Analyse

Wie sich die Unsicherheit auf dem deutschen Arbeitsmarkt entwickelt hat

Seit Anfang der 1990er Jahre ist die Unsicherheit auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt stetig angestiegen und hat sich mittlerweile auf einem stark erhöhten Niveau eingependelt – mit dramatischen Konsequenzen für die betroffenen Menschen. Wie kann die Politik dagegen angehen und gleichzeitig die wirtschaftliche Dynamik fördern? Ein Beitrag von Tom Krebs.

Wacklige Arbeitsverhältnisse: Eine erhöhte Unsicherheit wirkt sich negativ auf das Wohlbefinden von Menschen aus. Foto: Pixabay

Seitdem Thomas Piketty in seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ die ökonomische Ungleichheit in den Mittelpunkt seiner Analyse des Kapitalismus gerückt hat, wird auch in der Öffentlichkeit wieder verstärkt über das Thema diskutiert.  Dabei liegt der Fokus der Debatte häufig auf der Frage, ob die Verteilung der Einkommen oder Vermögen in den letzten Dekaden ungleicher geworden ist. Diese Frage ist wichtig – aber ebenso wichtig ist, wie sicher oder unsicher sich die Menschen fühlen und ob dieses Unsicherheitsgefühl angestiegen ist.  Denn zu viel ökonomische Unsicherheit schafft Unzufriedenheit und damit den Nährboden für Populismus, Brexit und Trump.

Anstieg der Unsicherheit in Deutschland

Wie hat sich nun die ökonomische Unsicherheit auf dem deutschen Arbeitsmarkt entwickelt?  Gemeinsam mit meiner Kollegin Yao Yao bin ich dieser Frage in einer Studie nachgegangen. Dabei haben wir die ökonomische Unsicherheit am Arbeitsmarkt gemessen, indem wir das Ausmaß der nicht vorhersehbaren Veränderungen des Erwerbseinkommens einzelner Erwerbspersonen ökonometrisch schätzten.  Darüber hinaus unterschieden wir zwischen transitorischen, also vorübergehenden, und permanenten Veränderungen des Erwerbseinkommens.  Die permanente Komponente der geschätzten Unsicherheit erfasst im Wesentlichen, inwieweit sich die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe unerwartet und unwiderruflich für die einzelnen Menschen verändert haben.

Das wichtigste Ergebnis unserer Studie ist in der nachfolgenden Abbildung dargestellt.  Sie zeigt, dass sowohl die transitorische als auch die permanente Komponente der Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt in Westdeutschland ab Anfang der 1990er bis zum Ende der 1990er Jahre stetig angestiegen ist. Darauf folgte ein leichter Rückgang der Unsicherheit Anfang der 2000er Jahre und das Einpendeln auf einem stark erhöhten Niveau, das fast einer Verdoppelung der Unsicherheit im Vergleich zur Situation in den 1980er Jahren entspricht.  In anderen Worten: In den 1990er Jahren ist die Unsicherheit auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt unabhängig von konjunkturellen Betrachtungen erheblich angestiegen.

Aufgrund der fehlenden Daten ist eine Messung der Unsicherheit in Ostdeutschland vor Mitte der 1990er Jahre nicht möglich und im Zeitraum 1995-2008 ist die Einkommensunsicherheit eher konstant geblieben. Quelle: Tom Krebs & Yao Yao (2016): „Labor Market Risk in Germany,“ IZA Discussion Paper 9869

Unsicherheit schafft Unzufriedenheit

In unserer Studie beantworten wir auch die Frage, wie sich dieser Anstieg der Unsicherheit auf das Wohlergehen der betroffenen Erwerbspersonen ausgewirkt hat.  Dabei gehen wir im Einklang mit der experimentellen Evidenz davon aus, dass die meisten Menschen eine Abneigung gegen Unsicherheit besitzen. Unsere Berechnungen zeigen, was für dramatische Konsequenzen der in der Abbildung dargestellte Anstieg der Unsicherheit für die betroffenen Menschen gehabt hat: Die gemessene Arbeitsmarktunsicherheit hat sich so stark negativ auf ihr Wohlbefinden ausgewirkt, als wären ihre durchschnittlichen Lebenseinkommen um ca. 10 Prozent gekürzt worden!

Was sind die Ursachen?

Welche Faktoren haben die Unsicherheit auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt in den 1990er Jahren ansteigen lassen? Es liegt nahe, diese Frage mit einem Hinweis auf die deutsche Wiedervereinigung zu beantworten. Eine solche Antwort greift jedoch zu kurz, denn sie erklärt nicht die tiefergehenden Ursachen für den Anstieg der Unsicherheit. Mindestens drei strukturelle Entwicklungen haben in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle gespielt:

1.

Die wirtschaftliche Integration der osteuropäischen Staaten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs: Zwar hat die deutsche Wirtschaft stark von der Möglichkeit der Verlagerung von Teilen der Wertschöpfungskette nach Osteuropa profitiert, aber diese Entwicklung hat auch großen Druck auf den deutschen Arbeitsmarkt ausgeübt. Dies ist nur ein Beispiel von vielen, wie die Globalisierung sogenannte „Verlierer“ und „Gewinner“ schafft und so zu mehr ökonomischer Unsicherheit führen kann. Dieser Zusammenhang zwischen Phasen der Handelsliberalisierung und Unsicherheit am Arbeitsmarkt ist theoretisch fundiert und empirisch belegt.

2.

Die Mitte der 1990er Jahre einsetzende Flexibilisierung des deutschen Arbeitsmarkts: Insbesondere hat in diesem Zeitraum die Tarifbindung in Westdeutschland stark abgenommen und wurde der staatliche Kündigungsschutz erheblich gelockert. Eine solche Deregulierung kann sich positiv auf die Gesamtbeschäftigung auswirken, aber sie führt in der Regel auch zu sinkenden (Real-)Löhnen und mehr Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt.

3.

Die fortschreitende Automatisierung der Produktion: Der technologische Wandel lässt alte Jobs verschwinden und neue Jobs entstehen. Zwar hat die Automatisierung in Deutschland netto zu keinem Rückgang der Anzahl der Arbeitsplätze in den betroffenen Branchen geführt, doch gab es sowohl Gewinner als auch Verlierer der Automatisierung.  In diesem Sinne hat der technologische Wandel auch in Deutschland ökonomische Unsicherheit erzeugt.

Was kann die Politik tun?

Verbleibt die Frage, welche Maßnahmen die Politik ergreifen kann, um die negativen Konsequenzen der gestiegenen Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt wirksam zu bekämpfen.  Sicherlich sollte die Antwort nicht eine Politik der wirtschaftlichen Abschottung sein – „Handelskriege“ helfen am Ende niemandem. Ebenso kann der technologische Fortschritt nicht ohne erhebliche Nebenwirkungen aufgehalten werden. Doch was kann dann getan werden, um die gestiegene Unsicherheit erfolgreich zu bekämpfen und gleichzeitig die wirtschaftliche Dynamik zu fördern?

Im Prinzip ist die Antwort einfach, auch wenn die Umsetzung in der wirtschaftspolitischen Praxis nicht immer ganz leichtfällt.  Eine erfolgreiche Agenda gegen die ökonomische Unsicherheit und den damit verbundenen Populismus sollte auf den folgenden drei Säulen aufbauen.

Zum Ersten muss Bildung eine zentrale Rolle spielen. Dabei geht es nicht nur um die Umschulung und berufliche Weiterbildung von Arbeitslosen, sondern ebenso um die Betreuung und Erziehung unserer Kinder in Kitas und Schulen.  Eine nachhaltige Strategie gegen ökonomische Unsicherheit muss immer zweigleisig fahren: Sie muss sowohl den heute betroffenen Menschen durch Fortbildung helfen als auch der zukünftigen Generation mehr Chancen durch hochwertige Bildungsinstitutionen bieten. Leider wurde die besonders wichtige frühkindliche Bildung in Deutschland lange Zeit sträflich vernachlässigt, so dass hier trotz der Fortschritte der letzten Jahre immer noch ein großer Nachholbedarf besteht.

Ein weiterer Baustein sind öffentliche Infrastrukturinvestitionen in den Regionen Deutschlands, die besonders stark mit den Schattenseiten der Globalisierung und Digitalisierung zu kämpfen haben. Um den Menschen in diesen Regionen die uneingeschränkte Teilhabe am wirtschaftlichen und gesellschaftliche Leben zu ermöglichen, muss beispielsweise die Verkehrsinfrastruktur modernisiert und der flächendeckende Glasfaserausbau vorangetrieben werden. Wie ich gemeinsam mit Manuela Barišić und Martin Scheffel in einer früheren Studie gezeigt habe, können sich öffentliche Infrastrukturinvestitionen in den strukturschwachen Regionen Deutschlands für alle lohnen.

Die dritte Säule ist ein fairer und effizienter Sozialstaat, der die Menschen gegen Arbeitslosigkeit und andere Arbeitsmarktrisiken schützt. Dabei ist wie bei jeder Versicherung zu beachten, dass es nicht zu Fehlanreizen kommt – Arbeit muss sich lohnen. Diesen Grundsatz erfüllt der deutsche Sozialstaat im Bereich der unteren Einkommen leider nicht und es besteht erheblicher Reformbedarf. Die Liste der Maßnahmen, die die Arbeit für Erwerbspersonen mit niedrigeren Einkommen attraktiver macht, ist lang und allgemein bekannt. Um nur die wichtigsten zu nennen: Senkung der Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen mit niedrigem Erwerbseinkommen, Änderung der Anrechnungsregeln im Transfersystem, ein angemessener Mindestlohn, eine angemessene Mindestrente für langjährige Beitragszahler und ein von den Beitragsjahren abhängiges Arbeitslosengeld II mit höheren Freibeträgen.

Fazit: Problem erkannt, aber noch lange nicht gebannt

Die Evidenz bestätigt den Eindruck vieler Menschen, dass in Deutschland die Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt zugenommen hat.  Eine erfolgreiche politische Antwort auf diese Entwicklung sollte auf drei Säulen aufbauen: ein modernes Bildungssystem, eine flächendeckende Infrastruktur und ein wirksamer Sozialstaat. Leider hat Deutschland in diesen wichtigen Bereichen erheblichen Nachholbedarf und Reformen sind notwendig. Dies scheint auch die Politik erkannt zu haben, denn der Koalitionsvertrag von CDU/CDU und SPD enthält erste Schritte, um die angesprochenen Defizite auszugleichen. Was es jetzt braucht, ist eine konsequente Umsetzung und Verstetigung der geplanten Vorhaben der neuen Bundesregierung in den Bereichen Bildung und Betreuung, öffentliche Investitionen und Sozialversicherung.

 

Zum Autor:

Tom Krebs ist Professor für Makroökonomie und Wirtschaftspolitik an der Universität Mannheim.