Vor kurzem hat die Europäische Kommission konkrete Vorschläge für eine bessere Besteuerung der digitalen Ökonomie veröffentlicht. Die Kommission erwägt eine zusätzliche Ausgleichsteuer auf digitale Umsätze und alternativ Quellensteuern auf digitale Transaktionen sowie zusätzliche steuerliche Belastungen für digitale Dienstleistungen und Werbung. In diese Richtung zielt auch ein vom französischen Finanzminister initiiertes Positionspapier, das eine Reform der Quellenbesteuerung fordert und dem sich inzwischen fast alle anderen EU-Finanzminister angeschlossen haben (eine ausführliche Analyse zu den Vorschlägen finden Sie hier).
Das Problem an der Sache: All diese Vorschläge benötigen einstimmige Beschlüsse, also auch die Zustimmung derjenigen EU-Mitgliedsländer, die von der derzeitigen Situation profitieren. Und die ersten Reaktionen von Ländern wie Luxemburg zeigen: Die Umsetzungschancen sind eher gering. Es gibt jedoch auch eine ganze Reihe konkreter und EU-rechtlich zulässiger Maßnahmen gegen Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung, die rein national von einem einzelnen Land umsetzbar sind.
Erheblicher Reformbedarf bei der Unternehmensbesteuerung
Zunächst will ich beispielhaft zwei Unternehmen vorstellen, um die wachsende Problematik der derzeitigen Unternehmensbesteuerung zu verdeutlichen.
Bäckermeister Neumeier hat die „Beste Bayrische Brezen“ GmbH in Regensburg schrittweise aufgebaut. Sie hat mittlerweile 25 Angestellte und verkauft ihre Produkte regional in eigenen Filialen:
- Die GmbH hat zur Finanzierung von neuen Investitionen Kredite bei der Sparkasse Regensburg aufgenommen. Von den resultierenden Zinserträgen zahlt die Sparkasse Regensburg Löhne und sonstige Kosten. Auf den verbleibenden Gewinn zahlt sie 31% Steuern an das Regensburger Finanzamt. Die Regensburger Sparer müssen 26% Abgeltungssteuer auf die ihnen von der Sparkasse Regensburg ausgezahlten Zinsen zahlen. Somit ist eine deutsche Besteuerung der in Deutschland erwirtschafteten Wertschöpfung gesichert.
- Die „Beste Bayrische Brezen“ GmbH macht intensiv Werbung in der örtlichen „Mittelbayrischen Zeitung“. Von den resultierenden Inseratserträgen zahlt die „Mittelbayrische Zeitung“ Löhne und sonstige Kosten. Auf den verbleibenden Gewinn führt sie 31% Steuern an das Regensburger Finanzamt amt. Damit ist auch hier eine deutsche Besteuerung der in Deutschland erwirtschafteten Wertschöpfung gesichert.
- Die „Beste Bayrische Brezen“ GmbH macht die gezahlten Zinsen sowie die gezahlten Inseratsaufwendungen als Kosten geltend, was ihre Steuerlast mindert und bewirkt, dass die schon besteuerte Wertschöpfung nicht noch einmal besteuert wird.
Auf den verbleibenden Gewinn von z.B. 300.000 Euro müssen von der „Beste Bayrische Brezen“ GmbH rund 31% Gewerbe- und Einkommensteuer gezahlt werden.
Das Gegenbeispiel ist die „Gesundes Brot“ AG mit 150 Angestellten, die ihre Produkte an Lebensmittelketten liefert. Der umtribige Gründer hat die Großbäckerei vor einigen Jahren an internationale Finanzinvestoren verkauft:
- Der Kaufpreis wurde ganz überwiegend der übernommenen „Gesundes Brot“ AG aufgehalst: Sie musste nämlich ihr Eigenkapital an den Käufer ausschütten, der damit den Kaufpreis bezahlte.
- Das nun fehlende Eigenkapital ersetzte die „Gesundes Brot“ AG durch einen Kredit, für den laufend Zinsen zu zahlen sind. Dieser Kredit wird nicht bei der Sparkasse Regensburg aufgenommen, sondern bei der Schweizer Finanzfirma „Cheap Credits“, die für ihre Zinserträge keine Steuern bezahlen muss.
- Die AG verkauft ihre Produkte nun unter dem international bekannten Markennamen „Healthy Bread“ und nutzt „Healthy Bread“-Vorgaben für die Herstellung ihrer Waren. Hierfür muss sie an die im Ausland ansässige „Healthy Bread Lizenzverwaltungsfirma“ dauerhaft umsatzabhängige Lizenzgebühren zahlen.
- Die AG macht intensiv Werbung im Internet, insbesondere auch bei Google.
Sowohl die erheblichen gezahlten Zinsen als auch die gezahlten Lizenzgebühren und Werbungsaufwendungen macht die AG steuerlich als Kosten geltend, sodass trotz sehr guter Umsätze fast kein Gewinn in Regensburg ausgewiesen wird – das Finanzamt Regensburg erhält deshalb von der AG fast keine Gewinnsteuern, womit systematisch eine deutsche Besteuerung der in Deutschland erwirtschafteten Wertschöpfung verhindert wird. Die in Regensburg erwirtschafteten Erträge bleiben aber auch im Ausland unbesteuert, weil Kreditgeber „Cheap Credits“ und Lizenzverwaltungsfirma „Healthy Bread“ steuerlich optimiert sind und deshalb nirgendwo Steuern zahlen.
Dadurch entsteht in Deutschland zweifacher Schaden:
- Für die staatlichen Infrastrukturleistungen, die ja die „Gesundes Brot“ AG genauso wie die „Beste Bayrische Brezen“ GmbH für ihre Produktion benötigt, erhält der Fiskus prozentual vom Backkonzern weit weniger Steuern.
- Damit verbunden ist eine drastische Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit der „Beste Bayrische Brezen“ GmbH, die dadurch Schritt für Schritt vom Markt verdrängt wird.
Wegen des scharfen Wettbewerbs mit der „Gesundes Brot“ AG überlegt nun die „Beste Bayrische Brezen“ GmbH, ob sie statt der Werbung in der örtlichen „Mittelbayrischen Zeitung“ nicht auch stärker in Internetmedien, z.B. bei Google, Werbung machen sollte. Zudem bietet eine international tätige Firma ein Lizenz- und Beratungspaket an, mit dessen Hilfe neue Produkte auf dem Regensburger Markt angeboten werden können, inklusive der Organisation einer Frei-Haus-Lieferung. Hierfür würden Lizenz- und Managementgebühren in Höhe von 3% des Umsatzes anfallen. Die Werbungskosten wie auch die Lizenz- und Managementgebühren könnte die „Beste Bayrische Brezen“ GmbH steuerlich geltend machen und damit ihre Steuerlast reduzieren, auch wenn die ausländischen Empfänger der Zahlung darauf keine Steuern zahlen müssen.
Eine ausländische Bank bietet an, den demnächst auslaufenden Kredit der Regensburger Sparkasse zu günstigeren Konditionen zu verlängern. Diese günstigeren Konditionen kann die ausländische Bank anbieten, weil sie selbst in einer Steueroase sitzt, ihre ausländischen Geldgeber steueroptimiert sind und beide deshalb – im Gegenssatz zur Regensburger Sparkasse und den Regensburger Sparern – auf ihre Zinserträge keine Steuern zahlen müssen.
Das deutsche Steuersystem führt zu unfairem Wettbewerb
Das geltende Steuersystem benachteiligt also in Deutschland ansässige Unternehmen gegenüber formal in Steueroasen ansässigen Unternehmen und führt deshalb zu einem unfairen Wettbewerb – der wiederum weitere Unternehmen dazu veranlasst oder sogar zwingt, ebenfalls solche Modelle zu nutzen.
Denn wenn ein in Deutschland ansässiges IT-Unternehmen, z.B. SAP, Software an ein deutsches Unternehmen liefert, muss es die aus dem Softwareverkauf resultierenden Lizenzerträge voll in Deutschland versteuern. Ein mit SAP konkurrierendes Unternehmen, z.B. Microsoft oder Google, muss entsprechende Lizenzerträge nicht in Deutschland versteuern, sondern kann sie in einer Steueroase ausweisen, wo sie dann letztlich weitgehend steuerfrei gestellt werden können. Deshalb muss ein in Deutschland ansässiges IT-Unternehmen Schritt für Schritt auch entsprechende Steuergestaltungen vornehmen, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
Ohne Änderungen im deutschen Steuerrecht besteht auch ein unfairer Wettbewerb um ausländische Kunden. Während z.B. ein deutscher Lizenzgeber die Gewinne aus seinen Lizenzerträgen voll in Deutschland versteuern muss, kann ein ausländischer Lizenzgeber seine Lizenzerträge bei entsprechender steuerlicher Gestaltung weitgehend steuerfrei stellen und seine Dienste kostengünstiger anbieten. Viele EU-Länder, z.B. Luxemburg, besteuern erhaltene Zinsen gar nicht und erhaltene Lizenzgebühren nur sehr niedrig.
Deutschland diskriminiert in Deutschland ansässige
Muttergesellschaften
Die bisher in Deutschland praktizierten Maßnahmen gegen Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung gelten nur für in Deutschland ansässige Muttergesellschaften. Deutsche Tochtergesellschaften und deutsche Betriebsstätten von im Ausland ansässigen Muttergesellschaften sind diesen Einschränkungen hingegen meist nicht ausgesetzt.
Zudem wird eine ausländische Internetplattform wie z.B. Amazon in Deutschland nicht für die in Deutschland erzielten hohen Handelsmargen besteuert, da nach deutschem Steuerrecht die Internetplattform Amazon keine Betriebsstätte in Deutschland unterhält. Vielmehr wird Amazon steuerlich wie eine Spedition behandelt: es wird nur der geringe Gewinn aus den in Deutschland ansässigen Auslieferungslagern besteuert, auch wenn Amazon im Namen einer ausländischen Firma die Ware vorhält, ausliefert und die Zahlung einzieht. Amazon haftet auch nicht für die Abführung der Mehrwertsteuer an den deutschen Fiskus, und gerade hier geschieht vieles im Graubereich, wie der aktuelle Vorschlag der Europäischen Kommission zur Reform der Mehrwertsteuererhebung zeigt.
Dagegen werden die in Deutschland ansässigen Muttergesellschaften durch die deutschen Steuergesetze veranlasst, komplizierte und aufwändige steuerliche Konstruktionen zu nutzen, um u.a. die ausländische Niedrigbesteuerung von Zinserträgen und Lizenzerträgen („Lizenzboxen“) genauso nutzen zu können wie ihre Wettbewerber. Letztlich werden dadurch die deutschen Muttergesellschaften dazu motiviert, ihre Aktivitäten schrittweise ins steuergünstige Ausland (z.B. in die Niederlande, nach Luxemburg oder in die Schweiz) zu verlagern. Die riesige neue Bürostadt von der Luxemburger Innenstadt zum Flughafen zeigt die Auswüchse von völlig künstlichen Steuergestaltungen, die wesentlich durch das veraltete deutsche Steuersystem veranlasst wurden.
Maßnahmen für eine angemessene Unternehmensbesteuerung
Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Unternehmens wird nicht etwa durch den ausgewiesenen Gewinn bestimmt, sondern durch die im Unternehmen erwirtschaftete Wertschöpfung. Die Löhne als ein Teil der Wertschöpfung werden bereits heute umgehungsresistent und entsprechend der nominalen Steuersätze mittels Besteuerung an der Quelle der Löhne besteuert: Jeder Arbeitgeber muss Lohnsteuer vom Lohn einbehalten und an den deutschen Fiskus abführen.
Die erwirtschafteten Kapitalentgelte als zweiter Teil der Wertschöpfung ergeben sich als Summe der folgenden drei Größen:
- gezahlte Zinsen als Kapitalentgelt für Fremdkapital,
- gezahlte Lizenzgebühren als Kapitalentgelt für Wissenskapital,
- resultierende Gewinne als Kapitalentgelt für Eigenkapital.
Die in Deutschland erwirtschafteten Kapitalentgelte können derzeit weitgehend steuerfrei in Form von gezahlten Zinsen und gezahlten Lizenzgebühren in Niedrigsteuerländer oder Steueroasen abfließen (Profit Shifting). Reformbedarf besteht also vor allem bei der Besteuerung der in Deutschland erwirtschafteten und gezahlten Zinsen und Lizenzgebühren.
In der politischen Debatte wird immer wieder darauf verwiesen, dass ein Land alleine kaum in der Lage wäre, den komplizierten und auf multinationalen Netzwerken basierenden Steuervermeidungspraktiken einen Riegel vorzuschieben. Dieses Argument ist nicht vollkommen aus der Luft gegriffen, wird aber oftmals auch als Ausrede verwendet, um die eigene Untätigkeit zu rechtfertigen.
Tatsächlich könnte die deutsche Politik ohne internationale Abstimmung einiges tun, um den unfairen Wettbewerb zwischen ausländischen und inländischen Unternehmen und dabei auch die wachsende, häufig ganz legale Steuervermeidung von Internetfirmen zu verringern. Ein paar Beispiele:
- Deutschland erhebt bei deutschen Schuldnern und Lizenznehmern 10% Quellensteuer auf alle gezahlten Zinsen und Lizenzgebühren.
- Im Gegenzug erstattet Deutschland in Deutschland ansässigen Gläubigern und Lizenzgebern alle von ihren Schuldnern und Lizenznehmern im Ausland gezahlte Quellensteuern in Höhe von maximal 10%.
Die steuerliche Abzugsfähigkeit von gezahlten Zinsen und Lizenzgebühren sollte in Abhängigkeit vom Steuersatz des Empfängers beschränkt werden:
- Einen vollen Abzug gibt es nur, falls der tatsächlich gezahlte Steuersatz des Empfängers größer 20% ist. Falls der Steuersatz des Empfängers unter 20% liegt, gibt es nur einen geringeren steuerlichen Abzug. Falls der Steuersatz des Empfängers 0% beträgt, gibt es überhaupt keinen Abzug.
Zudem sollte die Gewerbesteuer reformiert werden:
- Keine steuerliche Berücksichtigung von gezahlten Zinsen und Lizenzgebühren bei der Gewerbesteuer.
- Im Gegenzug gibt es eine Gewerbesteuerfreistellung des aus allen erhaltenen Zinserträgen und Lizenzgebühren erzielten Gewinns.
Sobald Deutschland unilateral Maßnahmen für eine angemessene Unternehmensbesteuerung umgesetzt hat, werden sich andere Länder mit ähnlichen Problemen bei der Durchsetzung ihrer Steueransprüche nach kurzer Zeit anschließen – wer das für zu optimistisch hält sei an den Exportschlager der deutschen Zinsschranke errinnert, die in Deutschland 2008 Gesetz wurde und mittlerweile von vielen Ländern in ähnlicher Form eingeführt wurde. Eine bessere internationale Kooperation ist sicherlich wünschenswert, aber bei weitem nicht die einzige Möglichkeit, um das deutsche Unternehmenssteuerrecht fairer zu gestalten und an die Bedürfnisse des 21. Jahrhunderts anzupassen.
Zum Autor:
Lorenz Jarass ist Professor emeritus für Wirtschaftswissenschaften an der Hochschule RheinMain. Unter anderem war er Mitglied der Kommission zur Reform der Unternehmensbesteuerung und im wissenschaftlichen Beirat der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen tätig.
Hinweis:
Im September hat Lorenz Jarass gemeinsam mit Gustav Obermair das Buch „Angemessene Unternehmensbesteuerung“ veröffentlicht, in dem weitere national umsetzbare Maßnahmen gegen Gewinnverkürzung und Gewinnverlagerung zur Unterstützung von international abgestimmten Maßnahmen erläutert und quantifiziert werden.