"The dismal science"

Warum bekommt die Volkswirtschaftslehre so viel Prügel?

Die Volkswirtschaftslehre ist keinesfalls über jeden Zweifel erhaben. Aber es ist zu befürchten, dass zumindest der Großteil der in der Presse geäußerten Kritik entweder Ausdruck von Ignoranz oder von ideologischer Antipathie ist. Ein Kommentar von Simon Wren-Lewis.

Die Volkswirtschaftslehre sollte genauso eine Wissenschaft wie die Medizin sein. Foto: Pixabay

Warum bekommen Ökonomen so viel Prügel? Weil ihre Ratschläge so hoffnungslos sind, werden Sie vielleicht sagen. Nun, dann denken Sie doch mal über folgendes Gedankenexperiment nach.

Nehmen wir einmal an, die Menschen hätten nach der Finanzkrise das Gegenteil dessen getan, was die Mehrheit der Ökonomen empfohlen hat. Wir müssten gar nicht über den Brexit nachdenken, weil die meisten der 52%, die für den Brexit gestimmt haben, sich entschieden hatten, den Ratschlag von mehr als 90% aller Ökonomen zu ignorieren, die sagten, dass der EU-Austritt sie schlechter stellen würde (oder wahrscheinlicher: sie haben nie von diesem Ratschlag gehört). Für alle arbeitenden Menschen wurde dieser Glaube schnell zerstört, da ihre Reallöhne in direkter Folge des Brexit-Votums sanken.

Ökonomen haben eine Neuauflage der Depression der 30er Jahre verhindert

Unmittelbar nach der Finanzkrise wären die Zinsen nicht gesenkt worden und die Austeritätspolitik hätte bereits 2009, und nicht erst 2010 begonnen. Die Banken wären Bankrott gegangen, weil wir Ökonomen gesagt hatten, dass wir sie retten müssen. In diesem Fall wäre aus der Großen Rezession eine zweite Große Depression geworden. Und weil die Mehrheit der Ökonomen die Austeritätspolitik nicht unterstützte, hätte es während dieser neuen Depression noch weitere Ausgabenkürzungen gegeben.

Wenn wir dieses Gedankenexperiment mit der Realität abgleichen, können wir sehen, dass Ökonomen eine Neuauflage der Depression der 30er Jahre verhindert haben. Und wenn man der Mehrheit der Ökonomen gefolgt wäre, hätte es einen stärkeren Erholungsprozess gegeben und Großbritannien würde nicht die EU verlassen. Für mich klingt das ziemlich gut. Aber ich bin mir sicher, dass sie jetzt gleich sagen werden: Was ist mit der Finanzkrise, vor der die Ökonomen nicht gewarnt haben?

Das war ein Fehler, aber was sind die Konsequenzen? Denken Sie wirklich, dass irgendetwas passiert wäre, wenn die meisten Ökonomen vor der Fragilität des Bankensektors gewarnt hätten? Die Banken hätten auch weiterhin Kredite vergeben, weil Sie damit Geld machten und einen garantierten Bail out durch den Staat hatten. Ihre Wahlkampfspenden hätten im Bewusstsein der Politiker ein höheres Gewicht gehabt als die Warnungen von Ökonomen. Also ja: Es war ein Fehler, nicht vor der Finanzkrise zu warnen – aber wenn dieser Fehler nicht gemacht worden wäre, wären die Dinge auch nicht anders gelaufen. Ökonomen wird häufig gesagt, sie sollten aufhören, politisch so naiv zu sein, aber das gleiche muss man auch über ihre Kritiker sagen.

Warum bekommen Ökonomen also dann so viel Prügel, obwohl die Bilanz der Makroökonomie seit der Krise so gut ist? Ich glaube, dafür gibt es drei Gründe.

Der erste ist simpel: Wenn die Wirtschaft sich schlecht entwickelt, ist es einfach, Ökonomen verantwortlich zu machen, insbesondere wegen jener Prognosen, in denen Abschwünge nicht vorhergesagt haben. Aber in der Realität beteiligt sich praktisch kein akademischer Makroökonom an Prognosen, weil er oder sie weiß, dass jede Form von unbedingten Prognosen schwachsinnig ist. Zudem sind die meisten Ökonomen keine Makroökonomen, aber für manche Menschen sind solche Details irrelevant (es gab auch eine Vielzahl von sehr erfolgreichen mikroökonomischen Arbeiten, aber die meisten Kritiker tun so, als wenn die Ökonomik ausschließlich aus der Makroökonomik bestehen würde).

Der zweite Grund ist die Politik. 1849 bezeichnete Thomas Carlyle die Ökonomie als „the dismal science“, weil Ökonomen seine Idee der Wiedereinführung der Sklaverei nicht unterstützten. Seitdem haben Ökonomen immer wieder Politiker und ihre Unterstützer verärgert, indem sie die Probleme von verschiedensten politischen Programmen oder Plänen aufzeigten.

Die Politik steht auch im Zentrum des dritten Kritikgrundes: Rechte Politiker und Ideologen nutzen jene Aspekte der Ökonomik, die ihnen in den Kram passen. Du willst die Märkte promoten? Dann nimm die Idee, dass ein idealer Markt ein optimaler Weg für den Austausch von Gütern ist, und ignoriere alle Fälle, bei denen die echten Märkte von diesem Ideal abweichen (mit dem Studium dieser Fälle verbringen übrigens ziemlich viele Ökonomen ziemlich viel Zeit ).

Im linken Spektrum bevorzugen es wiederum manche heterodoxe Ökonomen zu unterstellen, dass die Mainstream-Ökonomik viel näher an der Karikatur der Rechten sein würde, als sie es tatsächlich ist – anstatt aufzuzeigen, wie die Rechten mit ökonomischen Ideen Schindluder treiben. Aus diesem Grund wird beispielsweise in Großbritannien so viel der Ökonomiekritik im Guardian veröffentlicht, wie Noah Smith beobachtet hat.

Die Vorstellung, dass die Volkswirtschaftslehre wie eine Religion wäre, ist absurd

Diese Fehldarstellung der Mainstream-Ökonomik ist entweder vorsätzlich oder ignorant. Ignorant gegenüber der Tatsache, dass große Teile der Volkswirtschaftslehre während der letzten paar Jahrzehnte empirischer und somit  in ihrer Nutzung der Theorie vielschichtiger geworden sind, unter anderem vielleicht auch wegen des Einflusses der Verhaltensökonomie. Ignorant deswegen, weil es sogar in der Makroökonomie, wo ideologische Einflüsse stark sein können, mehr Konsens rund um die neokeynesianische Volkswirtschaftslehre gibt, als sich manche Mainstream-Keynesianer vorstellen können (dazu hier auch meine Untersuchung mit André Moreira zu den Lehrinhalten an den Top-Schulen). Heutzutage wird man auf den meisten Gebieten der VWL (in der Makroökonomik leider eher weniger) feststellen, dass es nichts gibt, was die Analyse auf eigennütziges individualistisches Verhalten begrenzt. Die Vorstellung, dass die Volkswirtschaftslehre wie eine Religion wäre, ist absurd.

Aber manchmal ist es schwer nicht zu glauben, dass sich die populäre Kritik dazu entschlossen hat zu ignorieren, wie weit die Ökonomik von der neoliberalen Karikatur abweicht. So ist es beispielsweise unentschuldbar, wenn ignoriert wird, dass die besten Argumente gegen eine dem Markt überlassene Gesundheitsversorgung aus einem Papier stammen, das der Nobelpreisträger Kenneth Arrow schon vor Jahrzehnten geschrieben hat. Wie Colin Crouch in seinem neuesten Buch nahelegt, kommen die besten Kritiken am Neoliberalismus von innerhalb der Volkswirtschaftslehre.

Ein weiterer lächerlicher Vorwurf gegen die Volkswirtschaftslehre lautet, dass diese einen natürlichen Bias gegen staatliche Interventionen habe. Tatsächlich lässt sich sogar das Gegenteil argumentieren: Auf meinem Gebiet ist es üblich, die Existenz eines gutwilligen politischen Entscheidungsträgers anzunehmen, der die Sozialhilfe maximiert. Das ist im Wesentlichen bloß ein nützliches analytisches Mittel – aber wenn man wollte, könnte man argumentieren, dass dieses Mittel eher jene bevorteilt, die es zu Gunsten staatlicher Interventionen verwenden.

Gemessen an den jüngsten Gesprächen, die ich zu diesem Thema hatte, attackieren viele heterodoxe Ökonomen den Mainstream, weil er die Unterscheidung zwischen positiver (wertfreier) und normativer Ökonomik verwendet. Ein Beispiel für positive Ökonomik wäre, wenn ich sagen würde, dass eine temporäre Kürzung der Staatsausgaben den Output reduziert, wenn sich die Zinsen an ihrer unteren Grenze befinden. Ein normatives Statement wäre, dass Austerität unfair ist. Heterodoxe Ökonomen wie Sheila Dow scheinen suggerieren zu wollen, dass alles wertbeladen ist, und dass die positiv/normativ-Unterscheidung es Ökonomen erlaubt zu vermeiden, bei ihren Ratschlägen „moralisch verwickelt“ zu sein.

Ich denke, diese Kritik ist entweder trivial (natürlich kann es normative Gründe für die Wahl spezieller Forschungsgegenstände geben) oder gefährlich. Sie ist gefährlich, wenn sie nahelegt, dass Ökonomen ihre Analysen auf Annahmen basieren sollten, die ihre Wertvorstellungen widerspiegeln. Obwohl die Volkswirtschaftslehre eine Sozialwissenschaft ist, sollte sie doch mit der wissenschaftlichen Methode konform gehen: Sie sollte genauso eine Wissenschaft wie die Medizin sein. Tatsächlich glaube ich, dass es die öffentliche Debatte enorm verbessern würde, wenn sowohl Ökonomen als auch ihre Kritiker realisierten, dass die Volkswirtschaftslehre, obwohl sie eine eigentümliche und ungenaue Wissenschaft ist, doch mehr als jede der „harten“ Wissenschaften wie die Medizinwissenschaft ist.

Dow schreibt:

„Getting policy-makers or the general public onside over a particular argument is therefore, critically, a matter of persuasion rather than demonstrable proof (since that proof is impossible).”

Aber mit Sicherheit liegt der beste Weg zu versuchen, Politiker davon zu überzeugen, keine Austerität zu betreiben, darin zu sagen, dass die meisten Modelle – inklusive des theoretischen Konsens-Modells – und fast die gesamte Evidenz nahelegen, dass Austerität den Output verringern wird. Im Gegensatz dazu ist es viel zu einfach, Politiker von Dingen zu überzeugen, die sie hören wollen. Wir wollen nicht, dass Politiker einen Ratschlag nur wegen der rhetorischen Fähigkeiten des Akademikers aufgreifen, oder weil er „von einer von uns“ (also von denen, die unsere Werte teilen) ist.

Die Gefahr beim Fördern von Pluralität liegt darin, dass man es Politikern viel einfacher macht, den Ratschlag zu wählen, der ihnen in den Kram passt, weil es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Denkschule gibt, die aus Sicht des Politikers die „richtige“ Antwort gibt. Dieser Punkt wird offensichtlich, wenn man den Vergleich mit der Medizin zieht. Dir gefallen Impfungen nicht? Dann such dir einen Experten aus der Anti-Impf-Schule. Die Lektion der letzten Jahre lautet (insbesondere in Großbritannien): Wir wollen, dass Mainstream-Ökonomen mehr Einfluss auf die Politik und die Öffentlichkeit haben – und nicht, dass dieser Einfluss durch eine Pluralität der Denkschulen verwässert wird.

All dies heißt nicht, dass die Volkswirtschaftslehre über jeden Zweifel erhaben wäre. Wie ich in einem früheren Beitrag klargemacht habe, habe ich selbst fundamentale Kritik an der aktuellen makroökonomischen Methodik. So ist es wichtig, mit Blick auf die Mikrofundierung darauf hinzuweisen, dass diese Ökonomen ausschließt, die nicht darauf vorbereitet sind, sich dem anzuschließen, was momentan (von Makroökonomen) als akzeptable Makroökonomie angesehen wird, oder die nicht der Auffassung sind, dass man beim Betreiben der Makroökonomik mit der Mikrofundierung anfangen müsste.

Aber diese Kritik hat nichts mit irgendwelchen Wertvorstellungen zu tun. Der Fehler, den die Makroökonomik in den 80er Jahren gemacht hat, war nicht das Bestreben, nach Mikrofundierungen Ausschau zu halten – sondern die Entscheidung, dass Modelle, die eine konsistente interne Mikrofundierung hatten, die einzigen zulässigen Modelle wären.

Noch einmal: Das große Problem mit dem Großteil der Kritik, die man in den Medien findet, ist nicht, dass die Volkswirtschaftslehre über jeden Zweifel erhaben wäre: wie im vorigen Absatz geschrieben, sollte sie in vielen Fällen kritisiert werden, und es gibt auch jede Menge von interessanteren Kritiken. Das Problem ist nur, dass man die meisten davon nicht im Guardian oder in anderen Zeitungen stehen. Die typischen Kritiken, die man in der Presse findet, sind schlichtweg nicht sonderlich gut. Und ich befürchte, dass sie entweder ein Ausdruck von Ignoranz oder von ideologischer Antipathie sind.

 

Zum Autor:

Simon Wren-Lewis ist Professor für Wirtschaftspolitik an der Oxford University und Fellow am Merton College. Außerdem betreibt Wren-Lewis den Blog Mainly Macro, wo dieser Beitrag zuerst auf Englisch erschienen ist.