Derzeit gibt es drei fest terminierte Ereignisse, die ein erneutes Aufflammen der Eurokrise auslösen könnten:
Am 21. Oktober verkündet die Ratingagentur DBRS turnusgemäß ihre neueste Bewertung portugiesischer Staatsanleihen. Das ist deshalb relevant, weil Portugal nur noch bei DBRS ein Rating im Bereich Investment-Grade hat. Sollte die kleine kanadische Agentur Portugal herabstufen, dürfte die Europäische Zentralbank keine portugiesischen Anleihen im Rahmen ihres QE-Programms erwerben oder als Sicherheiten für Zentralbank-Liquidität akzeptieren – was den portugiesischen Staat erneut unter ein Rettungsprogramm zwingen und eine Bankenkrise auslösen könnte (mehr Hintergründe dazu hier).
Am 23. April findet die erste Runde der französischen Präsidentschaftswahlen statt. Es ist durchaus vorstellbar, dass Marine Le Pen, die Chefin des rechtsextremen Front National, zur neuen Staatschefin gewählt wird. Umfragen zufolge führt Le Pen das Bewerberfeld derzeit an.
Die Fälle Portugal und Frankreich sind also im Wesentlichen Hopp-oder-Top-Events: Downgrade für Portugal = Krise, Präsidentin Le Pen = Krise. Sollten diese Ereignisse (und nicht planbare Ereignisse wie z. B. die Pleite einer deutschen Großbank) aber nicht eintreten, bliebe es bis auf weiteres bei der momentanen europäischen Großwetterlage (viel Regen, ab und zu ein paar Sonnenstrahlen, aber keine schweren Unwetter).
Wesentlich komplizierter sind die möglichen Folgen des dritten Events abzuschätzen: die des Verfassungsreferendums in Italien. Seit dem heutigen Dienstag steht fest, dass der Urnengang am 4. Dezember stattfinden wird.
Bei dem zur Abstimmung stehenden Reformpaket geht es im Wesentlichen um drei Dinge:
Das italienische Parlament besteht aus zwei Kammern: Dem Senat und der Abgeordnetenkammer: Derzeit haben beide Kammern die gleichen Machtbefugnisse – was dazu führt, dass Gesetze immer wieder hin und her geschoben werden. Die Reform würde den Senat zu Gunsten der Abgeordnetenkammer schwächen. Der Senat hätte künftig nur noch begrenzte Eingriffsmöglichkeiten und kein Veto-Recht. Außerdem würde die Zahl der Senatoren von derzeit 315 auf 100 reduziert werden.
Die Beziehung zwischen der Zentralregierung und den regionalen Regierungen würde neu geordnet werden. Das Ziel: Es soll weniger Kompetenz-Überschneidungen geben und die Verwaltung effizienter gestaltet werden.
Das aus europäischer Perspektive wichtigste – und umstrittenste – Element der Reform ist die geplante Überarbeitung des Wahlrechts. Nach der Reform würde die Partei, die im ersten Wahlgang mehr als 40% der Stimmen erhält, automatisch 55% der Sitze in der Abgeordnetenkammer erhalten. Sollte keine Partei im ersten Wahlgang mehr als 40% der Stimmen erhalten, würde es zu einem zweiten Wahlgang kommen, dessen Sieger dann die 55% der Sitze erhält. Das hieße also, dass es in Italien künftig immer eine Ein-Parteien-Regierung mit stabiler Mehrheit geben würde.
Aber es bedeutet auch, dass kleinere Oppositionsparteien praktisch ohne jede Chance auf eine Regierungsbeteiligung sind. Zudem würden die eigentlichen Stimmanteile extrem verzerrt werden: Sollte eine Partei im ersten Wahlgang beispielsweise nur 30% der Stimmen erhalten, sich aber in der Stichwahl des zweiten Durchgangs durchsetzen, könnte sie ein Viertel mehr Sitze erhalten, als es der Wählerwille eigentlich hergibt. Dafür würden die restlichen Parteien weniger Sitze erhalten.
Es ist wichtig zu wissen, dass die Wahlrechtsreform juristisch nicht mit den ersten beiden Punkten verknüpft ist – es war eine politische Entscheidung, sie im Referendum zu verbinden. Gegen die Wahlrechtsreform ist zudem eine Klage beim italienischen Verfassungsgericht anhänglich. Das Gericht hat bereits entschieden, sich anders als zunächst geplant erst nach dem Referendum dazu zu äußern.
Dem Referendum wird aber gemeinhin nicht nur eine Bedeutung für die italienische Innenpolitik zugeschrieben: Denn Ministerpräsident Matteo Renzi hatte ursprünglich angekündigt, im Falle eines „no“-Votums zurückzutreten, was in der drittgrößten Volkswirtschaft der Eurozone erneut politische Turbulenzen auslösen dürfte – und die europakritische 5-Sterne-Bewegung an die Macht bringen könnte, die gerne ein Referendum über die Euro-Zugehörigkeit Italiens abhalten lassen würde.
Dazu muss man aber sagen, dass Renzi diese Ankündigung inzwischen relativiert hat und durchblicken ließ, dass er sich sehr wohl auch im Falle einer Niederlage vorstellen kann, bis zur nächsten regulären Wahl im Frühjahr 2018 Ministerpräsident zu bleiben – wobei unklar ist, ob Renzis eigene Partei oder seine Koalitionspartner diese Rolle Rückwärts im Falle einer Niederlage tatsächlich unterstützen werden.
Viele offene Fragen also, auf die es erst in ein paar Monaten endgültige Antworten geben wird. Die folgende Infografik soll daher einen Überblick über die denkbaren Szenarien geben.
(Wenn die folgende Grafik nicht korrekt angezeigt wird, klicken Sie bitte hier, um die Seite neu zu laden)
Klicken Sie auf die Kreise, um mehr zu den einzelnen Punkten zu erfahren
Referendum (4. Dezember)
Annahme
Ablehnung
Wahlen 2018
Renzi macht weiter
Renzi tritt zurück
Regierungsumbildung
Verfassungsgericht
Neuwahlen
Auch wenn sie in den letzten Wochen etwas an Beliebtheit eingebüßt hat: Die 5-Sterne-Bewegung (MoVimento 5 Stelle, M5S) ist zu einer festen Größe in der italienischen Politik geworden. In den Umfragen ist sie derzeit die zweitstärkste Kraft, nur dicht hinter den Sozialdemokraten. Inzwischen darf sich die euro(pa)kritische M5S ernsthafte Chancen auf eine Regierungsbeteiligung ausrechnen. Da die Wahlrechtsreform in diesem Szenario aber nicht zustande gekommen ist, wird erneut eine Koalitionsregierung nötig sein.
Anti-Euro-Regierung
Pro-Euro-Regierung
Euro-Referendum (Italexit?)
Ein „sì“-Votum könnte sogar noch gefährlicher sein
Einige Kommentatoren und Analysten sind der Meinung, dass die Ablehnung der Reform und die möglicherweise daraus resultierende Regierungskrise die derzeit größte Gefahr für Europa darstellen würde. Allerdings wirken diese Ängste angesichts der vielen denkbaren Szenarien etwas voreilig und übertrieben. Und vor allem erschließt sich beim Blick auf die Details der Reform nicht so ganz, warum ein „sì“-Votum nicht mindestens genauso gefährlich sein sollte.
Spielen wir das vermeintliche Best-Case-Szenario einmal durch: Das Reformpaket wird im Referendum angenommen, auch das Verfassungsgericht gibt grünes Licht, die Renzi-Regierung kann bis zum nächsten Wahltermin durchregieren. Aber dann würde unter Annahme der aktuellen Umfragen die 5-Sterne-Bewegung mindestens zur zweitstärksten Kraft aufsteigen. In einem zweiten Wahlgang hätte sie auch gute Chancen, Renzis Sozialdemokraten zu schlagen, da die Stimmen aus dem rechten Lager wohl ihr zufallen würden. Aufgrund der Reform würde sie dann die Regierung stellen – und zwar alleine (eine Unterstützung im Senat vorausgesetzt), was vor der Reform definitiv nicht der Fall gewesen wäre.
Somit wäre der Weg frei für ein Referendum – und eine Reform, die eigentlich den Sinn hatte, Italien reformfähiger und regierbarer zu machen, könnte letztlich die Grundlage für den „Italexit“ bieten. Das italienische Drama wird also in jedem Fall nicht am 4. Dezember enden – sondern dann womöglich erst richtig losgehen.