In dem anhaltenden Fallout des Brexit-Votums gab es auch einen Aufruf, die Volkswirtschaftslehre zu demokratisieren. Ich neige dazu, dieses Thema mittels einer Analogie zwischen der Ökonomie und der Medizin zu betrachten. Ich mag diese Analogie, weil beide stochastische Wissenschaften sind: Das Verhalten und die Biologie von Menschen sind – zumindest auf der Grundlage unseres heutigen Wissensstandes – nicht vorhersagbar. Es bleibt immer noch vieles im Unklaren.
Beide Wissenschaften können durchaus auf Theorien zurückgreifen, aber sie basieren auch auf statistischen Analysen und Experimenten bzw. Versuchen. Es macht mich glücklich anzuerkennen, dass die Medizin in gewisser Hinsicht „besser“ als die Ökonomie ist (obwohl ich das nicht wirklich weiß oder eine Idee hätte, wie man das sicherstellen kann). Aber ich würde auch sagen, dass die Unterschiede nicht sonderlich groß sind.
Eine weitere Ähnlichkeit sollte ebenfalls erwähnt werden: Beide Wissenschaften sind unglaublich schlecht im Prognostizieren. Dein Arzt wird dir nicht sagen, wie lange du noch zu leben hast und kann dir nur eine ungefähre Vorstellung davon geben, selbst wenn du unter einer schweren Krankheit leidest. Ökonomen machen keine makroökonomischen Prognosen, weil ihre Nutzer denken, dass sie präzise wären – sondern weil sie geringfügig besser als Mutmaßungen sind.
Aber während die Ärzte dir zwar nicht sagen können, wie lange du noch zu leben hast, können sie dir immerhin sagen, dass das Rauchen dein Leben höchstwahrscheinlich verkürzen wird. Daran angelehnt widerlegt die Unfähigkeit, gute Makro-Prognosen zu machen, keinesfalls die Annahme, dass, wenn wir den Handel mit unseren Nachbarn erschweren, wir weniger Handel treiben und dadurch unser Wohlstand und unsere Einkommen reduziert werden.
Die beiden Disziplinen sind auch insofern ähnlich, als dass wichtige Entscheidungen an Expertenausschüsse delegiert werden: in Großbritannien sind das beispielsweise das MPC (entscheidet über die Geldpolitik) und das NICE (veröffentlicht Richtlinien für die Verwendung von Medikamenten). Aber wenn es um andere politische Entscheidungen geht, unterscheiden sich die Wissenschaften voneinander. Gelegentlich kollidieren Politiker und Medizin-Experten in medizinischen Fragen, aber das kommt eher selten vor. Dagegen ignorieren Politiker ziemlich routiniert ökonomische Expertisen oder bevorzugen Minderheitenmeinungen gegenüber der Konsensmeinung.
Der Unterschied ist natürlich nicht schwer zu erklären: Politische Interessen und ökonomische Entscheidungen greifen oftmals ineinander. Das wiederum kann die Disziplin selbst beeinflussen. Aber wenn Sie meine Analogie akzeptieren, dann ist das für die Gesellschaft nicht gut. Denjenigen, die für den Brexit gestimmt haben, wurde gesagt, dass der EU-Austritt für sie auf lange Sicht positiv wäre. Diese Hoffnungen werden ziemlich sicher enttäuscht werden.
Besteht die Lösung darin, die Volkswirtschaftslehre zu demokratisieren? Mir fällt niemand ein – oder zumindest kein Ökonom – der es ablehnen würde, wenn die Öffentlichkeit mehr von Ökonomie verstehen würde. Einige gehen wohl noch weiter und behaupten, dass das ökonomische Verständnis bei Politikern gefährlich mangelhaft ist. Ich würde auch unterschreiben, dass Ökonomen manchmal aus Gesprächen mit Politikern oder der Öffentlichkeit lernen können.
Aber bei medizinischen Fragen wollen Menschen in der Regel nicht die Medizinwissenschaft erklärt bekommen. Sie wollen wissen, was die medizinische Meinung in Schlüsselfragen ist, und sie wollen, dass die Politik Entscheidungen trifft, die dieses Wissen berücksichtigt.
Ich denke, dass das auch für die Volkswirtschaftslehre gilt. Die meisten Menschen wollen nicht die theoretische Grundlage dafür erfahren, warum Haushaltskonsolidierung für die Volkswirtschaft schlecht ist, wenn die Zinsen an der Nullzinsgrenze liegen, ganz zu schweigen von den Argumenten, die ein paar wenige gegen diese Konsensmeinung vorbringen (wenn Sie diesen Beitrag lesen, fallen Sie allerdings wohl nicht unter diese Verallgemeinerung). Stattdessen wollen die Menschen wissen, was die Konsensmeinung zu einem Thema ist und wie stark dieser Konsens ausgeprägt ist.
Die Ökonomenzunft muss sich besser organisieren
Wenn die Ökonomie mit der Intuition von Menschen in Konflikt gerät, wollen sie vielleicht überprüfen, ob die Ökonomen überhaupt die gleiche Frage wie sie selbst beantworten. Darin versagen die Rundfunkmedien nämlich für gewöhnlich, und die Boulevardpresse tut es nur, wenn es in ihre politische Linie passt. Die Gründe dafür, dass die Medien so funktionieren, habe ich schon vielfach diskutiert – aber es wäre für Ökonomen fahrlässig zu glauben, dass dies nicht genauso ihr Problem ist.
Beispielsweise gehe ich davon aus, dass Ärzte einem erzählen können, was die Konsensmeinung zu bestimmten Themen ist. Unglücklicherweise gilt das für die Volkswirtschaftslehre nicht. Aber das ist zumindest teilweise die Schuld der Ökonomen selbst. Es können häufig viele von ihnen gleichzeitig an einem Thema arbeiten und nicht so gut miteinander vernetzt sein, wie sie es sein könnten. Um nur ein Beispiel zu nennen: Es scheint eine weitverbreite Wahrnehmung unter Makroökonomen zu sein, dass an den Top-Universitäten in den höheren Semestern nur sehr wenig keynesianische Ökonomie gelehrt wird. Aber Umfragedaten, die ich gemeinsam mit André Moreira gesammelt habe, zeigen, dass an den meisten Schulen doch ziemlich viel keynesianische Ökonomie gelehrt wird.
Das führt mich zur meiner Pointe: Ökonomen müssen stärker als Kollektiv agieren. Wir müssen regelmäßig Ökonomen (und zwar alle Ökonomen, nicht nur ausgewählte Gruppen) danach befragen, was sie zu wichtigen politischen Fragen denken, und gleichzeitig dokumentieren, ob dies auch ihr Fachgebiet ist. Wir brauchen Sprecher, die jeden Konsens in den Medien erklären. Wenn Politiker, Ökonomen der Londoner City oder Thinktanks von diesem Konsens abweichen, müssen die Sprecher aggressiv darauf hinweisen und es nicht einzelnen Akademikern überlassen – genauso wie es die Mediziner tun, wenn falsche Behauptungen populär werden. Wir müssen die Volkswirtschaftslehre nicht unbedingt demokratisieren – wir müssen sie organisieren.
Simon Wren-Lewis ist Professor für Wirtschaftspolitik an der Oxford University und Fellow am Merton College. Außerdem betreibt Wren-Lewis den Blog Mainly Macro, wo dieser Beitrag zuerst auf Englisch erschienen ist.