Seit einigen Tagen sorgt in Ökonomenkreisen ein Papier für Aufsehen. Geschrieben wurde es von Servaas Storm, Ökonom an der Technischen Universität in Delft. Unter dem Titel German Wage Moderation and the Eurozone Crisis: A Critical Analysis beschreibt Storm, der unter anderem auch für das Institute for New Economic Thinking (INET) tätig ist, seine Sicht auf die Ursachen der Eurokrise.
Im Zentrum von Storms Kritik stehen dabei Peter Bofinger, Mitglied des deutschen Sachverständigenrates, und der britische Ökonom und passionierte Blogger Simon Wren-Lewis. Beide haben in der Vergangenheit stets betont, dass es vor allem auch die Lohnzurückhaltung in Deutschland war, die maßgeblich zur Entstehung der Eurokrise beigetragen hat. Storm bezieht sich in erster Linie auf zwei Veröffentlichungen: Peter Bofingers German Wage Moderation and the Eurozone Crisis
und Wren-Lewis` Was German Wage Undercutting Deliberate?.
Storm bestreitet nicht, dass die deutsche Lohnzurückhaltung eine gewisse Rolle bei der Entstehung der Eurokrise gespielt hat – aber eben eine andere, als es Bofinger und Wren-Lewis postulieren. So seien die deutschen Lohnstückkosten im Verhältnis zu denen der anderen Eurostaaten zwar gesunken, dies sei aber nicht auf eine aktive Lohnzurückhaltung zurückzuführen, sondern vielmehr auf einen massiven Anstieg der deutschen Produktivität. „Es war die deutsche Ingenieurskunst, nicht die nominale Lohnzurückhaltung, die die Lohnstückkosten gesenkt hat.“ Das Gerede, dass Deutschland seine europäischen Nachbarn bewusst unterboten habe, gehe an der Sache vorbei. Als Beleg verwendet er unter anderem folgenden Chart:
Außerdem zitiert Storm einige Studien, die zeigen würden, dass die Lohnstückkosten ohnehin nur für 25% der Brutto-Produktionskosten verantwortlich seien und Unternehmen zudem nicht den kompletten Anstieg der Lohnstückkosten auf die Preise übertragen würden, die sie letztlich am Markt verlangen.
Wie schon erwähnt verneint Storm trotzdem nicht, dass die deutsche Lohnzurückhaltung eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Eurokrise spielt habe – aber eben eine komplett andere als es bisher die gängige Meinung sei. Viel wichtiger als deren Einfluss auf den Kostenwettbewerb unter den Eurostaaten sei, dass sich die deutsche Lohnzurückhaltung negativ auf das deutsche Wachstum und die Inflation ausgewirkt habe, was die Europäische Zentralbank (EZB) dazu gezwungen habe, für die gesamte Eurozone die Zinsen zu stark zu senken – was wiederum den Kreditboom in der Euro-Peripherie erst ermöglicht habe.
Erste Reaktionen von Bofinger und Wren-Lewis
Wren-Lewis hat bisher noch keine Antwort auf Storm veröffentlicht. Er sei bisher noch nicht dazu gekommen, sich mit dem Papier eingehend auseinanderzusetzen, so Wren-Lewis auf Makronom-Anfrage. Er verwies aber auf einen Beitrag des deutschen Journalisten Thorsten Hild, Betreiber der Webseite „Wirtschaft und Gesellschaft“ (WuG).
Darin wirft Hild Storm vor, die Bedeutung der nominalen Lohnstückkosen falsch zu verstehen. Storm verknüpfe in seinem Papier die Entwicklung der relevanten Indikatoren (Produktivität, Nominallöhne, Lohnstückkosten) in Deutschland mit deren Entwicklung in der Eurozone als Ganzes (Deutschland herausgerechnet). „Das ist aber nicht das, worauf es in einer Währungsunion ankommt“, so Hild.
Vielmehr sei entscheidend, dass die Nominallöhne in jedem einzelnen Land entsprechend der jeweiligen Produktivitätsentwicklung plus dem Inflationsziel der EZB von knapp 2% steigen. Ob ein Land einen massiven Produktivitätsschub oder das Gegenteil vollziehe, sei dabei irrelevant – die Hauptsache sei, dass dieser wie auch das Inflationsziel der EZB bei der Lohnfindung auch berücksichtigt werde.
Storm wiederum betont in einer kurzen Antwort auf Hilds Argumentation, dass er dies im Prinzip gar nicht groß anderes sehe. Sein Punkt sei aber vielmehr, dass die strukturellen Ungleichweite zwischen den Eurostaaten selbst dann entstanden wären, wenn alle Länder ihre Löhne gemäß der Produktivitätsentwicklung hätten steigen lassen, weil die einzelnen Mitgliedsstaaten strukturell schlicht zu unterschiedlich aufgestellt seien.
Beim deutschen Wirtschaftsweisen Peter Bofinger hat Storms Papier vor allem Irritationen ausgelöst. Er teile Storms Ausführungen nicht und könne insbesonderen dessen Berechnungen zu der These, in Deutschland habe es gar keinen Druck auf die Nominallöhne gegeben, nicht nachvollziehen. Seine Berechnungen ergäben ein anderes Bild, wie Bofinger in diesem Chart demonstriert:
Außerdem werfe Storm ihm teilweise etwas vor, was er selbst gar nicht vertrete, so Bofinger weiter. So kritisiert Storm Bofinger unter anderem dafür, dass er sich ausschließlich auf die Realwirtschaft fokussiere und den Finanzsektor außer Acht lasse. Das tue er keinesfalls, so Bofinger und verweist auf die von ihm unterzeichnete Konsensdiagnose, die die Rolle der Finanzmärkte bei der Entstehung der Eurokrise ausdrücklich berücksichtigte.
Gemeinsame Ablehnung der Strategie der „Internen Abwertung“
Diese Konsensdiagnose ist ein gemeinsames Papier von 16 Ökonomen, das versucht, die verschiedenen Meinungen zur Entstehung der Eurokrise auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen (über diese „Suche nach dem Minimalkonsens“ hatten wir bereits berichtet). Anders als Bofinger und Wren-Lewis hat Storm diese aber nicht unterzeichnet, weil die Konsensdiagnose „die offizielle Arznei akzeptiert, die den von der Krise getroffenen Ländern von der Europäischen Kommission, der EZB und dem IWF aufgezwungen“ worden sei.
Diese Passage zeigt: Trotz aller Diskrepanzen sollte Storm nicht so verstanden werden, als dass er Bofingers und Wren-Lewis´Positionen grundsätzlich ablehnt – im Gegenteil. Wie seine beiden Ökonomenkollegen teilt Strom die Auffassung, nach der die bisherige Eurokrisenpolitik – vor allem die Strategie der sogenannten „Internen Abwertung“ – ein ziemliches Desaster war. Storm positioniert sich damit klar gegen „orthodoxe“ Ökonomen wie beispielsweise Hans-Werner Sinn, die die Krisenursachen fast ausschließlich in den Krisenländern selbst sehen würden.