Der neue Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) tobt derzeit mit Kommentierungen zur angeblichen Lage der Nation durch die Medien, die sämtlichen Lehrbuchempfehlungen der Aufmerksamkeitsökonomie entsprechen und damit auch ihre beabsichtigte Wirkung entfalten: Er ist im Gespräch und über ihn wird gesprochen und gestritten. Das folgt dem Muster einer durchaus erfolgreichen medialen Inszenierung, bei der es nicht zum ersten Mal oftmals überhaupt nicht um die Inhalte, geschweige denn um die betroffenen Menschen geht, sondern darum, das eigene Lager zu bedienen. Das macht Spahn gut.
Aber weniger gut machen andere ihren Job, beispielsweise Medien, die gar von sich behaupten, hinter ihnen würden sich die klugen Köpfe versammeln. Ausgangspunkt war die im Kontext der hitzigen Debatte um die Essener Tafel getätigte Aussage Spahns, Hartz IV sei nicht Armut, sondern „die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut“. Und er erinnerte an die Steuerzahler, die das alles bezahlen müssen. Sofort begann eine Debatte darüber, ob das nun stimme oder eine Verhöhnung der betroffenen Menschen darstelle.
Altbekannte Empörungsrituale
Und Spahn hat dann noch einen Scheit nachgelegt, um das Feuer am Brennen zu halten und eine Diskussion aufgemacht, die gerade älteren Semestern sehr bekannt vorkommt: Die einen da unten werden die anderen da unten ausgespielt, und gleichzeitig wird an die Aversionen gegen Umverteilung appelliert. So sagte er, eine Verkäuferin im Einzelhandel habe weniger, um ihre Familie zu versorgen, als jemand, der den Hartz-IV-Satz bekomme. Das ist ein gezielter Schlag in Richtung der bekannten Empörungsrituale, die der alten Mechanik des Vergleichs von unten mit unten folgen. Das kann ja nun auch wirklich nicht sein, dass jemand, der arbeitet, weniger hat als so ein Hartz IV-Empfänger.
Nun weiß eigentlich jeder, der sich ein wenig mit der Materie beschäftigt, dass da irgendwas nicht stimmen kann. Denn im Grunde gilt das einfache Prinzip, dass jemand, der Einkommen aus Erwerbsarbeit hat, immer bessergestellt ist als diejenigen, denen ausschließlich Grundsicherungsleistungen zur Verfügung stehen. Es geht hier ausdrücklich nicht um den seit langem und von vielen kritisierten Tatbestand, dass die Differenz aufgrund von prohibitiv hohen Entzugsraten beklagenswert gering sei und die daraus abgeleitete Forderung, dass die arbeitenden Menschen mehr haben sollten – aber dass sie weniger haben, das kann eigentlich nicht sein. Sonst würde es beispielsweise nicht hunderttausende Hartz IV-Empfänger geben, die einem Minijob nachgehen, aus dem sie bis zu 160 Euro zusätzlich behalten dürfen.
Flankenschutz erhielt Jens Spahn gestern von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), die unter Berufung auf Zahlen des Bundes der Steuerzahler berichtete, dass „Hartz IV sich oft mehr als Arbeit“ lohnen würde. So würden „neue Daten“ zeigen: „Wer eine vierköpfige Familie hat und arbeitet, kommt erst bei 15,40 Euro Stundenlohn auf Hartz-Niveau.“ Sicher werden viele bei diesen Zahlen sofort an den gesetzlichen Mindestlohn denken, der mit 8,84 Euro weit weg ist von jenen 15,40 Euro Stundenlohn, von dem Millionen Arbeitnehmer nur träumen können.
Der Artikel ist garniert mit einer Berechnungstabelle. Schauen wir uns die zugrundeliegende Argumentation einmal genauer an. In der FAZ heißt es: „Wer eine vierköpfige Familie ernähren will, braucht als Arbeitnehmer schon heute mindestens 2.540 Euro Bruttolohn im Monat, um netto Hartz-IV-Niveau zu erreichen, zeigen die Berechnungen des Steuerzahlerbundes. Für eine fünfköpfige Familie sind dazu mindestens 3.300 Euro Bruttolohn erforderlich. Geht man von einer Arbeit mit 38-Stunden-Woche aus, benötigen Alleinverdiener mit Partner und zwei Kindern hierfür einen Stundenlohn von mindestens 15,40 Euro, bei drei Kindern sind sogar 20 Euro Stundenlohn nötig. Laut Steuerzahlerbund werden der vierköpfigen Familie monatlich 610 Euro Sozialabgaben und Steuern abgezogen, der fünfköpfigen Familie 972 Euro.“
Irreführende Berechnungen
Die Beträge für die Hartz IV-Empfänger sind korrekt – aber die Zahlen für den alleinverdienenden Arbeitnehmers mit einem nicht-erwerbstätigen Partner und zwei oder gar drei Kindern sind grob fehlerhaft. Fahrlässig können sie eigentlich nicht sein, wurde die Berechnung doch vom Bund der Steuerzahler erstellt und der sollte schließlich rechnen können. Nun kann man das Weglassen bestimmter Posten durchaus als kreative Rechenweise einordnen, aber man kann dabei eben auch erwischt werden.
Und was wurde „vergessen“ bzw. weggelassen? Bei den einzelnen Posten für die Hartz IV-Familie wurden bei einem Paar mit zwei Kindern die Regelbedarfe für die Erwachsenen und für die Kinder sowie zusätzlich die Kosten der Unterkunft (in angemessener Höhe) aufgelistet. Auf der anderen Seite, bei dem Alleinverdiener, wurde dann ein Bruttomonatseinkommen gewählt, mit dem man nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben netto auf den gleichen Betrag kommt wie die Hartz IV-Familie.
Aber faktisch hat die Arbeitnehmerfamilien erkennbar mehr Geld zur Verfügung, denn: Vergessen bzw. unterschlagen wird die Tatsache, dass die durchschnittliche Gesamtregelleistung für den Hartz IV-Haushalt das Kindergeld in Höhe von 388 Euro (für zwei Kinder) beinhaltet, weil es schlichtweg vollständig angerechnet wird. Beim Nettolohn ist dies nicht der Fall. Unsere Familie mit einem erwerbsarbeitenden Alleinverdiener bekommt die 388 Euro Kindergeld selbstverständlich zusätzlich zu dem in der FAZ-Tabelle ausgewiesenen Betrag für den Nettolohn. Und je nach Wohnort und Mietkostenverhältnisse kann auch Wohngeld in Anspruch genommen werden, das man ebenfalls berücksichtigen muss, denn in dem Betrag für die Hartz IV-Empfänger sind die Wohnkosten ja auch enthalten.
Und man sollte bei einer Gesamtschau auch noch den folgenden Tatbestand berücksichtigen: Die als abschreckende Referenz herangezogene Familie (zwei Erwachsene mit Kindern) ist im SGB II gar nicht so häufig. 55% der Bedarfsgemeinschaften sind Single-BGs, bei denen Bedürftige schon mit einem relativ geringen Einkommen ein Niveau über Hartz IV erreichen können bzw. für die Einzelperson im Verhältnis am wenigsten Geld verfügbar ist. Nur knapp 16% der Bedarfsgemeinschaften sind Partner-BGs mit Kindern.
Auf den hier angesprochenen Aspekt mit dem niedrigeren Niveau bei den Alleinstehenden weist der FAZ-Artikel immerhin selbst hin. So sei „die Messlatte des Lohnabstandsgebots für Haushalte ohne Kinder niedriger“ (wobei hier nur angemerkt sei, dass das Lohnabstandsgebot des alten Sozialhilferechts seit der Einführung des Hartz IV-Systems nicht mehr gilt): „Alleinstehende brauchen 930 Euro Bruttolohn, um auf das Hartz-IV-Niveau von 737 Euro zu kommen.“ Das ist nun deutlich weniger, als man mit einem Mindestlohn-Job verdienen könnte.
Einige wenige haben sich ebenfalls mit Hinweis auf die irreführenden Berechnungen zu Wort gemeldet, so etwa der statistisch immer sehr aufmerksam-kritische Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ). Besonders hervorgehoben werden soll hier ein Beitrag, den Perry Feth in der Community des Freitag veröffentlicht hat. Auch Feth weist zunächst auf die Irreführungen des Steuerzahlerbundes hin und wird dann persönlich. Dazu muss man wissen, dass Feth selbst persönlich betroffen war, da er als alleinerziehender Vater im Hartz IV-Bezug war und dann einen 30 Stunden-Job gefunden hat.
Feth rechnet vor: „Während das ALG II-Bezuges standen mir ca. 1.850 Euro (inklusive angerechnetes KG) für Miete und alle Fixkosten zur Verfügung! Nach Abzug aller Fixkosten, hatte ich noch ca. 750 – 800 Euro für mich und meine Kinder zum Leben! Nach Aufnahme einer Tätigkeit von 30 Wochenstunden standen mir als alleinerziehender Vater, mit Wohngeld und Kindergeldzuschlag sowie Freibeträge 2.500 Euro zur Verfügung. Nach Abzug aller Fixkosten standen mir nun etwa 1.500 Euro zur Verfügung und ich hatte auch hier noch den Anspruch auf Bildung und Teilhabe-Leistungen, sowie einen Anspruch auf den Stadtpass, welcher Vergünstigungen gewährt. Ich hatte also bei einer kinderfreundlichen 30 Wochenstundenarbeitszeit gut 700 Euro netto jeden Monat mehr!“
Fazit: Grundsätzlich gilt, dass es im bestehenden System nicht sein kann, dass man mit Erwerbseinkommen weniger Geld zur Verfügung hat, als wenn man nicht über ein solches Einkommen verfügt. In Einzelfällen kann es sein, dass man geldwerte Vorteile wie die GEZ-Gebührenbefreiung oder begrenzte Vergünstigungen bei Sozialtickets oder ähnlichem verliert. Auf der anderen Seite muss man zur Kenntnis nehmen, dass bei den Hartz IV-Empfängern in nicht wenigen Fällen die eigentlich zustehenden Leistungen gekürzt werden – man denke hier an die hunderttausenden Sanktionsfälle oder die Tatsache, dass im vergangenen Jahr aus den Regelleistungen fast 600 Millionen Euro für die Deckung von Unterkunftskosten finanziert werden mussten, da die Jobcenter nicht die ganze Miete übernommen haben, die Betroffenen aber selbst wenn sie es wollten, keinen billigeren Wohnraum finden konnten.
Existenzminimum und Erwerbseinkommen folgen nicht der gleichen Logik
Und grundsätzlich liegt das Problem darin, dass man hier Leistungen des Staates, die einen (wie von vielen übrigens kritisiert wird: zu niedrig festgelegten) vorgegebenen Bedarf zur Abdeckung des soziokulturellen Existenzminimums widerspiegeln sollen, mit Erwerbseinkommen vergleicht, die einer ganz anderen Logik folgen. Ein Mindestlohngehalt hebt eine alleinstehende Person über die Schwelle der Hartz IV-Bedürftigkeit – nicht aber eine Person, die mit ihrem Lohn eine Familie mit einem nicht-erwerbstätigen Partner und zwei oder drei Kindern unterhalten muss. Das liegt aber zum einen an der defizitären Ausgestaltung des Familienleistungsausgleichs und letztendlich auch an der Höhe der Löhne, über die aber gar nicht diskutiert wird.
Und auch die Tatsache, dass den Leistungsempfängern, die einer Erwerbsarbeit nachgehen, mit teilweise extrem prohibitiv ausgestalteten „Transferentzugsraten“ das Leben schwer gemacht wird, wurde immer wieder problematisiert und entsprechende Reformvorschläge veröffentlicht. So hat beispielsweise eine Studie der Bertelsmann-Stiftung als eine Reformoption die Integration von Arbeitslosengeld II, Wohngeld und Kinderzuschlag in eine universale Transferleistung mit einer konstanten Transferentzugsrate von 60 Prozent vorgeschlagen.
Dafür gibt es gute Argumente – aber es würde einen Effekt auslösen, der auch die von Sozialverbänden geforderte Anhebung der Regelleistungen im SGB II nach sich zöge, was wiederum erklärt, warum man das in der Bundesregierung meidet wie der Teufel das Weihwasser: Angesichts der Tatsache, dass Millionen Arbeitnehmer in unserem Land zu Niedriglöhnen arbeiten müssen (und nicht selten in Verbindung mit Teilzeitarbeit), würden zahlreiche neue Leistungsberechtigte in das System kommen. Man könnte erneut auf die Idee kommen, über die Löhne und ihre Höhe zu diskutieren – aber einfacher ist es natürlich, toter Mann bzw. Frau zu spielen und dem bekannten Muster eines Ausspielens der da unten gegen die da unten zu folgen.
Zu befürchten bleibt vor diesem Hintergrund, dass sich die irreführende Schlagzeile vom Hartz IV, das „oft mehr Geld als Arbeit bringt“, weiter verfangen wird. So übernahm beispielsweise auch die Tagesschau auf ihrer Homepage vorübergehend mit der gleichen Überschrift die FAZ-Meldung, hat sie immerhin aber inzwischen korrigiert. In zahlreichen anderen Meldungen, beispielsweise im ZDF, kursiert die Aussage weiterhin unkorrigiert. Dem Aufmerksamkeitsökonomen Jens Spahn und dem Bund der Steuerzahler dürfte das wohl durchaus Recht sein.
Nachtrag:
In einem weiteren Artikel zum Thema ist die FAZ zumindest am Rande auf die Kritik an ihrer Berichterstattung eingegangen und hat auf die Problematik der Nichtberücksichtung des Kindergeldes hingewiesen.
Laut einem Bericht des medienkritischen Portals Übermedien weist der Bund der Steuerzahler die Verantwortung für die hier kritisierte irreführende Gegenüberstellung der Zahlen von sich. Der Bund der Steuerzahler habe mitgeteilt, dass er lediglich gebeten worden sei, die Steuer- und Abgabenlast von Geringverdienern zu berechnen, wobei bei diesen Brutto-/Nettoberechnungen Kindergeldzahlungen üblicherweise nicht berücksichtigt würden, da sie nicht Bestandteil des Lohns seien. „Für Vergleiche mit Nichterwerbstätigen müssen Sozialleistungen auf beiden Seiten selbstverständlich berücksichtigt werden“, wird BdS-Präsident Reiner Holznagel zitiert. „Die kritisierte Gegenüberstellung in der FAZ hat deshalb die Redaktion zu verantworten. Wir haben lediglich die Zahlen geliefert, die abgefragt wurden“, so Holznagel.
Zum Autor:
Stefan Sell ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz und Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung (ISAM). Außerdem betreibt Sell den Blog Aktuelle Sozialpolitik, wo dieser hier erweiterte Beitrag in zuerst in einer früheren Form erschienen ist.