Kommentar

Was der Versorgungsstopp der Essener Tafel über unseren Sozialstaat aussagt

Glück oder eben Pech zu haben mag als allgemeine Lebensphilosophie durchaus von unaufhebbarer Relevanz sein – es darf aber kein Maßstab für die sozialpolitische Gestaltung der Existenzsicherung von Millionen Menschen sein. Der Fall der Tafeln zeigt auf, dass dem aber offenbar doch so ist. Ein Kommentar von Stefan Sell.

Beladen eines Tafel-Wagens in Berlin: Am Anfang der Tafelbewegung stand die Idee, Lebensmittelvernichtung zu vermeiden und gleichzeitig obdachlose Menschen davon profitieren lassen. Foto: Dagmar Schwelle/Bundesverband der Tafeln e.V.

Bei Institutionen ist es genauso wie bei Menschen: Jahrestage, vor allem im zweistelligen Bereich, werden gerne für einen Rückblick und eine umfassende Darstellung des eigenen Tuns verwendet. Und im Jahr 2018 können wir auf ein Vierteljahrhundert „Tafel-Bewegung“ schauen. Verständlich, dass der Bundesverband Deutsche Tafel das nutzen will, um über die eigene Geschichte und Arbeit zu informieren.

Die inzwischen 900 Tafeln in Deutschland seien nicht nur stille Ausgeber von Lebensmitteln, sondern sie legten auch „die Finger in die Wunde“, um auf Probleme aufmerksam zu machen, so Jochen Brühl vom Bundesverband der Tafeln in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Für ihn sind die Tafeln eine „Bürgerbewegung, die Veränderungen einfordere“, ein „guter seismografischer Faktor, um zu erkennen, was schiefläuft“.

Die Tafeln werden seit ihrer Gründung kontrovers diskutiert. Für die einen gehören sie abgeschafft, weil sie nicht nur ein symbolischer, sondern sehr handfester Ort seien, an dem ein degenerierter Sozialstaat vor der staatlichen Aufgabe der Gewährleistung der Existenzsicherung armer Menschen kapituliert hat – ein Ort, an den man Menschen verweisen kann, denen man nicht genug Mittel zur Verfügung stellt, um sich selbst und ohne Rückgriff auf Almosen zu helfen. Auf der anderen Seite zeigt die Expansionsgeschichte der Tafeln, dass es offensichtlich eine reale Nachfrage nach den dort verteilten Lebensmitteln gibt – und den Betroffenen ist die theoretische Debatte ziemlich egal bzw. kommt sehr kopflastig daher. Nur durch die Lebensmittel der Tafeln können manche Menschen in den Genuss von Obst und Gemüse kommen.

Wie die Tafeln in Deutschland entstanden sind

Die erste deutsche Tafel ist vor 25 Jahren in Berlin entstanden – und gerade heutzutage sollte man sich den spezifischen Hintergrund ihrer Entstehungsgeschichte in Erinnerung rufen. Die 1993 von der Initiativgruppe Berliner Frauen e.V. gegründete Tafel wollte nach einem erschütternden Vortrag der damaligen Sozialsenatorin Ingrid Stahmer vor allem die Situation der Obdachlosen in der Stadt verbessern. Ein Mitglied der Gruppe war gerade aus den USA zurückgekehrt und hatte die Idee, das Konzept der New Yorker City Harvest auf Deutschland bzw. Berlin zu übertragen: nämlich Lebensmittel einzusammeln, die nach den Gesetzen der Marktlogik „überschüssig“ sind, und diese an bedürftige Menschen und soziale Einrichtungen weiterzugeben.

Am Anfang der Entwicklungsgeschichte der Tafeln wollte man also zwei gute und zugleich sehr begrenzte Anliegen miteinander verbinden: Lebensmittelvernichtung zu vermeiden und gleichzeitig obdachlose Menschen davon profitieren lassen.

Der ursprüngliche sehr begrenzte Ansatz der deutschen Tafeln hat sich in kurzer Zeit auch aufgrund der großen Medienberichterstattung erheblich transformiert

Mit Blick auf die Anfänge dieser Bewegung sind zwei Aspekte von besonderer Bedeutung: Die Berliner Tafel konzentrierte sich die ersten zehn Jahre ausschließlich auf die Belieferung sozialer Einrichtungen und betrieb keine eigenen Ausgabestellen. Zweitens bediente man zunächst nur die Obdachloseneinrichtungen, allerdings wurde dieser Ansatz bereits sehr frühzeitig auf andere soziale Einrichtungen wie Frauenprojekte, Kinderzentren oder Frühstücks- und Mittagsangebote für Arbeitslose erweitert. Heutzutage unterstützt die Tafel allein in Berlin über 50.000 Menschen im Monat über die Ausgabestellen von „Laib und Seele“, dazu kommen 75.000 Menschen in rund 300 sozialen Einrichtungen, Freizeitheimen, Notunterkünften für Obdachlose oder Tagesstätten für Senioren. Allein in der Hauptstadt verteilt die Tafel jeden Monat 660 Tonnen Lebensmittel.

Bundesweit sind die Tafeln zu einem gewaltigen „Unternehmen“ geworden: Derzeit gibt es 934 Tafeln mit mehr als 2.100 Tafel-Läden und Ausgabestellen. Etwa 60 Prozent der Tafeln sind Projekte in Trägerschaft verschiedener gemeinnütziger Organisationen (z.B. Diakonie, Caritas, DRK, AWO). Rund 40 Prozent sind eingetragene Vereine. Etwa 60.000 ehrenamtliche Helferinnen und Helfer engagieren sich für die Tafeln, über 2.000 Fahrzeuge sind im Einsatz, davon haben rund 59 Prozent eine Kühl- und rund 8 Prozent eine Tiefkühlfunktion.

Dabei muss man auch erwähnen, dass sich die Tafelbewegung schon längst internationalisiert hat. Die bereits seit 1986 existierende European Federation of Food Banks vereinte nach eigenen Angaben im Jahr 2016 unter ihrem Dach 37.200 Hilfsorganisationen, die eine Milliarde Mahlzeiten für 6,1 Millionen benachteiligte Menschen bereitstellten. Der ursprüngliche sehr begrenzte Ansatz der deutschen Tafeln hat sich in kurzer Zeit erheblich transformiert – auch aufgrund der von Anfang an großen Medienberichterstattung, wie der Bundesverband selbst hervorhebt.

Die Essener Tafel und die Flüchtlinge

Aber nun zurück in die Gegenwart. Das 25. Jubiläum der deutschen Tafelbewegung wäre eigentlich ein Anlass für eine generelle Debatte über die Tafeln, nicht nur über die Kritik an ihnen, sondern auch über das, was sie tagtäglich leisten. Und darüber hinaus kann man die öffentliche Aufmerksamkeit natürlich auch nutzen, wie das der Bundesverband versucht, um darauf hinzuweisen, dass weit über die Ausgabe von Lebensmittel an Bedürftige hinausreichende sozialpolitische Forderungen aufgestellt worden sind – hier die politischen Forderungen der Tafelbewegung in einer Selbstdarstellung des Bundesverbandes.

Aber wie so oft im Leben können einem aktuelle Entwicklungen einen gehörigen Strich durch die geplante Rechnung machen, vor allem wenn es sich um Entwicklungen handelt, die von einem Großteil der Medien aufgegriffen und auf eine Frage verengt werden. Wie in einem Lehrbuch können wir diese Tage studieren, wie das mediale Geschäft inklusive der reflexhaften politischen Reaktionen so funktioniert.

Am 22. Februar veröffentlichte die Westdeutsche Allgemeine Zeitung einen Beitrag, der auch bundesweit hohe Wellen geschlagen hat: Die Essener Tafel habe sich dazu gezwungen gesehen, nur noch Menschen mit deutschem Pass aufzunehmen, weil Flüchtlinge und Zuwanderer zwischenzeitlich 75 Prozent der insgesamt 6.000 Nutzer ausmachten. Der Vereinsvorsitzende Jörg Sartor wird von der WAZ mit einem Satz zitiert, der seitdem die Runde macht:

„Wir wollen, dass auch die deutsche Oma weiter zu uns kommt.“

Laut Sartor seien in den vergangenen zwei Jahren die älteren Tafel-Nutzerinnen sowie alleinerziehende Mütter offenbar einem schleichenden Verdrängungsprozess zum Opfer gefallen. Vor dem starken Flüchtlingszuzug im Jahr 2015 habe der Anteil nicht-deutscher Nutzer bei 35 Prozent gelegen, darunter seien auch viele gewesen, die schon seit Jahrzehnten hier leben und nur keinen deutschen Pass haben. Und so lange die Flüchtlinge noch in städtischen Unterkünften untergebracht waren, seien sie gar nicht bei der Tafel aufgetaucht, weil sie dort versorgt worden seien. Grundlegend geändert habe sich die Lage, als vor allem viele Syrer anerkannt wurden und Sozialleistungen erhielten, so Sartor weiter. Den Aufnahmestopp hatte die Essener Tafel übrigens bereits im Dezember 2017 beschlossen und auch auf ihrer Webseite veröffentlicht. Umgesetzt wird das seit Mitte Januar, aber erst durch den WAZ-Artikel wurde daraus eine nationale Welle.

Die Berichterstattung konzentriert sich seitdem auf den Aspekt, dass hier mit der Unterscheidung zwischen „Deutschen“ und „Nicht-Deutschen“ eine Trennlinie gezogen wird, die von den meisten Kommentatoren als eine unzulässige Differenzierung der Hilfebedürftigen angesehen wird. Zugleich wird der Tafel vorgeworfen, dass sie mit dieser Entscheidung den sich sowieso schon immer stärker ausbreitenden ausländerfeindlichen Stimmungen einen Unterbau verschafft. Dabei sollte man allerdings beachten, dass die Probleme der Tafeln weder neu noch auf die Essener Tafel begrenzt sind. Auch gab es in der Vergangenheit beispielsweise mit der Dachauer Tafel einen Fall, bei dem das Führungspersonal der lokalen Tafel eine offen fremdenfeindliche Haltung an den Tag legte.

Aber im Fall der Tafel Essen, die ihre ursprüngliche Entscheidung heute auf einer Krisensitzung erneut bestätigte, kann man nicht prima facie den ehrenamtlichen Helfern einen solchen Hintergrund unterstellen – zu offensichtlich handelt es sich um eine Verzweiflungsentscheidung vor Ort, die mit den konkreten Erfahrungen zu tun hatte. Trotzdem kann man sicher darüber diskutieren, ob es nicht andere, den Zugang steuernde Maßnahmen gegeben hätte, die auch das Ziel einer anderen Mischung der „Kunden“ verfolgen, wie das ohne viel Aufhebens von zahlreichen anderen Tafeln tagtäglich betrieben wird – was übrigens auch deren gutes Recht ist: Denn die Tafeln machen ein zusätzliches Angebot, auf das es keinen Rechtsanspruch gibt. Zugleich gibt es in Systemen, in denen die Nachfrage aus welchen Gründen auch immer größer ist als das Angebot, die Notwendigkeit, rationierende Maßnahmen vorzunehmen.

Die Schattenwelt der Subsistenzökonomie

Womit wir beim springenden Punkt wären: Das eigentliche Problem besteht nicht in der Existenz der Tafeln an sich, jedenfalls solange man diese als ein ausschließlich zusätzliches Angebot versteht, mit dem gegen ein anderes Problem, nämlich die ansonsten anfallende Lebensmittelvernichtung, angegangen werden soll. Ein Problem entsteht erst, wenn sich diese Institution verselbständigt und vor allem ihr Grundcharakter eines freiwilligen, zusätzlichen, den Alltag der Bedürftigen möglichst niedrigschwellig erleichternden Angebots faktisch sukzessive im Sinne einer „Normalisierung“ zerstört wird – und die Tafeln auf einmal für die Existenzsicherung zuständig sind, die doch eigentlich eine staatliche Aufgabe ist.

Glück (oder eben Pech) zu haben mag als allgemeine Lebensphilosophie durchaus von unaufhebbarer Relevanz sein – es darf aber kein Maßstab für die sozialpolitische Gestaltung der Existenzsicherung sein

Diese Verselbständigung kann sicherlich auch durch die Tafeln selbst geschehen, wenn diese sich beispielsweise aus guter Absicht heraus „professionalisieren“ – aber es ist eben keine nur anekdotische empirische Evidenz, dass Jobcenter ihre sogenannten „Kunden“ aktiv auf die Inanspruchnahme von Leistungen der Tafeln verweisen, um das Existenzminimum zu sichern, für das doch eigentlich das Grundsicherungssystem zuständig sein sollte. Wenn man das zulässt (und das passiert bei den Tafeln schon seit längerem, was diese selbst auch offen beklagen), dann ist wahrlich eine Grenze überschritten, deren Verletzung sozialpolitisch vor allem mittel- und langfristig fatal wirken wird – weil man Schritt für Schritt aus einer Welt der (grundsätzlich) existenzsichernden Leistungen eines Sozialstaats mit Rechtsanspruch in eine Schattenwelt der Subsistenzökonomie verwiesen wird.

Und in dieser kann es eben naturgemäß, siehe Tafeln, keinen Rechtsanspruch auf Versorgung geben. Vielmehr sind die Nutzer einem fragilen Angebot ausgeliefert, das aus unterschiedlichen Gründen mit einer steigenden Nachfrage konfrontiert ist. Diese wird zu Rationierungsaktionen führen (müssen), die je nach konkreter Umsetzung eben auch willkürlich daherkommen oder den Charakter von Kollektivstrafen für Teilgruppen unter den Bedürftigen annehmen können, während man an anderen Orten „Glück“ haben kann. Glück (oder eben Pech) zu haben mag als allgemeine Lebensphilosophie durchaus von unaufhebbarer Relevanz sein – es darf aber kein Maßstab für die sozialpolitische Gestaltung der Existenzsicherung von Millionen Menschen sein.

Dass dem aber offenbar doch so ist, sagt viel über die Defizite unseres Sozialstaats aus, die es dringend zu beheben gilt. Das wäre wohl das größte Geschenk, das man der deutschen Tafelbewegung und ihren vielen ehrenamtlichen Helfern zum 25. Geburtstag machen könnte.

 

Zum Autor:

Stefan Sell ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz und Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung (ISAM). Außerdem betreibt Sell den Blog Aktuelle Sozialpolitik, wo dieser Beitrag zuerst in einer früheren Form erschienen ist.