Eurozone

Deutschlands stilles Rebalancing

Seit Jahren wird Deutschland für seine hohen Leistungsbilanz- und Haushaltsüberschüsse kritisiert. Allerdings wird dabei oft übersehen, dass Europas größte Volkswirtschaft bereits wichtige Schritte unternommen hat, um gegen bestehende Ungleichgewichte anzugehen – und dass Deutschland nicht der „fixer of last resort“ für die Währungsunion sein kann. Ein Beitrag von Donato Di Carlo.

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Seit der Finanz- und Staatsschuldenkrise stehen die Ungleichgewichte in der deutschen Volkswirtschaft im Fokus von Akademikern, Institutionen, der Öffentlichkeit und Politikern in Europa und darüber hinaus. Regelmäßig wird das deutsche Establishment aufgefordert, das exportorientierte Wirtschaftsmodell anzupassen, die Staatsausgaben zu erhöhen und so den weltweit größten Leistungsbilanzüberschuss zu reduzieren. Anscheinend freuen sich relativ wenig Menschen auf der Welt darüber, dass Deutschland vom „kranken Mann Europas“ zur Wachstumslokomotive geworden ist.

Aber wofür wird Deutschland kritisiert? Die Debatte ist sehr breit gestreut und von Unstimmigkeiten geprägt. Da kann es eigentlich nur hilfreich sein, die Dinge etwas zu sortieren. Die Debatte hat vier wesentliche Elemente: Bei den ersten beiden geht es darum, ob Deutschland eine angemessene Lohn- und Fiskalpolitik macht. Ein weiteres dreht sich um die empirischen Ausprägungen der makroökonomischen Politik, die sich in den anhaltenden Leistungsbilanzüberschüssen zeigen. Und der letzte Kritikpunkt konzentriert sich auf das konkrete Wachstumsmodell und die Implikationen, die der deutsche Exportweltmeister für die Eurozone und die globalen Ungleichgewichte hat.

Die Debatte hat verschiedene Dimensionen. So lässt sich beispielsweise trefflich darüber diskutieren, inwiefern die Leistungsbilanzüberschüsse für Deutschland selbst problematisch sind (Verteilungsgerechtigkeit, verschwendetes Auslandsvermögen, Investitionslücke etc.). Ich werde mich im Folgenden aber auf den EUROpäischen Kontext fokussieren.

Die Vorwürfe gegen Deutschland

Deutschland wird vorgeworfen, im Inland für Wachstum zu sorgen, indem es die Gesamtnachfrage aus anderen europäischen Ländern abzieht. Manche gehen sogar so weit zu behaupten, dass Deutschland „künstlich“ und „vorsätzlich“ die Binnennachfrage, die Staatsausgaben und die privaten Investitionen niedrig hält, um ein merkantilistisches Modell aufrecht zu erhalten. Angeblich würde sich Deutschland weigern, die Handelsbilanzungleichgewichte zu korrigieren und wegen der fixen Wechselkurse auf Kosten anderer Eurostaaten wachsen, die eine schmerzhafte interne Abwertung und Austeritätspolitik durchmachen mussten.

Daher wird Deutschland folgerichtig aufgefordert, seine Handelsbilanz- und Haushaltsüberschüsse zu verringern, um durch eine Steigerung seiner heimischen Nachfrage nach Exporten aus der Eurozone einen „symmetrischeren Anpassungsmechanismus“ für die Währungsunion bereitzustellen. Mit anderen Worten: Deutschland soll als eine Art „fixer of last resort“ agieren und eine entsprechende makroökonomische Politik praktizieren. Weil die Euro-Mitgliedschaft mit einem Verlust über den Wechselkurs und die Geldpolitik einhergeht, konzentrieren sich diese Kritik und Ratschläge auf die Lohn- und Fiskalpolitik.

Fangen wir mit der Kritik an. Lohnexperten argumentieren, dass Deutschland bei seinen realen Lohnstückkosten einen erheblichen internen Abwertungsprozess vollzogen hat: Sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor sind die Reallohnsteigerungen hinter das Produktivitätswachstum zurückgefallen, was dem deutschen Exportsektor einen Kosten- und Preisvorteil verschafft hat.

Fiskalexperten weisen auf den deutschen Haushaltsüberschuss hin und beklagen zu geringe Staatsausgaben. Die deflationäre Lohnpolitik habe die privaten Konsumausgaben in Deutschland und die Importe aus dem Ausland gebremst, was durch die Fiskalpolitik noch weiter künstlich verstärkt würde. Auf jeden Fall unterdrücke die Kombination aus restriktiver Lohn- und Fiskalpolitik die private und öffentliche Nachfrage, führe zu einer relativ niedrigen Inflation, erhöhe die Wettbewerbsfähigkeit über den realen Wechselkurs und somit den Handelsbilanzüberschuss – was anderen Eurostaaten einen exportgetriebenen Anpassungsprozess unmöglich mache.

Die politischen Empfehlungen sind konsistent zu dieser Kritik. Die realen Lohnstückkosten Deutschlands sollten schneller steigen als die der Wettbewerber. Außerdem sollte die deutsche Regierung mehr Geld ausgeben. Die Effekte dieser Politik würden zwei sich ergänzende Anpassungsmechanismen in Gang setzen: Einerseits würde die Kombination aus höheren realen Lohnstückkosten und einer expansiven Fiskalpolitik für Inflation sorgen, was wiederum den aus dem realen Wechselkurs resultierenden Wettbewerbsvorteil und den Leistungsbilanzüberschuss verringern würde – und den anderen Eurostaaten „Luft zum Atmen“ gibt. Auf der anderen Seite würde der steigende Konsum der privaten und öffentlichen Haushalte die Binnennachfrage und die Importe erhöhen.

Lohnpolitik

Im Großen und Ganzen ist die Kritik am gigantischen Leistungsbilanzüberschuss sicherlich zutreffend. Was die Kritiker jedoch gemein haben, ist, dass sie sich nicht fragen, was Deutschland bisher getan hat, um dieses Problem anzugehen – es ist immer einfacher, jemanden zum Sündenbock zu machen, als qualifiziert zu argumentieren. Schauen wir uns also die Lohn- und Fiskalpolitik genauer an, die Deutschland seit der Krise praktiziert hat.

Die realen Lohnstückkosten sind gestiegen, zwar langsam, aber doch konstant. In Relation zu seinen Handelspartnern hat Deutschland seit 2010 einen internen Aufwertungsprozess von rund 5% durchlaufen.

Die Cluster stellen ungewichtete Durchschnitte der jeweiligen Länder-Indizes dar. Performance relativ zum Rest der früheren EU-15: Doppelte Export-Gewichte. Quellen: Ameco, eigene Berechnungen

Wenn man etwas um seiner selbst willen kritisiert, kann man sicherlich immer fragen: „Wie viel ist genug?“ Aber dann sollte man auch genauer ausführen, welcher Gestalt diese höhere Aufwertung sein sollte und insbesondere inwiefern diese im deutschen Lohnsystem möglich ist. Die Tarifautonomie verbietet eine Einmischung der Regierung in die Tarifverhandlungen im Privatsektor. Zudem obliegt es seit den Reformen Mitte der 2000er Jahre den Finanzministern der Bundesländer, die Tarifverhandlungen für ihre Angestellten und Beamten zu führen (die Mehrheit der Beschäftigten im öffentlichen Dienst ist im Länderbereich beschäftigt). Und weil die Bundesländer ihre Steuereinnahmen kaum beeinflussen können, wäre es sinnlos zu erwarten, dass sie bereit sind, ihre Gehälter ohne eine fiskalische Föderalismusreform substanziell zu erhöhen, die den Ländern mehr Geld zuteilt.

Auf einer grundsätzlicheren Ebene ist zudem vollkommen unklar, warum man von einem Finanzminister eines einzelnen Bundeslandes erwarten sollte, auf die Bedürfnisse der Eurozone einzugehen, während er doch seinem Wahlkreis verpflichtet ist. Das einzige Instrument, mit dem die deutsche Bundesregierung auf den Lohnfindungsprozess einwirken könnte, ist durch eine Erhöhung des Mindestlohns über die Inflationsrate hinaus. Dies wurde bereits beschlossen und die Regierung steht kurz davor, eine Mindestlohnsteigerung von 4% zu ratifizieren.

Selbst wenn man annimmt, dass es strukturell möglich wäre, die deutsche Preisinflation durch Lohnsteigerungen über den Euro-Durchschnitt zu drücken, würde dies wahrscheinlich mehr schaden als nutzen. Angesichts von Deutschlands Gewicht in der Währungsunion würde dies enormen politischen Druck auf die EZB ausüben, ihre Geldpolitik zu straffen. Und das wäre für die Eurozone als Ganzes verheerend.

Fiskalpolitik

Wie steht es um die deutschen Finanzminister, sind sie wirklich so knausrig? Gemessen an den realen Staatsausgaben (abzüglich Zinszahlungen) hat Deutschland seit der Krise deutlich mehr ausgegeben als die meisten anderen OECD-Länder und auch viel mehr als die USA, die oft für ihre keynesianische Haushaltpolitik nach der Krise gefeiert werden.

Quellen: Ameco, eigene Berechnungen

Die Wahrheit ist, dass der Fokus auf die Haushaltsüberschüsse irreführend ist, weil in einer boomenden Wirtschaft das schnellere Einnahmenwachstum die Rechnung nach oben drückt. Auch hier kann man natürlich wieder fragen: „Wieviel ist genug?“ Aber hat nicht Keynes gesagt, dass das Horten von Geld in guten Zeiten essenziell ist, um es in schlechten antizyklisch auszugeben?

Der Leistungsbilanzüberschuss

Wie ist es um Deutschlands Leistungsbilanzüberschuss gegenüber seinen europäischen Partnern bestellt? Seit der Krise sind die deutschen Warenexporte in die EU relativ zu den Importen gesunken. Die innereuropäische Export/Import-Quote ist erheblich zurückgegangen. Tatsächlich weisen die Kernländer der Währungsunion zusammen mit den Visegrád-Staaten inzwischen eine höhere Export/Import-Quote als Deutschland auf. Zudem haben auch die südlichen Eurostaaten einen Markt für ihre exportgetriebene Erholung gefunden. Ihre Quote ist jedenfalls nennenswert gestiegen, auch wenn sie weiterhin mehr importieren als exportieren.

Werte über 100 zeigen an, dass Intra-EU-Exporte größer sind als die Intra-EU-Importe. Die Cluster stellen Länder-Durchschnitte dar. Quellen: Eurostat, eigene Berechnungen

Woher stammt also Deutschlands Leistungsbilanzüberschuss? Mit Sicherheit weder aus dem EU-Binnenmarkt noch aus der Eurozone. Seit dem Sommer 2008 ist Deutschlands Handelsüberschuss gegenüber den Euro-Partnern verschwunden. Der Leistungsbilanzüberschuss wurde ausschließlich durch den Handel mit Nicht-Eurostaaten getrieben. In diesem Sinne ist Deutschland 2008 heimlich, still und leise aus dem Euro „ausgetreten“ und hat dann die internationalen Märkte angegriffen. Das macht Donald Trump und Co. sehr wütend. Und die globalen Ungleichgewichte sind in der Tat ein ernsthaftes Problem, das von anderen auch bereits vielfach angesprochen wurde.

Quellen: Eurostat, eigene Berechnungen

Mit Blick auf den EU-Binnenmarkt lässt sich festhalten: Deutschland bietet bereits jetzt einen großen Exportmarkt für seine europäischen Nachbarn und ist fast für alle EU-Staaten der wichtigste Abnehmer. Der Vorwurf, dass Deutschland seinen Nachbarn keinen ausreichend großen Markt anbieten würde, scheint schlicht und ergreifend falsch zu sein.

Quellen: Eurostat, eigene Berechnungen

Exportgetriebenes Wachstum?

Wird das deutsche Wachstum von den Exporten getrieben, also vom Außenbeitrag (Exporte minus Importe)? Oder anders gefragt: „Klaut“ Deutschland Wachstum aus dem Ausland?

Ein Blick auf die Entwicklung des deutschen Bruttoinlandsprodukts seit der Finanzkrise zeigt, dass ein exportgetriebenes Wachstum eher eine historische Ausnahme denn ein strukturelles Feature der deutschen Volkswirtschaft zu sein scheint. Richtig ist: Zwischen 2001 und 2007 war das Wachstum tatsächlich exportgetrieben. Doch seit der Finanzkrise beruhte es aufgrund der steigenden Reallöhne und Staatsausgaben vor allem auf dem Konsum der privaten Haushalte sowie auf öffentlichen und privaten Investitionen. Und ja: Der Exportanteil am BIP mag immer noch hoch sein, doch die Daten zeigen, dass die Exporte nicht sonderlich stark zur deutschen Performance der letzten Jahre beigetragen haben.

Quellen: Ameco, eigene Berechnungen

Heißt das, dass in Deutschland jetzt alles gut ist? Nein.

Die Eurozone ist weiterhin fragil und muss ständig reformiert werden. Wenn die deutsche Politik nicht will, dass sie von anderen (meiner Meinung nach zu Unrecht) ständig für alles verantwortlich gemacht wird, was in der Währungsunion schief läuft, dann sollte sie sich besser für eine ernsthafte Euro-Reform einsetzen, die „blühende Landschaften“ für Europa als Ganzes und nicht für Deutschland alleine anstrebt. Ob es der deutschen Politik gefällt oder nicht – sie ist Teil eines Gemeinschaftsprojekts.

Aber auch die anderen europäischen Nachbarn sollten nicht darauf bestehen, dass die Probleme der Eurozone schon gelöst werden, wenn Deutschland nur bloß eine keynesianische Politik machen würde: Deutschland sollte und kann nicht der „fixer of last resort“ für die Währungsunion sein. In harten Zeiten braucht die Eurozone supranationale Anpassungsmechanismen. Immerhin scheint es eine Priorität zu geben, auf die sich die Deutschland-Kritiker und -Verteidiger einigen können: Es ist in jedem Fall zu vermeiden, dass eine makroökonomische Anpassung ausschließlich durch die Kompression von Löhnen und öffentlichen Investitionen geschieht.

Zwei institutionelle Reformen könnten diesen Zweck erfüllen: Eine gemeinsame europäische Arbeitslosenversicherung, die auf den nationalen Kaufkraftparitäten beruht, könnte als automatischer Stabilisator wirken, um den privaten Konsum in Ländern zu unterstützen, deren Staatshaushalte in einer Krise unter Druck geraten. Zweitens wäre es vorstellbar, dass die Europäische Zentralbank die Emission von Europäischen Wachstumsbonds durch die Europäische Investitionsbank im Rahmen eines europäischen Investitionsplans unterstützt. Allerdings werden Reformen wie diese momentan von Versuchen überschattet, mittels einer Kapitalmarktunion eine finanzielle Reparatur für die strukturellen Schwächen der Währungsunion zu schaffen.

Und nur um Missverständnisse zu vermeiden: Ich behaupte nicht, dass Deutschlands Leistungsbilanz- und Haushaltsüberschüsse gut und erstrebenswert wären. Das Ziel dieses Beitrags war es, empirisch zu zeigen, dass Deutschland bereits wichtige Schritte unternommen hat. Man könnte dies ein „stilles Rebalancing“ nennen. Das sind gute Nachrichten, die wir im Hinterkopf behalten sollten, wenn wir nach einer konstruktiven europäischen Politik streben.

 

Zum Autor:

Donato Di Carlo ist Doktorand am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die „Spielarten des Kapitalismus“-Debatte, die vergleichende Politische Ökonomie, die Institutionenanalyse und Arbeitsbeziehungssysteme. Auf Twitter: @donadica