Fremde Federn

Chinas Kohlekurs, Nicht-Existenzminimum, ökonomisierte Kinderkliniken

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Was der Klimawandel für das gesellschaftliche Zusammenleben bedeutet, warum eine fehlerhafte statistische Grundlage die Berechnung des Existenzminimums verzerrt und wie genau die Sparpolitik der späten Weimarer Republik Hitler an die Macht brachte.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Reportage: Wie der Klimawandel die Spaltung zwischen Reich und Arm vertieft

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Ralph Diermann

Phoenix, Arizona gehört zu den schnellstwachsenden Städten der USA. Neben der wirtschaftlichen Stärke locken die Zuzügler die angenehmen Temperaturen im Winterhalbjahr. Im Sommer dagegen wird es irre heiß – und mit dem Klimawandel immer heißer: Fünfzig Grad Celsius und mehr werden mittelfristig die Norm. Wer sich daheim keine Klimaanlage leisten kann, wird kaum mehr in der Stadt leben können. Um dem etwas entgegenzusetzen, plant die Stadtverwaltung bereits öffentlich zugängliche klimatisierte Schutzräume – ein so gut gemeinter wie verzweifelter Ansatz.

Der „Rolling Stone“ beschäftigt sich jetzt in einer langen, eindrucksvollen Reportage mit einem ganz großen Thema: Was bedeutet der Klimawandel für das Zusammenleben in der Gesellschaft?

„Most people don’t realize how much climate affects everything, from their property values to how hard people work”,

erklärt Solomon Hsiang von der University of California, Berkeley. Die soziale Spaltung der Gesellschaft wird verstärkt – Reiche werden sich anpassen können, etwa durch Wegzug, Arme nicht. Hsiang:

„If we continue on the current path, our analysis suggests that climate change may result in the largest transfer of wealth from the poor to the rich in the country’s history.“

Rolling-Stone-Autor Jeff Goodell ist nach Arizona, Louisiana und Kalifornien gereist, um diese Verwerfungen zu beschreiben – sein Fokus liegt auf den USA. Doch lässt seine Reportage erahnen, was der Klimawandel auch für andere Regionen der Welt bedeutet. Goodell zitiert eine Studie, nach der bis 2050 auf dreißig Prozent der weltweiten Landmassen wüstenähnliche Bedingungen herrschen werden. Mehr als 1,5 Milliarden Menschen leben derzeit in diesen Regionen.

Der Kaiser ist nackt – China fügt sich wieder dem Führerkult

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Dmitrij Kapitelman

Seit dem 11.03.2018 entscheidet offiziell ein einziger Mann, was richtig und was falsch ist für China. Staatschef Xi Jinping hat nicht nur die Verfassung so abgeändert, dass er auf Lebenszeit an der Macht bleiben kann. Er verankerte auch gleich das „Xi-Jinping-Denken“ als das einzig Erstrebenswerte.

Kritik wird kaum hörbar. Weil sich Chinas Zensurbehörden Jahr um Jahr an einer dumpfen, autoritären Akustik arbeiteten und als vielleicht einziger Staat weltweit das Internet politisch kastriert haben.

Parteimitglied und Regimekritiker Li Datong ist eine der wenigen wahrnehmbaren unbequemen Stimmen. Und spricht in diesem hochspannenden Interview mit der Süddeutschen Zeitung darüber, wie sich Chinas Geschichte gerade wiederholt. Wie das Land, das unter Mao einen so hohen Preis für Führerkult bezahlte, sich wieder unterwirft. Über das Mundtotmachen seiner Mitmenschen und den vermeintlichen chinesischen Traum.

Ökonomisierung der Kinderkliniken

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Ali Aslan Gümüsay

Dieser Text im Ärzteblatt konstatiert, dass die Ökonomie „einen zum Teil intolerablen Einfluss auf ärztliches und pflegerisches Handeln“ insbesondere in der Pädiatrie habe. Zunächst werden die besonderen Anforderungen an die Kinderheilkunde wie zeitlicher Mehraufwand geschildert, um Kinder aber auch Verwandte abzuholen. Dieses liegt daran, dass Kinder besonders und mehrdimensional (biologisch, psychologisch & sozial) vulnerabel sind. Die Behandlung von Kindern funktioniert daher anders als die Erwachsenenmedizin.

Ich musste beim Lesen öfter (entsetzt) den Kopf schütteln. Jedes sechste Kind leidet laut einer Befragung an chronischen Gesundheitsstörungen. Ungefähr jede fünfte Kinderabteilung wurde seit 1991 geschlossen. 40% der Betten in der stationären Kinder- und Jugendmedizin wurden seitdem abgebaut. Und das bei gleichbleibenden Fallzahlen.

In einer Tabelle werden die Folgen gut zusammengefasst. Ein kurzer Blick lohnt sich. Zuletzt werden explizit Maßnahmen für Gesetzgeber, Leistungserbringer und Kostenträger aufgelistet.

Ein runder, bedrückender Text, der Probleme eindrucksvoll und durchdacht schildert und gleichzeitig konkret Maßnahmen benennt.

Wie genau die Sparpolitik der späten Weimarer Republik Hitler ermöglichte

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Rico Grimm

Es ist ein Zusammenhang, den wir im Geschichtsunterricht gelernt haben: die Sparpolitik der späten Weimarer Regierung trieb die Menschen in die Arme der Nazis. Das stimmt – aber wer genauer hinschaut, wie die Autoren einer Studie, die Thomas Fricke für Spiegel Online entdeckt hat, macht zwei erstaunliche Entdeckungen. Erstens, die ganz Armen, die Arbeitslosen wählten kaum die NSDAP, sie gingen vor allem zu den Kommunisten. Zweitens, die Menschen wandten sich dort den Nazis zu, wo die Sparpolitik am härtesten war, wo sie vor allem die Mittelschicht traf. Von dieser Erkenntnis aus lässt sich weiterdenken: Erleben wir das heute wieder, sowohl in den USA, wo Trump im ehemaligen Industriegürtel des Rust Belts abräumte? Oder auch in den Ländern Südeuropas, wo z.B. in Italien die hart rechte Lega mehr als 17 Prozent holte? Diese Frage ist wichtig. Thomas Fricke:

Klar, es gab eine Menge anderer Einflüsse, die den Aufstieg der Nationalsozialisten beförderten. Das Spektakuläre an den Auswertungen der Ökonomen ist trotzdem: Der zusätzliche Schub, den der Unmut über die Austerität für die Nazis in der entscheidenden Zeit bis 1933 offenbar brachte, war den Berechnungen zufolge gerade so groß, dass es am Ende für die NSDAP zur Mehrheit reichte. Anders gesagt: Ohne diesen Effekt und die heillosen Brüningschen Sparversuche hätten die Nazis womöglich gar nicht an die Macht kommen können.

 

Hinweis: Eine Zusammenfassung der erwähnten Studie finden Sie auch in diesem Makronom-Beitrag von Frances Coppola.

Der x-te Weckruf

piqer:
Eric Bonse

Nach der Wahl in Italien war wieder von einem „Weckruf für Europa“ die Rede. Denn die EU-freundlichen Parteien haben massiv verloren, die Brüssel-Basher fuhren einen klaren Sieg ein. Doch schon zwei Tage später sprach in Brüssel niemand mehr von diesem Erdrutsch. Heute herrscht „Business as usual“.

Dabei hatte man doch schon nach dem Brexit 2016 geschworen, nicht einfach so weiter zu machen. Auch die Wahlen in Holland, Frankreich und Deutschland im vergangenen Jahr waren als Weckruf bezeichnet worden, denn die Nationalisten und Populisten jeder Couleur legten überall in Europa zu.

„When will they ever learn“, fragt nun John Weeks. Er zeichnet die Geschichte des Aufstiegs EU-kritischer Parteien bis 2004 zurück, als die britische UKIP erstmals in Europaparlament einzog. Damals ignorierte man die „Spinner“ noch, später versuchte man sie durch große Koalitionen zu isolieren.

Doch all das hat nichts genützt, wie der Brexit und die Italien-Wahl zeigen. Auch die große EU-Reform, die als Reaktion auf die Misstrauensvoten der Bürger versprochen wurde, droht im Sande zu verlaufen. Insofern ist es verständlich, dass Weeks in seinem Artikel das Alte Testament zitiert.

Es geht um die Schrift an der Wand …

Warum das Existenzminimum nicht die Existenz sichert

piqer:
Christian Huberts

Im Rahmen der Debatte um die Essener Tafel kommt immer wieder die Frage auf, warum viele ALG2-Empfangende, deren Bezüge ja zur Sicherung der Existenz ausreichen sollten, dennoch auf ehrenamtliche Hilfsangebote angewiesen sind. Für Spiegel Online nimmt sich Florian Diekmann dieser Frage an und kommt – in Übereinstimmung mit Experten – zu dem Schluss, dass die Regelsätze schlicht zu niedrig angesetzt sind. Eine fehlerhafte, statistische Grundlage verzerrt das Existenzminimum:

In der Theorie sollen die 15 ärmsten Prozent der Haushalte die Vergleichsgruppe bilden, die gerade noch so viel verdienen, dass sie nicht ausschließlich von Sozialleistungen leben müssen. In der Praxis werden aber die 15 ärmsten Prozent betrachtet, die faktisch keine Sozialleistungen beziehen – ob sie nun Anspruch darauf haben oder nicht.

Mit anderen Worten: Weil viele Menschen etwa aus Scham oder Unwissen kein ALG2 beantragen, obwohl sie Anspruch darauf hätten, gehen sie fälschlicherweise in die Statistik ein und drücken das Existenzminimum nach unten. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung schätzt den Anteil dieser »verdeckten Armen« unter den Sozialleistungsberechtigten auf mindestens 34 Prozent. Rechnet man sie heraus und gesteht ALG2-Empfängern gleichzeitig eine »Flexibilitätsreserve« zu (damit sie nicht nur mit Hilfe der Tafeln einen Spielraum erhalten), müsste der Regelsatz laut der Caritas rund 60€ höher liegen als bisher.

Dass dieser Missstand nicht schon längst behoben wurde, hängt mit politischem Kalkül und eher fragwürdigen Argumentationen zusammen. Zur Bekämpfung der Armut müsste eben auch wieder viel Geld in die Hand genommen werden:

Die reinen Mehrkosten lägen zwar nicht höher als etwa bei der Erhöhung der Mütterrente im Jahr 2014, gingen aber in die Milliarden. Zudem hätten auf einen Schlag Hunderttausende Haushalte mehr einen Anspruch auf Hartz IV – was einer Bundesregierung bei nächster Gelegenheit als Beleg für eine angeblich gewachsene Armut vorgehalten werden könnte.

China: Mit voller Kraft auf Kohlekurs – im Ausland

piqer:
Ralph Diermann

China gilt als Motor für den globalen Klimaschutz: Die Industrie muss ihre CO2-Emissionen bis 2027 um vierzig Prozent reduzieren, alte Kohlekraftwerke werden geschlossen, die erneuerbaren Energien in den nächsten Jahren für 320 Milliarden Euro ausgebaut.

Klingt gut. Doch damit gerät aus dem Blick, dass China im Ausland mit voller Kraft auf Kohlekurs ist, wie die New York Times jetzt am Beispiel Kenias beschreibt. Dort soll demnächst ein riesiges Kohlekraftwerk entstehen. Das Zwei-Milliarden-Dollar-Projekt wird von China sowohl finanziert als auch gebaut. Zwar investiert Kenia derzeit auch massiv in erneuerbare Energien. Doch die Regierung ist überzeugt, dass dies allein nicht genügt, den rasant steigenden Strombedarf zu decken und das Land für Investoren attraktiver zu machen.

China ist derzeit an mehr als 200 Kohlekraftwerks-Projekten in 31 Ländern beteiligt, von Indonesien bis Marokko, von Mozambique bis Serbien. Die New York Times nennt dafür zwei Gründe: Zum einen will China die Kohle loswerden, die daheim gefördert, dort aber nicht mehr benötigt wird. Zum anderen sieht die Regierung die Finanzierung von Kohlekraftwerken als geopolitisches Instrument, mit dem sie ihren Einfluss vor allem in Afrika und im Fernen Osten ausbauen kann.

Wie sich das Prinzip hinter dem Grundeinkommen ausbreitet

piqer:
Rico Grimm

„Bedingungsloses Grundeinkommen“ – ich vermute schon länger: Zuerst wird sich der Teil mit der Bedingungslosigkeit durchsetzen, dann der Teil mit dem Grundeinkommen. Drei Gründe: Erstens, wird es immer schwieriger, in unseren immer reicheren (westeuropäischen) Gesellschaften zu rechtfertigen, dass jemand etwas nicht bekommen sollte. Zweitens, hat die Forschung das Thema Bedingungslosigkeit aufgegriffen und schon mehrfach gezeigt, dass es funktionieren kann. So etwas ist wichtig für Politiker. Und drittens, das zeigt Hanna Gerwig in ihrem Text, breitet sich das Prinzip immer weiter aus, über die Grenzen der BGE-Welt hinweg, in andere Bereiche. Bestes Beispiel die Initiative Housing First, die Obdachlosen die eine Sache geben will, die sie brauchen: eine Wohnung.

Nach der Industrie, vor dem Pop: Das Manchester der 70er Jahre in 99 Bildern

piqer:
Jan Freitag

Manchester, das war einst jener Ort, an dem die radikale, dunkle Seite des Kapitalismus ihre Vorsilbe fand. Bis tief in die 1960er hinein war die Stadt im Nordwesten Englands daher ein Industrie-Moloch ohne Beispiel. Weil er im folgenden Jahrzehnt allerdings noch tiefer in die Rezession rutschte, wurde Manchester bald darauf Großbritanniens Hotspot im Kampf gegen Margaret Thatchers Ultraliberalismus der frühen Achtziger.

In 1979, Margaret Thatcher became the nation’s polarising Conservative Prime Minister, and as the 70s, the decade of confusion, came to an end, the nation and the city were set for the 80s, and another period of uncertainty, retrenchment, creativity and evolution.

Wie dieses soziokulturelle Schlachtfeld zwischendurch aussah, belegt eine fantastische Bildsammlung. In 99 Aufnahmen von 1971-1979 zeichnen die Fotografen David Blake und Jonathan Schofield ein beeindruckendes Bild einer Metropole im Umbruch. Sie zeigen dabei aber nicht nur Beton und Verfall, Wandel und Tradition, sondern auch wie in Manchester seinerzeit zaghaft aufkam, was von dort aus zwei Jahrzehnte später die Welt erobern sollte.

But something else was bubbling under, and in a dark, smoke-blackened, declining city a new idea of music was forming with a whole scene and its own magazine, New Manchester Review. In 1976, the Buzzcocks hosted the Sex Pistols in the Lesser Free Trade Hall – the legendary year zero for a significant musical movement.

Schon damals nämlich wurden die Werkbänke langsam von Laufstegen abgelöst und die Arbeiterchöre durch das, was Ende des Jahrzehnts zunächst als Punkrock revoltierte und in den Neunzigerjahren als Madchester die globale Pop-Kultur prägte.