Um im Vorfeld der Europawahl durch lebensnahe und facettenreiche Perspektiven auf bekannte soziale Probleme und Herausforderungen zu einem besseren Verständnis der – oft sehr unterschiedlichen – Lebens- und Arbeitsbedingungen in Europa beizutragen, haben die Bertelsmann-Stiftung und das Jacques Delors Institute Berlin im Rahmen des „Repair and Prepare: Strengthening Europe“-Projekts eine gemeinsame Studie durchgeführt. „How are you doing, Europe? Mapping social imbalances in the EU“ konzentriert sich auf sechs soziale Herausforderungen, die anhand verschiedener Indikatoren und konkreter Fallbeispiele beleuchtet werden.
Die sechs Einzeldossiers der Studie werden ab sofort wöchentlich im Makronom veröffentlicht. Den Auftakt macht der folgende Beitrag zu den Entwicklungen auf dem europäischen Arbeitsmarkt. Alle bisher erschienen Beiträge der Serie finden Sie hier.
Die jüngsten Entwicklungen auf dem europäischen Arbeitsmarkt waren auf den ersten Blick sehr positiv: Die Beschäftigungsquote erreichte mit 73,2 % im 2. Quartal 2018 nicht nur einen historischen Höchstwert, sondern nähert sich auch dem langfristigen Ziel der EU 2020-Strategie von 75 %. Die EU-weite Arbeitslosigkeit sank auf 6,9 % und lag damit nur leicht über dem Vorkrisenniveau von 2008. Auch die Jugendarbeitslosigkeit ist innerhalb von zwei Jahren um vier Prozentpunkte auf 15 % in der EU gesunken.
Diese positiven Entwicklungen können aber nicht verdecken, dass die Krise im Beschäftigungsbereich große Unterschiede zwischen einzelnen EU-Mitgliedstaaten und sozio-ökonomischen Gruppen hinterlassen hat. Darüber hinaus sind die verbleibenden 17 Millionen Arbeitslosen einerseits eine heterogene Gruppe und andererseits nicht die einzige Bevölkerungsgruppe ohne Arbeit. Dieses Dossier wird sich deshalb den oft übersehenen sogenannten „wirtschaftlich inaktiven“ Menschen widmen, und zwar besonders jenen die gerne arbeiten würden (aber es aus diversen Gründen nicht tun), sowie den Langzeitarbeitslosen in Europa.
Hat sich der Arbeitsmarkt überall erholt?
Um den Aufschwung auf dem europäischen Arbeitsmarkt nach der Wirtschaftskrise qualitativ zu bewerten, sind drei Fragen von besonderer Relevanz. Erstens: Hat die Erholung alle Mitgliedstaaten erreicht? Zweitens: Welche Gruppen konnten von der Erholung profitieren, welche nicht? Und wo ist die Erholung weiterhin nur schwach ausgeprägt?
Seit 2013 ist die Beschäftigungsquote in allen Mitgliedstaaten gestiegen. Einen besonders starken Anstieg der Erwerbstätigenraten verzeichneten nicht nur EU-Mitglieder in Mittel- und Osteuropa, sondern mit Irland, Portugal oder Spanien auch einige von der Krise besonders betroffenen Länder, die aus einer tiefen Talsohle kamen. Insgesamt lässt sich aber der Anstieg der Erwerbstätigkeit in Europa über das Vorkrisenniveau vor allem auf die Entstehung von Arbeitsplätzen in zwei Ländern zurückführen: In Deutschland und Großbritannien wurden zusammengenommen seit 2008 mehr als acht Millionen neue Jobs geschaffen. Auf der anderen Seite ist das Beschäftigungsniveau in zehn EU-Mitgliedstaaten weiterhin niedriger als 2008.
Gestiegene Erwerbstätigkeit bei Frauen und älteren Menschen
Von der Arbeitsmarkterholung nach der Krise haben vor allem zwei Gruppen profitiert, die traditionell eher niedrigere Beschäftigungsraten haben: Frauen und Menschen in der Altersgruppe 55 bis 64 Jahre. Die Erwerbstätigkeitsquote von Frauen stieg zwischen 2008 und 2017 von 62,8 auf 66,5 %. Unter älteren Menschen fiel der Anstieg von 45,5 auf 57,1 % sogar noch stärker aus.
Dagegen haben die Beschäftigungsniveaus anderer traditioneller Arbeitsmarkt-„Outsider“, wie zum Beispiel junger Menschen zwischen 20 und 29 Jahren, von Nicht-EU MigrantInnen oder Menschen mit niedrigen Bildungsniveaus (mittlere Reife ohne anschließende Berufsausbildung) keine vergleichbare Erholung erfahren – im Gegenteil: Die EU-weiten Beschäftigungsniveaus dieser Gruppen sind im Vergleich zur Vorkrisenzeit sogar noch weiter gesunken. Das traditionell eher überdurchschnittliche Beschäftigungsniveau von Männern hat ebenfalls nicht zu dem allgemeinen Anstieg des Beschäftigungsniveaus beigetragen, denn es hat erst 2017 wieder sein Niveau von 2008 erreicht.
Zudem hat sich die durchschnittliche Wochenarbeitszeit der Europäer zwischen 2009 und 2013 um etwa eine Stunde verringert und ist seitdem nicht wieder angestiegen. Während viele Faktoren, wie beispielsweise ein Anstieg von Teilzeitarbeit und Beschäftigung im Dienstleistungsbereich hier eine Rolle spielen, deutet diese Entwicklung auch auf die fortbestehende Unterauslastung im Arbeitsmarkt hin. Wenn man einige ergänzende Messgrößen für die Arbeitsmarktauslastung berücksichtigt, verdoppelt sich die Arbeitslosenrate auf 14,3 % der europäischen Erwerbsbevölkerung. Zu diesen zusätzlichen Messgrößen zählen beispielsweise die Anteile der Unterbeschäftigten (die gerne mehr Stunden arbeiten würden) oder der „resignierten“ Arbeitslosen, die nicht mehr aktiv nach Jobs suchen, aber weiterhin dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.
Erwerbslosigkeit hat viele Gesichter
Beim Thema Arbeitslosigkeit denken wir häufig nur an zwei mögliche Kategorien: Entweder jemand hat einen Job oder eben nicht – und ist folglich arbeitslos. Diese Perspektive deckt jedoch bei weitem nicht das große Spektrum der verschiedenen Arten von Erwerbslosigkeit ab. So zählen zum Beispiel wirtschaftlich Inaktive nicht in die Arbeitslosenstatistik. Arbeitslosigkeit beschreibt damit nur einen Teil der gesamten Erwerbslosigkeit.
Wir fokussieren uns hier auf zwei Untergruppen von Erwerbslosen bei denen aufgrund der Kurz- und Langzeiteffekte aus unserer Sicht besonders Handlungsdruck besteht: auf die Langzeitarbeitslosen, die seit mehr als einem Jahr ohne Job sind und andererseits auf jene Menschen, die nicht aktiv nach Arbeit suchen aber dennoch willens sind zu arbeiten. Letztere stellen wiederum ihrerseits nur eine Untergruppe der sogenannten „wirtschaftlich Inaktiven“ dar.
Langzeitarbeitslosigkeit hat gravierende Auswirkungen auf das individuelle Wohlbefinden und die Teilhabechancen der Betroffenen, und die unfreiwillig Inaktiven werden leicht übersehen, wenn es um die Frage geht, wie arbeitslose Menschen wieder in Beschäftigung zu bringen sind. Deswegen sollen diese beiden Faktoren hier vertiefend beleuchtet werden.
Vor der Krise hatte sich die Zahl der wirtschaftlich Inaktiven in der EU insgesamt verringert. Während der Krise ist jedoch die Untergruppe der unfreiwillig Inaktiven größer geworden. Das lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass viele Arbeitssuchende angesichts fehlender Angebote ihre Suche einstellten und damit statistisch gesehen „inaktiv“ wurden, was aber nichts an ihrem grundsätzlichen Wunsch zu arbeiten änderte. Selbst jetzt bleibt der Anteil der Inaktiven, die gerne arbeiten würden, in vielen EU-Mitgliedstaaten substanziell. So zum Beispiel in Italien, wo sie ein Drittel der wirtschaftlich Inaktiven repräsentieren.
Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter nach Arbeitsmarktstatus (in %)
Die Gruppe der Inaktiven ist vielfältig, was sich sowohl in ihren unterschiedlichen Lebensbedingungen als auch in den Ursachen ihrer Inaktivität widerspiegelt. Die Gruppe umschließt Hausfrauen und -männer, FrührentnerInnen, Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen erwerbslos sind, oder auch resignierte Arbeitssuchende. Da sie normalerweise nicht bei ihren örtlichen Arbeitsämtern registriert sind, ist es viel schwieriger, sie mit Mitteln aktiver Arbeitsmarktpolitik zu erreichen, wie zum Beispiel mit Beratungsangeboten oder Jobtrainings.
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Verschiedene Erwerbslosigkeitsprofile in Italien
Doch auch wenn diese Menschen nicht aktiv nach einer Beschäftigung suchen, würden vier von fünf Inaktiven tatsächlich gerne zumindest einige Stunden pro Woche arbeiten. Und etwa zwei von fünf würden gerne 32 oder mehr Stunden einer Beschäftigung nachgehen. Die Bereitschaft, dies zu tun, ist besonders groß bei Hausfrauen und -männern sowie bei Studierenden. Einige der unterschiedlichen Beschäftigungsbarrieren, mit denen diese Gruppe konfrontiert ist, haben wir am Beispiel verschiedener Erwerbslosigkeitsprofile in Italien illustriert.
Eine Frage der Dauer: Konsequenzen von Langzeitarbeitslosigkeit
In einigen EU-Mitgliedstaaten kam es während der Krise zu einem drastischen Anstieg von Langzeitarbeitslosigkeit: In Spanien stieg der Anteil an der gesamten Arbeitslosigkeit zwischen 2008 und 2013 von 13 auf 50 %, in Italien sogar auf 69 %. Besonders stark von der Krise betroffene EU-Ländern sind dabei mit einem doppelten Problem konfrontiert: hoher Arbeitslosigkeit insgesamt sowie einem steigenden Anteil an Langzeitarbeitslosen. Infolgedessen reichen die Langzeiteffekte von Langzeitarbeitslosigkeit tief in die Erwerbsbevölkerung hinein und treffen auch sozio-ökonomische Gruppen, die normalerweise weniger von solchen Entwicklungen betroffen sind, wie zum Beispiel junge Arbeitssuchende oder auch mittlere und höhere Qualifizierungslevel.
Mit dem Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit erhöhte sich auch der Anteil der 15- bis 24-jährigen Langzeitarbeitslosen auf 8,1 % dieser Bevölkerungsgruppe in 2013. Dieser neue Rekordwert war zudem um einiges höher als die durchschnittliche Langzeitarbeitslosigkeit (5,1 %). Die negativen Folgen für junge Langzeitarbeitslose zeigen sich noch über die Krise hinaus: Auch wenn sich die Effekte auf aktive Arbeitsmarktteilhabe mit der Zeit verringern, müssen die Betroffenen Langzeiteffekte auf ihr Lebenseinkommen hinnehmen und haben eine größere Wahrscheinlichkeit, unter ihrem eigentlichen Qualifizierungsniveau beschäftigt zu sein.
Bei längerer Arbeitslosigkeit sind Arbeitssuchende außerdem mit einer Abwertung ihrer Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt und den aus der Arbeitslosigkeit resultierenden negativen psychologischen Effekten konfrontiert. Die Erfahrungen von längeren Phasen der Arbeitslosigkeit ist besonders schädlich für das Wohlergehen junger Menschen: Eine Eurofound-Studie zu den Auswirkungen der Wirtschaftskrise zeigte, dass junge Langzeitarbeitslose eine signifikant geringere Lebenszufriedenheit haben, weniger optimistisch in die Zukunft blicken und es als wahrscheinlicher einschätzten, sozial ausgeschlossen zu sein als jene, die nur für kurze Zeit arbeitslos sind, arbeiten oder studieren.
Besonders hervorstechend sind die negativen psychologischen Effekte, wie sie in der European Quality of Life Survey gemessen werden: Während Studierende, Arbeitende und Kurzzeitarbeitslose Werte von 69 oder 70 von 100 auf dem Index für psychologische Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation erreichen, beläuft sich dieser Wert für junge Langzeitarbeitslose nur auf 60.
Abschließend lassen sich die wichtigsten Erkenntnisse dieses ersten Dossiers wie folgt zusammenfassen:
- Zwischen 2013 und 2017 wurden in der EU 12,1 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen. Gleichzeitig ging die Zahl der Arbeitslosen aber um nur 7,4 Millionen zurück. Der Hauptgrund dafür ist, dass in dieser Zeit auch viele Nichterwerbspersonen ins Berufsleben eingestiegen sind.
- Bis Mitte 2018 ist die Arbeitslosigkeit in der EU auf 6,9% gesunken und lag damit nahe des Vorkrisenniveaus. Doch wenn man resignierte Arbeitssuchende und unterbeschäftigte Arbeitnehmer hinzufügt, beträgt die Quote 14,3%.
- Viele wirtschaftlich Inaktive sind mit ihrer Situation unzufrieden: Vier von fünf Nichterwerbspersonen in der EU möchten mindestens ein paar Stunden pro Woche arbeiten.
- 2017 lag die Zahl der Langzeitarbeitslosen noch 36% über dem Niveau von 2008. In acht EU-Ländern war sie immer noch mehr als doppelt so hoch. Deutschland ist das einzige Land der Eurozone, in dem die Langzeitarbeitslosigkeit unter das Niveau von 2008 gesunken ist.
Zu den Autoren:
Sylvia Schmidt ist Projektmanagerin bei der Bertelsmann Stiftung im Programm Europas Zukunft, wo sie sich mit Sozialpolitik und dem europäischen Binnenmarkt beschäftigt. Auf Twitter: @_sylvia_schmidt
Philipp Ständer ist Policy Fellow am Jacques Delors Institute Berlin im Forschungsbereich Wirtschafts- und Sozialpolitik. Auf Twitter: @P_Staender
Hinweis:
Hier finden Sie die vollständige Studie, auf der diese Serie basiert.