Vor einiger Zeit hatte ich im Makronom die Gewerkschaften gegenüber Vorwürfen verteidigt, ihre Lohnforderungen seien aus gesamtwirtschaftlicher und insbesondere europäischer Sicht bewusst zu niedrig angelegt. Mein Kernargument war, dass hier den Gewerkschaften eine Last aufgebürdet würde, die sie bei den ausdifferenzierten Wertschöpfungsketten heutiger Produktion, der zu ihren Ungunsten gestalteten Arbeitsmarktregulierung und ihrer schwachen europäischen Organisation nicht würden schultern können. Vielmehr seien die Fiskal- und die Arbeitsmarktpolitik gefordert, eine gesamtwirtschaftliche und europäische Stabilisierung zu erreichen.
Auf diese Überlegungen hat Heiner Flassbeck, an den sich die Kritik teilweise richtete, vor der Sommerpause reagiert. Der ehemalige UNCTAD-Chefvolkswirt behauptet, dass die deutschen Gewerkschaften nicht aus von den von mir genannten Gründen zu niedrige Lohnabschlüsse tätigen würden, sondern weil dies Teil ihrer Strategie sei, die internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Exporteure unter bewusster Vernachlässigung gesamtwirtschaftlicher wie europäischer Ziele zu stärken. Diese Behauptung ist der entscheidende Grund für seine Forderung, den Euro als gemeinsame Währung aufzugeben. Denn bei diesen gewerkschaftlichen Verhaltensweisen kann sich aus der Flassbeckschen Perspektive der Euroraum niemals aus seiner Krise befreien.
Die Argumentation von Flassbeck beruht auf einer Beweisführung ex negativo: Flassbeck versucht, seine These dadurch zu beweisen, dass die Gewerkschaften etwas nicht tun. Konkret meint er, Äußerungen von verantwortlichen Gewerkschaftlern zur Lohnpolitik würden die von ihm skizzierten Probleme bewusst nicht adressieren und damit zum Ausdruck bringen, dass sie sie für irrelevant halten. Mithin seien die aus seiner Sicht zu niedrigen Lohnabschlüsse Bestandteil einer gewerkschaftlichen Strategie des Lohndumpings.
Man würde nun erwarten, dass Heiner Flassbeck Zitate eines verantwortlichen Gewerkschaftsvorstandes zu Tarifverhandlungen benennt, in der die gesamtwirtschaftliche und europäische Problematik zu niedriger Löhne tatsächlich ignoriert oder, besser noch, explizit als unwichtig bezeichnet wird. Umso überraschender ist, dass Flassbeck als Kronzeugen den DGB-Vorsitzenden Reiner Hoffmann mit einem Interview zum Brexit anführt.
Dazu muss man wissen, dass der DGB-Vorsitzende keinerlei tarifpolitische Verantwortung besitzt. Dies ist Aufgabe der Einzelgewerkschaften, die in den einzelnen Branchen vor Ort tätig sind. Insofern äußern sich DGB-Vorsitzende – wenn überhaupt – nur äußerst selten zu tarifpolitischen Fragen. Eine besondere Überraschung wäre gewesen, wenn dies ausgerechnet beim Brexit-Thema geschehen wäre, wo es ja primär um Großbritannien ging, das bekanntlich kein Mitglied des Euroraums ist. Die Überraschung ist nicht eingetreten und damit für Heiner Flassbeck der Beweis für die Richtigkeit seiner These.
Das ist denn doch etwas zu leichtfüßig argumentiert. Mit nur wenig Mühe hätte Heiner Flassbeck sehr wohl Zitate von für Tarifpolitik verantwortlichen Gewerkschaftlern finden können. Nehmen wir z.B. den IG Metall-Vorsitzenden Jörg Hofmann, den wohl einflussreichsten Tarifverhandler der Republik. Eine völlig unvollständige Sammlung von Zitaten (z. B. hier und hier) zeigt, dass Hofmann genau die Probleme anspricht, die auch Flassbeck benennt, sie aber als Begründung für kräftige Lohnforderungen anführt. Mit anderen Worten: Gewerkschaften berücksichtigen gesamtwirtschaftliche wie auch europäische Erfordernisse zur Begründung ihrer Lohnforderungen.
Das ist das genaue Gegenteil von Flassbecks Behauptung. Folglich ist es in Flassbecks eigener Art der Beweisführung falsch, den Gewerkschaften eine bewusste Strategie des Lohndumpings zu unterstellen. Die niedrigen Lohnzuwächse waren somit nicht das Ergebnis einer gewerkschaftlichen Strategie der Lohnzurückhaltung.
Jenseits dieser Logik bleibt aber das Faktum relativ niedriger Lohnzuwächse über einen langen Zeitraum. Dass dies die Fiskalpolitik alleine nicht ausgleichen kann, wie Heiner Flassbeck schreibt, ist richtig. Aber sie kann einen signifikanten Beitrag hierzu leisten. Leider versäumt Flassbeck auf alle übrigen Argumente einzugehen, mit denen ich die Tendenz zu niedrigen Lohnabschlüssen in der Vergangenheit zu erklären versucht habe.
Als Beispiel sei die differenzierte Entwicklung entlang der Wertschöpfungskette genannt. Der jüngste Streit zwischen VW und seinen Zulieferern hat doch überdeutlich gezeigt, wie unterschiedlich die Voraussetzungen sind. Dem müssen Lohnforderungen und Lohnabschlüsse Rechnung tragen. An dieser Stelle hätte nun eine für die Gewerkschaften wichtige Debatte über genau diese Probleme des Alltagsgeschäfts von Tarifverhandlungen beginnen können. Aber das scheint Heiner Flassbeck nicht zu interessieren.
Ist der Euro noch zu retten?
Bleibt aber noch eine wichtige Frage zu beantworten: Ist der Euro angesichts dieser lohnpolitischen Voraussetzungen noch zu retten? Flassbeck meint nein und fordert mich wie auch viele seiner Anhänger auf, sich der EUREXIT-Bewegung anzuschließen, die die Abschaffung des Euro zum Ziel hat. Das werde ich aber nicht tun – denn gewichtige ökonomische und politische Gründe sprechen dagegen. Die Position der EUREXIT-Befürworter basiert auf der Annahme, dass die Lohnbildung im Euroraum strukturell an den Erfordernissen eines gemeinsamen Währungsraums vorbeigeht.
Das ist zwar eine korrekte Beschreibung der Vergangenheit, aber nicht zwangsläufig der Zukunft. Es ist schon erstaunlich, wie wenig die EUREXIT-Befürworter aktuelle Entwicklungen zur Kenntnis nehmen. So erfüllen die aktuellen Lohnzuwächse in Deutschland nahezu alle Stabilitätserfordernisse. Sicherlich, dieser Prozess muss noch über einige Jahre weiter gehen – aber die Verbesserung ist vor dem Hintergrund einer für die Gewerkschaften wieder etwas günstigeren Regulierung des Arbeitsmarktes, z.B. durch die Einführung eines Mindestlohnes, unverkennbar. Umgekehrt ist derzeit keine inflationäre Lohnbildung in irgendeinem der Krisenländer erkennbar. Damit bestehen die strukturellen Probleme der Vorkrisenzeit derzeit also nicht fort. Die Verhältnisse sind veränderbar und ändern sich auch – und zwar zum Besseren.
Das ist nicht als ein “Alles ist gut“ zu verstehen. Der Euroraum bedarf dringend einer expansiveren Fiskalpolitik, um die Geldpolitik zu flankieren. Erst mit einer durchgreifenden Investitionsbelebung können Stabilität und Wachstum im Euroraum erreicht werden. Aber auch in dieser Hinsicht sind zaghafte und verschämte Bewegungen in die richtige Richtung zu erkennen. Selbst in Deutschland ist die Fiskalpolitik spürbar expansiv.
Neben diesen aktuellen ökonomischen Veränderungen, die längst noch nicht ausreichend sind, sind langfristig jedoch institutionelle Veränderungen auf europäischer Ebene unumgänglich. Soll der Euro Bestand haben, bedarf es einer vertieften Integration. Dies zu erreichen, ist die Aufgabe der europäischen Zivilgesellschaft. Deshalb unterstütze ich beispielsweise die parteiübergreifende Initiative Restart Europe Now!, die der gescheiterten Austeritäts- und Abschottungspolitik ebenfalls sehr kritisch gegenübersteht, aber versucht, ihr progressive Alternativen entgegenzusetzen.
Die faktische Renationalisierung der Währungspolitik, wie sie die EUREXIT-Befürworter anstreben, steht dieser Vertiefung entgegen. Sie wird damit den Zerfallsprozess des Euroraums beschleunigen und wider Willen politischen Bewegungen Vorschub leisten, die genau dies aus nationalistischen Gründen anstreben. Ohne mich.
Zum Autor:
Gustav A. Horn ist wissenschaftlicher Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung.