Deutschlands Wirtschaft ist schon seit Jahren nicht mehr so inklusiv, wie es früher einmal der Fall war – das Wirtschaftswachstum kommt weniger Menschen zugute. Das zeigt eindrücklich die folgende Grafik, welche die Entwicklung der Einkommensunterschiede bzw. der Armutsgefährdungsquote seit 1991 unter verschiedenen Aspekten betrachtet.
In Deutschland haben die regionalen und gesellschaftlichen Unterschiede in den Lebensbedingungen zweifellos zugenommen und zu weitreichenden Veränderungen in der politischen Landschaft geführt – das wurde zuletzt 2017 bei der Bundestagswahl sichtbar anhand einer merklichen Verlagerung der Wählerschaft ins rechte politische Spektrum.
Deutschland ist aber nicht das einzige westliche Land, das mit zunehmender Ungleichheit zu kämpfen hat, wie der World Inequality Report 2018 zeigt. Seit der globalen Finanzkrise gibt es etwa in den USA eine lebhafte Debatte über Ungleichheit. Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stiglitz folgert in seinem Buch „Der Preis der Ungleichheit“ gar, dass der Traum der Vereinigten Staaten als „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ in den letzten Jahren für die Allermeisten zerplatzt ist.
Blick über den großen Teich: die USA
Drei maßgebliche Faktoren haben zur Erhöhung der Einkommensungleichheit in den USA beigetragen:
- Die hohe Abhängigkeit von der Finanzwirtschaft und von finanzwirtschaftlichen Produkten („financialization“)
- Die Globalisierung, durch die viele weniger qualifizierte Arbeitsplätze in Schwellenländern ausgelagert wurden
- Der „Skill-Biased Technological Change“, eine Form des technologischen Wandels, bei dem qualifizierte Tätigkeiten mehr nachgefragt werden als unqualifizierte Tätigkeiten, und der zum Auseinanderdriften der Löhne führt (Autor et al., 2006; Baldwin & Venables, 2013; Lazonick, 2014)
Gelten diese Faktoren auch für Deutschland? Nicht wirklich. Erstens hat Deutschland ein anderes finanzwirtschaftliches Gefüge, das sich einer Abhängigkeit von der Finanzwirtschaft bisher entziehen konnte. Zweitens ist die klare Mehrheit der Deutschen Nutznießer der Globalisierung: Wir haben den weltweit größten Handelsüberschuss – und noch immer arbeiten mehr als 20 Prozent unserer Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe, etwa doppelt so viele wie in den Vereinigten Staaten. Drittens scheint der „Skill-Biased Technological Change“ in Deutschland nur eine geringe Rolle zu spielen. Eine aktuelle Studie über den Einsatz von Robotern zeigt sogar, dass diese nicht zwingend Arbeiter überflüssig machen – im Gegenteil: Arbeiter, die direkt an oder mit Robotern arbeiten, werden mit höherer Wahrscheinlichkeit weiterhin beschäftigt. Warum also ist die Einkommensungleichheit in Deutschland in den letzten zwei Jahrzehnten so stark gestiegen – schneller noch als in den Vereinigten Staaten?
Der Zusammenhang zwischen mangelnder Produktivität und sozialer Ungleichheit in Deutschland
Wir sind der Auffassung, dass die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen in Deutschland auch aus einem Rückgang des Produktivitätswachstums in den letzten zwei Jahrzehnten resultieren.
Der langfristige Rückgang der Arbeitsproduktivität, die 2013 fünfmal langsamer wuchs als noch im Jahr 1992, ließ die Angst vor einer Abschwächung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands aufkommen. Als Reaktion darauf begannen Staat und Unternehmen bereits Mitte der 90er Jahre, die Arbeitskosten zu senken. Durch diese, in erster Linie kostenorientierte, „Strategie“ wurden Leistungen des Sozialstaates zurückgefahren oder abgeschafft. Geringfügige Beschäftigung bei niedrigen Löhnen nahm zu, während die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer zeitgleich zurückging.
Zugleich senkten die Unternehmen ihre Arbeitskosten durch Outsourcing der Produktion, zumeist in kostengünstigere mittel- und osteuropäische Länder. Die Rücklagen der deutschen Unternehmen stiegen, während ihre Nettoinvestitionen angesichts des zunehmenden globalen Wettbewerbs und der sich abschwächenden Inlandsnachfrage zurückgingen. Da sich technologische Innovationen häufig im Kapitalstock, dem Bruttoanlagevermögen, niederschlagen, trug der Rückgang der Nettoinvestitionen zu einer Verringerung der Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität bei.
Infolgedessen stiegen die Unternehmensgewinne schneller als die Löhne, was zu einem Rückgang der Lohnquote führte – dies wiederum hatte zur Folge, dass Spitzeneinkommen schneller stiegen als die Einkommen der allgemeinen Bevölkerung. Die nächste Abbildung zeigt die Entwicklung des Top-10-Einkommensdezils (der Anteil des Volkseinkommens, der auf die oberen 10 % entfällt) seit 1980 – der Anstieg von etwa 10 Prozentpunkten bis 2011 sticht dabei hervor.
Wege zum inklusiven Wachstum: mehr Innovation und Unternehmertum
Um dem aktuellen Trend entgegenzuwirken und der Ungleichheit zu begegnen, muss Deutschland wieder innovativer werden. Denn Innovationen steigern das Wachstum der Arbeitsproduktivität und können so das Wachstum der Reallöhne vorantreiben. Dazu bedarf es mehr technologischer Innovationen, aber auch eines neuen Unternehmergeists, um Technologien in und über Unternehmen hinweg zu vermarkten und einzuführen.
Und obwohl Innovationen der wichtigste Hebel für inklusives Wachstum sind: Die goldene Zeit Deutschlands als führende Innovationsnation scheint in der Vergangenheit zu liegen. Ausgerechnet in dem „Land der Ideen“, in dem die Universität und das „Triple Helix“-Model erfunden wurden, nimmt die Innovationskraft ab.
Das mag auf den ersten Blick überraschen. Denn Deutschland verfügt in der Tat über erstklassige Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen wie etwa das Max-Planck-Institut oder die Fraunhofer-Gesellschaft. Auch bei den für Innovationen bereitgestellten Ausgaben schneidet Deutschland sehr gut ab. Deutsche Unternehmen gaben 2013 rund 140 Milliarden Euro für Forschung und Entwicklung (F&E) aus, und mehr als 354.000 Forscher waren in diesem Bereich tätig. Die Ausgaben für F&E haben sich seit dem Jahr 2000 um zwei Drittel und die Anzahl an Forschern um 37% erhöht. Insgesamt sind die Ausgaben für F&E kontinuierlich angestiegen, und lagen 2014 auf einem sehr guten Niveau von 3% des BIP. Doch wohin führen diese Aktivitäten? Nicht direkt zu mehr und besseren Innovationen, wie die Daten zeigen.
Das Verhältnis zwischen erfolgreich erteilten Patenten und angemeldeten Patenten ist bereits seit den späten 1980er Jahren langfristig rückläufig, wie die nachfolgende Abbildung illustriert. Aber nicht nur der Anteil der erfolgreichen Patentanmeldungen geht zurück. Es gibt Belege dafür, dass sich auch die Qualität der Patente, gemessen an zitierten Patenten, verschlechtert hat. In den 1980er Jahren gab es im Durchschnitt 14% weniger Patentanmeldungen als in den USA, in den 1990er Jahren 30% weniger und in den 2000er Jahren sogar 41%. Andere Länder wie China und Südkorea hingegen haben ihre relative Position bei den Patentanmeldungen gegenüber den Vereinigten Staaten in diesem Zeitraum verbessert. Daten der World Intellectual Property Organization (WIPO) zeigen, dass – gemessen an Patentanmeldungen – nur vier deutsche Unternehmen zu den 30 innovativsten Unternehmen in den Bereichen 3D-Druck, Nanotechnologie und Robotik gehören.
Wenn wir Innovation am Wachstum der Totalen Faktorproduktivität (TFP), einem indirekten Innovationsindikator, festmachen, dann waren die 1960er und 1970er Jahre die Zeit der deutschen Spitzeninnovation, die seitdem rückläufig ist – in ähnlicher Weise wie das Wachstum der Arbeitsproduktivität. Innovationen haben also offenbar das Wachstum der Arbeitsproduktivität nicht deutlich steigern können – das ist besonders besorgniserregend für inklusives Wachstum, da damit eine fortschreitende Senkung der Reallöhne zur Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit einhergeht. Ebenfalls wachsen die Unterschiede im Produktivitätswachstum zwischen Firmen der gleichen Branche. Das kann für inklusives Wachstum eine Herausforderung werden, da Löhne in wenigen Top-Unternehmen steigen, aber für die meisten Beschäftigten kaum.
Zwar sind die Gesamtausgaben für F&E hoch, sie konzentrieren sich jedoch auf größere Unternehmen. Viele Unternehmen in Deutschland investieren in der Tat nichts oder nur sehr wenig in F&E. Ein Indikator für die „Ungleichheit“ oder Konzentration der F&E-Investitionen von Unternehmen ergab, dass diese Ungleichheit mit einem Gini-Koeffizienten von rund 0,94 bis 2015 stark angestiegen ist, wie die folgende Grafik zeigt:
Warum tragen Innovationen trotz steigender F&E-Ausgaben nicht effektiv zur Steigerung der Arbeitsproduktivität bei – oder zu einer höheren Qualität und Quantität von erfolgreichen Patenten? Und warum investieren kleinere Unternehmen nur so wenig in die Bereiche Forschung und Entwicklung?
Ursachen für den Rückgang der deutschen Innovationskraft
Der Zweite Weltkrieg stellte einen strukturellen Bruch in der Innovationskraft Deutschlands dar. Das Land erlebte eine erhebliche Abwanderung von hochqualifizierten Spezialisten sowie massive Kriegszerstörungen. In den darauffolgenden Jahrzehnten litt Deutschland unter den Folgen des Kalten Krieges und der Teilung bis 1990. Aufgrund dieser besonderen Kombination „konnte Deutschland keine großen Teile seiner nationalen Ressourcen in risikoreiche Investitionen und in die Erforschung und Entwicklung neuer Technologien investieren“ (Fohlin, 2016: 18), obwohl die unmittelbaren Nachkriegsjahrzehnte ein schnelles Wirtschaftswachstum verzeichneten, das auf die Reparationen, den Marshall-Plan und einer Verlagerung der Arbeitskraft von der Landwirtschaft in den Dienstleistungssektor zurückzuführen ist.
Der Rückgang der Innovationstätigkeit kann auch auf einen Mangel an Diversität und Innovationsfähigkeit im deutschen Bildungssystem zurückgeführt werden. Es ist mitunter zu spezialisiert und zu sehr mit der derzeitigen Industriestruktur verflochten, außerdem zu wenig unternehmerisch und zu bürokratisch. Das erschwert die Übertragbarkeit von Qualifikationen auf andere Arbeitsplätze und Sektoren, zumal viele Qualifikationen firmenspezifisch sind. Torben Iversen und Thomas Cusack weisen daher darauf hin, dass „ein Land wie Deutschland mit einem Ausbildungssystem, das auf spezifische Fähigkeiten setzt, politisch sensibler für berufliche Veränderungen sein wird, als ein Land wie die Vereinigten Staaten, in dem das Bildungssystem auf allgemeine Fähigkeiten setzt“.
Ein letzter Grund ist, dass das Unternehmertum in Deutschland noch Potenzial hat. Das liegt nicht nur am Bildungssystem, sondern auch daran, dass die etablierten Unternehmen besonders defensiv mit ihrem Wissen umgehen, sowie an einer wachsenden Ungleichheit in Bezug auf Innovationen in Forschung und Entwicklung, die sich zwischen einer kleinen Gruppe führender und einer großen Gruppe abgehängter Unternehmen abspielt. Deutschland hinkt in diesem Zusammenhang hinterher – ganz gleich, ob man die Anzahl der Unicorns oder das Volumen des Risikokapitals heranzieht.
Eine bessere Innovationsförderung ist nötig
Um wieder mehr inklusives Wachstum zu erreichen, braucht Deutschland eine Agenda für innovationsgetriebene Wirtschaftspolitik, die zu einem stärkeren Produktivitätszuwachs führt.
Wir schlagen daher eine Reihe von Maßnahmen vor: Zentrale Grundannahme unserer Empfehlungen ist, dass sich technologische Innovationen nicht zwangsweise nachteilig auf den Arbeitsmarkt auswirken. Im Gegenteil: Es werden mehr technologische Innovationen, eine stärkere Verbreitung von Technologien und bessere Unternehmer bzw. Führungskräfte gebraucht, die in der Lage sind, sich auf neue Technologien einzustellen und diese sinnvoll einzusetzen. Konkret brauchen wir Unterstützungsmaßnahmen für KMU und für die Diversifizierung und Flexibilisierung des Bildungssystems, sowie zur Stärkung des Wettbewerbs, des Risikokapitals und zur Förderung von Unternehmensinvestitionen. All diese Maßnahmen müssen darauf einzahlen, dass Spitzeninnovationen in der gesamten Wirtschaft ankommen – und nicht nur bei einer Handvoll von „Superstar“-Firmen.
Das alles kann nicht von heute auf morgen geschehen. Daher ist in der Zwischenzeit die Stärkung des Sozialstaates von zentraler Bedeutung. Insbesondere eine ausgleichende Sozialpolitik sowie eine aktive Arbeitsmarktpolitik bleiben eine wichtige Verteidigungslinie gegen zunehmende soziale Ungleichheit. Angesichts der Herausforderungen, die der demografische Wandel mit sich bringt, ist es umso besser, je früher mit der Bewältigung des Innovationsstaus begonnen wird.
Zu den Autoren:
Dominic Ponattu ist Projekt-Manager bei der Bertelsmann Stiftung. Auf Twitter: @ponattudom
Paula Nagler ist Wissenschaftlerin am Institute for Housing and Urban Development Studies der Erasmus University Rotterdam.
Wim Naudé ist Professor für Entrepreneurship an der Maastricht University. Zudem ist er derzeit als Gastprofessor am Institut für Technologie- und Innovationsmanagement (TIM) der RWTH Aachen tätig.
Hinweis:
Eine frühere Version des Artikels ist zuvor auf dem Inclusive Productivity-Blog der Bertelsmann Stiftung erschienen.