbstständig, was in etwa 15% der Erwerbstätigen in der EU entspricht. Vielen Selbstständigen geht es gut, insbesondere denen, die selbst Angestellte haben sowie FreiberuflerInnen mit hohem und stabilen Einkommen. Doch nur 54% der Selbstständigen, die selbst keine eigenen MitarbeiterInnen haben, geben an, dass die Selbstständigkeit ihr bevorzugter Weg war – 24% sagen dagegen, dass sie keine Alternative hatten.
Eine aktuelle Eurofound-Studie hat die Selbstständigen in folgende Gruppen eingeteilt: ArbeitgeberInnen; „stabile“ FreiberuflerInnen; KleinunternehmerInnen und LandwirtInnen; sogenannte „vulnerable“ Selbstständige; sowie Scheinselbstständige. Während die ersten beiden Gruppen, die in etwa die Hälfte der Selbstständigen in der EU ausmachen, die Vorteile ihrer Selbstständigkeit voll nutzen können, sind die „vulnerablen“ Selbstständigen (5,4 Millionen, 17% aller Selbstständigen) und Scheinselbstständige (2,6 Millionen, 8%) weniger autonom und haben oft keine wesentlichen Sozialversicherungsansprüche oder Möglichkeiten zur Weiterbildung bzw. zum Karrierefortschritt. Darüber hinaus leben sie oft mit einem hohen Maß an finanzieller Unsicherheit.
Die Gruppe der „vulnerablen“ Selbstständigen beziehen in der Regel niedrige Löhne und haben eine schlechte soziale Absicherung. Außerdem sind 55% dieser Gruppe von einem einzigen Kunden abhängig und mehr als drei Viertel verrichten ihre Arbeit, ohne dabei in Interaktionen mit Kollegen zu sein. Über 80% der benachteiligten Selbstständigen befinden sich in den unteren 40% der Einkommensverteilung und mehr als die Hälfte von ihnen würde im Krankheitsfall mit finanzieller Unsicherheit rechnen müssen. Die Gruppe der „vulnerablen“ Selbstständigen ist vor allem in Mittel- und Osteuropa vorherrschend, insbesondere in Rumänien, Kroatien und den baltischen Staaten. Fünf der zehn häufigsten Berufe in dieser Gruppe sind im Agrarsektor angesiedelt, andere gängige Berufe sind Reinigungskräfte oder Pflegekräfte.
Die Arbeitsbedingungen der Scheinselbstständigen sind sehr ähnlich zu denen normaler Angestellter: Sie erhalten eine regelmäßige Bezahlung, haben geregelte Arbeitszeiten und ein geringes Maß an Autonomie bei der Arbeit. Doch ähnlich wie bei den „vulnerablen“ Selbstständigen ist ihre Sozialversicherung schwach, und 60% dieser Selbstständigen wären im Krankheitsfall mit finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert. Scheinselbstständigkeit ist am weitesten verbreitet in Großbritannien und der Slowakei, gefolgt von Deutschland, Polen und den baltischen Staaten. Typischerweise sind diese Selbstständigen in der Bau- und Fertigungsbranche oder als TaxifahrerInnen tätig.
Eine scheinselbstständige Tätigkeit steht oft im Konflikt mit dem Gesetz, da es eine rechtliche Unterscheidung zwischen Selbstständigen und Angestellten gibt, um de facto ArbeitnehmerInnen vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes zu schützen und ihnen Zugang zur Sozialversicherung, Gesundheitsschutz und Arbeitsplatzsicherheit zu gewähren. Besonders im Baugewerbe ist Scheinselbstständigkeit weit verbreitet.
Erwerbsarmut: Ein Problem atypischer Beschäftigungsverhältnisse
Die Auffassung, Arbeit biete den besten Schutz vor Armut, ist weit verbreitet. Dennoch unterschreitet ein erheblicher Teil der Erwerbsbevölkerung in der EU die Armutsgefährdungsschwelle von 60% des nationalen Medianeinkommens. Diese so genannte Erwerbsarmut nahm seit Mitte der 2000er Jahre stetig zu und kletterte im EU-Durchschnitt von 8,2% der Erwerbstätigen im Jahr 2005 auf 9,6% im Jahr 2017.
Bemerkenswert ist hierbei, dass dieser Anstieg nicht auf eine bestimmte Gruppe von Ländern beschränkt ist. In Krisenländern wie Italien, Spanien oder Griechenland stieg die Erwerbsarmut während des wirtschaftlichen Abschwungs, der mit einer steigenden Arbeitslosigkeit und sinkenden Löhnen einherging. Jedoch hat mit Deutschland auch ein Land, das in den letzten Jahren einen starken Boom, sinkende Arbeitslosigkeit und steigende Löhne verzeichnet hat, gleichzeitig einen der deutlichsten Anstiege von Erwerbsarmut erlebt. Auch in vielen mittel- und osteuropäischen Ländern kam es trotz eines signifikanten Anstiegs des Durchschnittseinkommens zu einem Anstieg der Erwerbsarmut.
Die Verbreitung von Armut unter Beschäftigten variiert ebenfalls stark zwischen verschiedenen Beschäftigungsarten. Das geringste Risiko von Erwerbsarmut besteht bei Angestellten mit einem unbefristeten Beschäftigungsverhältnis auf Vollzeitbasis. Im Gegensatz dazu haben Selbstständige, Angestellte in atypischer Beschäftigung und junge Beschäftigte ein erhöhtes Risiko, von Erwerbsarmut betroffen zu sein. Im Vergleich zu 2005 verzeichneten diese Gruppen entsprechend auch einen überdurchschnittlichen Anstieg an von Erwerbsarmut Betroffenen.
Abschließend lassen sich die wichtigsten Erkenntnisse dieses Dossiers wie folgt zusammenfassen:
- Etwa jede/r zehnte ArbeitnehmerIn in Europa lebt unterhalb der Armutsgrenze. Die Erwerbsarmut ist seit 2005 stetig gestiegen. Junge Menschen und Personen in atypischen Beschäftigungsverhältnissen sind am stärksten betroffen.
- Für fast die Hälfte der 32 Millionen Selbstständigen in Europa stellt die Möglichkeit, aufgrund von Krankheit auszufallen, ein persönliches finanzielles Risiko dar.
- Im Jahr 2017 wollte etwa jede/r vierte Teilzeitbeschäftigte und jede/r zweite MitarbeiterIn mit einem befristeten Vertrag gerne in eine Vollzeit- oder Festanstellung wechseln, konnte aber keine finden.
- Während nur 14% der ArbeitnehmerInnen in der EU einen befristeten Vertrag haben, beträgt dieser Anteil bei jungen Menschen (15 bis 24 Jahre) 44%.
- In Frankreich werden jedes Quartal rund 4,5 Millionen extrem kurzbefristete Verträge abgeschlossen – viele davon laufen nicht länger als eine Woche, mit der gleichen Person, die immer wieder neu eingestellt wurde. Von dieser Praxis der Kettenverträge sind besonders junge ArbeitnehmerInnen betroffen.
Zu den AutorInnen:
Sylvia Schmidt ist Projektmanagerin bei der Bertelsmann Stiftung im Programm Europas Zukunft, wo sie sich mit Sozialpolitik und dem europäischen Binnenmarkt beschäftigt. Auf Twitter: @_sylvia_schmidt
Philipp Ständer ist Policy Fellow am Jacques Delors Institute Berlin im Forschungsbereich Wirtschafts- und Sozialpolitik. Auf Twitter: @P_Staender
Hinweis:
Hier finden Sie die vollständige Studie, auf der diese Serie basiert.