Neoliberalismus

Die Idee des freien Marktes ist zu mächtig, um sie der anderen Seite zu überlassen

In seinem neuesten Buch geht Colin Crouch der Frage nach, „ob der Neoliberalismus vor sich selbst gerettet werden kann“. Es ist ein absolut lesenswertes und anregendes Werk, findet Simon Wren-Lewis.

Colin Crouch´ neuestes Buch „Can Neoliberalism Be Saved from Itself?“ wird viele Linke verblüffen, die einfach nur glauben, dass der Neoliberalismus gestürzt werden muss. Zwar beginnt Crouch mit einer Schilderung des Grenfell Tower-Desasters, welches er wie viele andere auch als ein Sinnbild für die Verfehlungen des Neoliberalismus sieht. Dennoch schreibt er, dass das Buch „kein Beitrag zur Dämonisierung des Neoliberalismus“ sei, sondern „der Versuch einer nuancierten Bilanz“, jedenfalls insofern, als dass die Reformfähigkeit des Neoliberalismus bewertet werden solle.

Eine solche Bilanz könnte man schon natürlich aufgrund intellektueller Neugier rechtfertigen, allerdings schreibt Crouch dieser Ideologie auch einige positive Aspekte zu. Zusammengefasst sind das die folgenden:

“The discipline of price and calculation; helping us appreciate the limitations of democratic government; facilitating trade and reducing barriers to it; and facilitating links among people.”

Also was genau ist Neoliberalismus? Crouch definiert ihn als

„a political strategy that seeks to make as much of our lives as possible conform to the economist’s ideal of a free market.“

Die Probleme und Defizite diese Strategie entstehen, wenn die Bedingungen, die der freie Markt zum Idealsein braucht, nicht gegeben sind, und Crouch´ lange Diskussion dieser Probleme ist für jeden VWL-Studenten nützlich. Eine dieser Bedingungen für einen idealen Markt ist der Wettbewerb: Ein freier Markt ist aus einem sozialen Blickwinkel heraus betrachtet ein Ideal, wenn (neben vielen anderen Bedingungen) jedes Gut von einer großen Zahl von Produzenten produziert wird. Crouch erkennt, dass die meisten Neoliberalen (vielleicht im Gegensatz zu Ordoliberalen) nicht dazu neigen, Monopole und Machtmonopole zerschlagen zu wollen. Daher unterscheidet Crouch zwischen „Markt-Neoliberalen“ (market-neoliberals), die dies womöglich tun würden, und „korporativen Neoliberalen“ (corporate-neoliberals), die dies eben nicht tun würden.

Colin Crouch: Can Neoliberalism Be Saved from Itself?, Social Europe Edition, 6,99 Euro (zzgl. Mwst.).

Zudem schreibt Crouch über den Wettbewerb der Vergangenheit (der zu einem Monopol geführt hat) und jenen der Gegenwart. Wie Luigi Zingales einmal ziemlich gut erläutert hat, neigen Unternehmen solange dazu, einen kompetitiven Markt zu bevorzugen, bis sie selbst an ihm teilnehmen – aber sobald sie in dem Markt eine dominante Position haben, sind sie glücklich damit, Barrieren gegen weitere Wettbewerber hochzuziehen. Crouch führt in der Folge diesen Konflikt zwischen Markt-Neoliberalen und korporativen Neoliberalen noch weiter aus, und diskutiert natürlich auch, ob er denn nun glaubt, dass der Neoliberalismus vor sich selbst gerettet werden kann (aber um seine Antwort zu erfahren, müssen Sie das Buch lesen).

Markt-Neoliberale und korporative Neoliberale

Meiner Meinung nach ist „Can Neoliberalism Be Saved from Itself“ ein großartiges Buch. Es ist frei von unnötigem Jargon, und ich würde Ihnen empfehlen, es zu lesen. Mich hat das Buch jedenfalls dazu angeregt, noch einmal über das Konzept des Neoliberalismus nachzudenken. Dabei komme ich auf die Unterscheidung zwischen Markt-Neoliberalen und korporativen Neoliberalen zurück: Es erscheint ein bisschen merkwürdig, eine Ideologie erst als die Evangelisierung des freien Marktes zu definieren, und dann zu sagen, dass die meisten Neoliberalen eine entscheidende Komponente des freien Marktes – den Wettbewerb – ausschließen, wenn es ihnen gerade passt.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass manche der Leute, die vor vielen Jahren als erstes über den Neoliberalismus geschrieben haben (und vielleicht auch ein oder zwei heute), als das bezeichnet werden können, was Crouch „Markt-Neoliberale“ nennt. Aber wie ich schon an früherer Stelle geschrieben habe, glaube ich, dass der Neoliberalismus durch das „Big Money“ oder das Kapital zu einem Instrument der Selbstrechtfertigung weiterentwickelt – oder wenn Sie so wollen: deformiert – wurde.

Daher würde ich eine leicht angepasste Definition vorschlagen, die mir heute ziemlich passend erscheint:

Neoliberalismus ist eine politische Strategie, die die Interessen des „Big Money“ fördert, welches das ökonomische Ideal des freien Marktes ausnutzt, um seine Marktaktivität zu promoten und auszubauen und jedwede „Störung“ des Marktes beseitigt, die im Konflikt mit seinen Interessen steht.

Somit wird eine Definition, die darauf basiert, einer Idee (Crouch´ „Markt-Neoliberalismus“) zu folgen, durch eine Interessen-Definition ersetzt, die besagt, dass eine Idee solange promotet wird, wie sie diesen Interessen nützt.

Diese alternative Definition scheint mir zu zwei Beispielen zu passen, die ich verwendet habe, um konventionellere Ideen in Frage zu stellen. So profitieren große Banken gewaltig von einer impliziten Subvention durch den Staat: Sie werden gerettet, wenn etwas schiefgeht – aber Neoliberale machen sich über diese Form des Staatseingriffs nicht allzu viele Sorgen, während Ökonomen das sehr wohl tun. Andererseits beschweren sie sich über Regulierungen. Das ist ein sehr selektiver Fokus auf Markteingriffe.

Das zweite Beispiel ist die Vergütung von Vorständen. Diese wird von Neoliberalen immer damit begründet, dass die Höhe der Entlohnung nun einmal vom Markt bestimmt wird, obwohl dies offensichtlich nicht der Fall ist. Du bist also ein guter Neoliberaler, wenn du behauptest, dass es für Vorstände einen Markt gibt und deren Gehälter etc. von diesem Markt und nicht von den Vergütungsausschüssen der Firmen bestimmt werden. Dieses Beispiel ist deswegen interessant, weil es die Verteidigung eines Teils des „Big Money“ (der Vergütung von Vorständen oder Angestellten der Finanzbranche) zulasten eines anderen Teils (der Aktionäre) beinhaltet. Und aus genau diesem Grund spreche ich in meiner Definition nicht über die Interessen des Kapitals.

Leugnet diese alternative Definition schlicht die Macht der Ideen und geht zurück auf die guten alten Interessen? Nur teilweise. Interessen benutzen eine Idee, weil die Idee ein mächtiges Überredungswerkzeug ist. Für die Linke ergibt sich daraus eine offensichtliche Lehre: Weil Neoliberale das Ideal des freien Marktes nur promoten, wenn es ihnen nützt, ist es eben keinesfalls so, dass man auch gegen den freien Markt ist, wenn man gegen den Neoliberalismus ist. Die Linke sollte das gleiche Konzept benutzen, um beispielsweise gegen Machtmonopole zu argumentieren. Die Idee des freien Marktes ist zu mächtig, um sie der anderen Seite zu überlassen.

 

Zum Autor:

Simon Wren-Lewis ist Professor für Wirtschaftspolitik an der Oxford University und Fellow am Merton College. Außerdem betreibt Wren-Lewis den Blog Mainly Macro, wo dieser Beitrag zuerst auf Englisch erschienen ist.