In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst Forum (früher piqd) eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. Formum.eu versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Der zornige Osten, ein Lehrstück über Integrationsprobleme?
piqer:
Thomas Wahl
Wer kennt sie nicht, die Hoffnungen zu Beginn des Einigungsprozesses 1989 und der Folgejahre. Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört – der Satz von Willy Brandt klang klar und einfach. Und doch übersah er, dass sich in den wenigen Jahrzehnten der Teilung offensichtlich zwei unterschiedliche Gesellschaften herausgebildet haben. Wie Steffen Mau in seinem Buch „Ungleich vereint – Warum der Osten anders bleibt“ treffend schreibt:
Und das betraf eben nicht nur die wirtschaftliche Verfassung sowie das politische System, sondern ebenso die sozialen Strukturen, kulturellen Mentalitäten und die politischen Bewusstseinsformen.
Müssen wir nicht grundsätzlich unsere naiven Vorstellungen von Integration und Zusammenwachsen überprüfen? Der MDR hat sich auf eine verdienstvolle Reise begeben – durch die drei Bundesländer Mitteldeutschlands. Das auch im Zentrum Mitteleuropas liegt – dem anderen großen Integrationsprojekt.
Die Dokumentation zeigt einen ungeschönten Blick auf die Stimmung der Menschen in Ostdeutschland. Ohne erhobenen Zeigefinger, ohne direkte und belehrende Kommentare.
Es brodelt im Land, nicht nur, aber vor allem im Osten. Die Reportage „Wut. Eine Reise durch den zornigen Osten“ ist ein Film von Grimme-Preisträger Matthias Schmidt (u.a. „Das Wunder von Leipzig“/ ARD, „Angela Merkel: Die Unerwartete“/ ARD, „Putin und die Deutschen“/ ZDF und „Die Bühnenrepublik. Theater in der DDR“/ 3Sat). Er lässt Menschen aus der Mitte der Gesellschaft zu Wort kommen und fragt, was sie bewegt oder gar wütend macht. Er hat zugehört: am Gartenzaun, im Friseursalon, auf Montags-Demos – in der Stadt und auf dem Land. Ob Migration, Krieg, Gendern oder Öffentlich-rechtlicher Rundfunk, die Themen sind vielgestaltig.
Begleitend versucht der oben zitierte Soziologe Steffen Mau Wut und Erregung vieler ostdeutscher Bürger in den historischen Kontext, in kollektive Erzählungen und in ihre subjektiven DDR- und Nachwende-Erfahrungen einzubringen.
In seinem Buch warnt er:
Wer in der Ost-West-Debatte mit Schuldbegriffen operiert, ist schon auf dem Holzweg. Zudem sollte man küchenpsychologische Erklärungen vermeiden, die sich an populären Mythen zu bestimmten Gruppeneigenschaften abarbeiten oder Alltagshypothesen mit der Realität verwechseln.
Die Wirklichkeit ist widersprüchlich, oft paradox und komplex. Genau wie die Widerspiegelung in den Köpfen der Menschen. Die ursprüngliche Theorie der Modernisierung und Angleichung des Ostens hat sich nicht wirklich bewahrheitet. Auch die These vom rechtsradikalen Osten der Abgehängten begreift nicht die Vielschichtigkeit des Prozesses und der Menschen dort.
Einerseits, so Mau in seinem Buch:
Blickt man nur auf einige wenige statistische Kennzahlen, hat sich der Osten in den vergangenen Jahren in dieser Hinsicht gar nicht so schlecht entwickelt. Seit 2017 ist das demografische Ausbluten gestoppt, es ziehen etwas mehr Menschen von West nach Ost als umgekehrt. Die große Kluft in der Arbeitslosenquote hat sich verringert, die subjektive Lebenszufriedenheit hat sich angenähert, in den vergangenen zwei Jahren fiel das Wirtschaftswachstum in Ostdeutschland sogar höher aus als in Gesamtdeutschland. Nachrichten zu umfangreichen privaten wie öffentlichen Investitionen und zur Ansiedlung technologieintensiver Industrien – von der Batterieherstellung über die Chipproduktion bis hin zu E-Mobilität – machen Hoffnung, dass sich mittelfristig auch die Produktivitätslücke schließen könnte. Der Umstand, dass sich prestigeträchtige globale Unternehmen nun Ostdeutschland als Standort aussuchen, lässt viele bereits von einem Wirtschaftsboom träumen. Industrieparks, Fertigungshallen und Breitbandausbau wären dann die neuen blühenden Landschaften.
Andererseits aber so Mau:
Doch dies ist nur eine Seite der Medaille, die fortbestehende, zum Teil sehr hartnäckige Unterschiede verdeckt. Wer sich eine Vielzahl unterschiedlichster Indikatoren anschaut – Ausstattung der Haushalte, Erwerbsquoten, Kirchenbindung, Vereinsdichte, Anteil von Menschen mit Migrationsbiografie, Ausgaben für Forschung und Entwicklung, Exportorientierung der Wirtschaft, Vertrauen in Institutionen, Patentanmeldungen, Hauptsitze großer Firmen, Produktivität, Erbschaftssteueraufkommen, Zahl der Tennisplätze, Anteil junger Menschen, Moscheendichte, die Lebenserwartung von Männern, die durchschnittliche Größe der landwirtschaftlichen Betriebe, Parteimitgliedschaft, Kaufkraft, Wert des Immobilieneigentums, Größe des Niedriglohnsektors –, der kommt immer wieder zu dem gleichen Ergebnis: Eine Phantomgrenze durchzieht das geeinte Land. Färbt man die 294 Landkreise und 106 kreisfreien Städte in Deutschland anhand dieser Indikatoren ein, zeichnen sich die Umrisse der alten Bundesrepublik und Ostdeutschlands klar voneinander ab.
Wenn ich sehe, wie schwierig (und teuer) es ist, Unterschiede in der Sozialstruktur, der Demografie und der Kultur anzunähern, die in relativ kurzen Zeiträumen innerhalb eines Volkes mit einer Sprache entstanden sind, wie viel Zeit und Geduld benötigen wir dann für eine Europäische Union, die aus 27 Völkern besteht? Was können wir da realistisch erwarten?
Warum Brandt heute eine andere Russlandpolitik machen würde
piqer:
Dirk Liesemer
Vor ein paar Tagen empfahl Mitpicker Achim Engelberg einen Artikel des Politikanalysten Hans Kundnani, in dem es um die Ostpolitik von Willy Brandt und seinem Minister für besondere Aufgaben, Egon Bahr, ging (hier nachzulesen). Kurz gesagt erinnert Kundani an zwei Aspekte von Bahr, auf die sich die heutige deutsche Politik besinnen solle:
Bahrs Konzept beinhaltet zwei ausgesprochen innovative und interessante Aspekte, die für das Nachdenken über die deutsche Russlandpolitik heute bedeutsam sind. Der erste Aspekt ist der paradoxe Gedanke, die Realität zu akzeptieren, um sie verändern zu können. Für Bahr war dies die Teilung Deutschlands. Er kam zu der Einsicht, dass die Anerkennung der Deutschen Demokratischen Republik der beste Weg sei, um die Teilung zu überwinden. Er nannte das „innerdeutsches Judo“.
Der zweite Aspekt der Ostpolitik ist der Gedanke, in kleinen Schritten auf ein langfristiges Ziel hinzuarbeiten, das unerreichbar scheint. Für Bahr war der erste Schritt ein Abkommen mit der DDR, das es der Bevölkerung Westberlins ermöglichte, Passierscheine für den Besuch bei Verwandten in Ostberlin zu beantragen. Das muss damals bestenfalls belanglos gewirkt und schlimmstenfalls als Zugeständnis wahrgenommen worden sein – doch es war der Beginn eines Prozesses, der die beiden deutschen Staaten zusammenführen sollte.
Kundanis Ausführungen erschienen in der Online-Zeitschrift „IPG“ und blieben dort nicht unwidersprochen. Der Historiker Bernd Rother stört sich vor allem an der Aussage, man solle die Realität akzeptieren. Rhetorisch fragt Rother, was das denn bitte genau heißen solle.
Damit kann nur die russisch-ukrainische Grenze gemeint sein. Deutschland solle also die Annexion der Krim und des Donbass anerkennen. Was die Ukraine dazu sagen würde, bleibt bei solchen Forderungen eine Leerstelle.
Tatsächlich bleibt Kundanis Argumentation erstaunlich wolkig, wenn es darum geht, wie man denn nun einen Frieden mit Russland erreichen könnte. Er schreibt von „kleinen Schritten“, was sicher nicht falsch ist, aber noch keine Richtung, geschweige denn eine Strategie anzeigt. Überhaupt ist die Situation für das längst wiedervereinigte Deutschland eine gänzlich andere als sie es in den 1970er-Jahren war. Allzu viel lasse sich von damals nicht übertragen, argumentiert Rother. Selbst Willy Brandt würde heute eine andere Ostpolitik machen. Wer von Kundanis Text angetan war, dem empfehle ich nun die Gegenposition.
Hilft erlernte Ungeduld Rechtspopulisten?
piqer:
Silke Jäger
Dieser Gedanke kam mir seltsam vertraut vor: Westliche, hoch-industrialisierte Gesellschaften haben ein Problem mit ihrem Verhältnis zu Zeit. Und diese gestörte Beziehung hat Folgen, zum Beispiel auch für die politische Meinungsbildung.
Der Autor des Textes, ein Sozialwissenschaftler von der Universität des Baskenlands, versucht Zusammenhänge zu ziehen zwischen dem Erstarken des Rechtspopulismus in vielen Ländern und einem Phänomen, das er erlernte Ungeduld nennt.
Viele Dinge, die wir für ultramodern halten, ziehen ihren Wert daraus, dass sie uns versprechen Zeit zu sparen und im besten Fall auch, dass Dinge einfacher werden:
We live in an era of same day delivery, of fast food and fast fashion. We listen to voice messages and podcasts at double speed, and the slightest doubt or curiosity is instantly satisfied by a quick search on our phones, bypassing any need for personal interaction or moments of uncertainty.
Besonders der letzte Satz in diesem Zitat ist erhellend: Das schafft Abkürzungen, die die Notwendigkeit von (…) Momenten der Unsicherheit überflüssig macht. Das Kopfverdrehende an einer Welt, die überwiegend aus Abkürzungen besteht, ist, dass die kleinen Unsicherheiten im Alltag zu verschwinden scheinen, weil Abkürzungen suggerieren, sie seien der beste Weg – und meinen damit, dass besser dasselbe sei wie zeitsparend (übrigens ein Teufelskreis!). Der Grund für diesen Teufelskreis:
Wherever we look, the principle that time is money rules, and this has accelerated the pace of our lives.
Wenn wir im Alltag also eine Bedienoberfläche haben, die auf Knopfdruck Dinge passieren lässt (Pizza ordert, Kontakt herstellt, etc.), aber gleichzeitig erleben, dass demokratische Institutionen ihre Arbeit im Schneckentempo erledigen und dabei irrsinnige Umwege einlegen (Stichwort: Bürokratie!!!!), ist ein Gefühl der Verzweiflung irgendwie logisch.
Wer bitte soll für politische Prozesse dieses Maß an Geduld aufbringen? Schließlich müssen alle in knapper Zeit zig Dinge erledigen: Alle sind jetzt neben vielem anderen außerdem noch Manager:innen ihres Bankkontos, müssen selbst aufpassen, dass sie nicht auf Phishing-Mails hereinfallen und am Ende womöglich nicht beweisen können, dass die Bank eine Mitschuld trägt, weswegen das Geld auf ihrem Konto nicht sicher ist und wovon soll man dann die Miete zahlen und die Schulhefte für die Kinder …? Und überhaupt: Wie wird das mit der elektronischen Patientenakte und was macht Google, während ich im Internet meinen Urlaub zu buchen versuche, während da, wo ich hinwill, wahrscheinlich die Wälder brennen und mein befristeter Arbeitsvertrag bald abläuft. (Sorry, wenn man einmal anfängt, über absurdes Alltagsmanagement nachzudenken, kommt man vom Hölzchen aufs Stöckchen …)
Populistische Bewegungen sind sehr gut darin, Komplexes unzulässig zu vereindeutigen und damit nicht nur an die neue Lebensrealität von Menschen anzudocken, sondern auch die Punkte zu treffen, die in dieser neuen Welt ziemlich weh tun.
Dieser Alltagsschmerz (zu wenig Zeit!) ist schon so verinnerlicht, dass wir ihn meistens nicht als Problem wahrnehmen. Und das macht anfällig für Manipulationen. Es muss nur jemand versprechen: Wir machen Politik, die ohne nervige Unsicherheiten auskommt. Zack, schon findet man den irgendwie interessant und hört zu, was er sonst noch so zu sagen hat. (Echt? Migration zu begrenzen, ist die Lösung für alles? Das ist ja einfach, lass es uns tun! Worauf warten wir noch?).
By doing away with deliberation, a cornerstone of liberal democratic politics, right wing populism seems to have found the key to success in our fast paced society. For an increasingly large number of voters, time to think or reflect seems to be nothing more than a hindrance to effective decision making, and it is this line of thought that is swelling the ranks of the far right.
Die Lösung, die der Autor dafür sieht, entbehrt nicht einer gewissen Tragik und ist auf jeden Fall ein Drahtseilakt:
any remedy will have to speed up political decision making processes without undermining the values that underpin democracy.
Wie Massive Attack Konzerte klimafreundlicher machen will
piqer:
Ralph Diermann
Massive Attack haben wir nicht nur so großartige Songs wie Teardrop oder Blue Lines verdanken, sondern auch eine Initiative zum Klimaschutz bei Konzerten und anderen Großveranstaltungen, die ihresgleichen sucht. So hat die Band aus Bristol zusammen mit einem britischen Think-Tank einen umfangreichen, anspruchsvollen Leitfaden erarbeitet, der Konzerte klimafreundlicher machen soll.
Bei einem am kommenden Wochenende stattfindenden Festival in ihrer Heimatstadt setzt Massive Attack nun einen großen Teil davon um, berichtet die BBC in einem ausführlichen Textbeitrag – und geht damit meilenweit über die Klimaschutz-Bemühungen ihrer Kollegen von Coldplay hinaus, für die sie so große mediale Aufmerksamkeit bekommen.
Dabei setzt Massive Attack an zwei zentralen Punkten an: die Anreise der Besucher sowie die Stromversorgung auf dem Gelände. So hat die Band einen Pre-Sale für die Bewohner von Bristol und Umgebung durchgeführt, um mehr Besucher aus der Region auf das Festival zu bekommen, Sonderzüge und Elektro-Pendelbusse für den Transport zwischen Bahnhof und Gelände gechartert und allen, die per Zug anreisen, Goodies wie den Zugang zu einem VIP-Bereich versprochen.
Den Strom bezieht das Festival von einem Unternehmen, das ausschließlich Wind- und Solarstrom einkauft und selbst kräftig in Photovoltaik und Windparks investiert. Nicht vermeidbare Emissionen kompensiert die Band, indem sie in der Region Bäume pflanzen lässt. Das Essen auf dem Festivalgelände ist vegan, die Produkte kommen weitestgehend aus dem Umland. Das Equipment transportieren Elektro-LKW, die Band selbst reist per Zug.
All das ist auch deshalb so wichtig, weil sich das Konzept gut auf andere Großveranstaltungen übertragen lässt, schreibt die BBC – allen voran auf den Profi-Fußball. Wobei der ja schon einiges davon umgesetzt hat, etwa die Anreise vieler Fans per gechartertem Bus oder Zug.
Ergänzung: Am 23. August hat auch der Guardian über die Initiative von Massive Attack berichtet, der Artikel bietet einige weitere interessante Details.
Visualisierung der globalen Klima-Kipppunkte
piqer:
Ole Wintermann
In der New York Times findet sich aktuell eine gut zu lesende und visualisierte Beschreibung der globalen Klima-Kipppunkte, denen wir uns als Menschheit durch die Klimakrise zunehmend annähern. Seit den letztjährigen neuen Rekordtemperaturen in den Meeren weltweit haben die Korallenbleichen an Umfang zugenommen. Temporäre Bleichen sind in beständiges Absterben übergegangen. In der Visualisierung ist gut zu erkennen, wo dieses Absterben zu einer Beeinträchtigung der Artenvielfalt in den Ozeanen führt.
Auch das Abtauen der Permafrostböden hat eine gewisse Beständigkeit erreicht, wie anhand der eingefügten Temperaturskalen leicht herausgelesen werden kann. In Europa sind hiervon die Alpen und das skandinavische Gebirge betroffen. Die Auswirkungen des massiven zusätzlichen Freisetzens von Treibhausgasen ist noch nicht ausreichend erforscht.
Das Abtauen des Grönland-Eises ist ein sich selbst verstärkender Prozess, der weltweit zu einem deutlichen Anstieg des Meeresspiegels führen wird und bereits jetzt eineindeutig gemessen und quantifiziert werden kann. Dasselbe gilt für das Aufbrechen des westantarktischen Eisschildes und der Selbstverstärkung durch destabilisierte Gletscherzungen.
Kipppunkte, die sich bereits andeuten, die aber noch nicht dieselbe Dynamik erreicht haben, sind die Umwandlung des Amazonas Regenwaldes in eine Savanne, das veränderte Niederschlagsverhalten des westafrikanischen Monsuns und das Abbrechen der nordatlantischen Strömung.
Dr. Niklas Boers vom PIK Potsdam ist mit Blick auf die Kipppunkte deutlich, wenn er sagt:
„With every gram of additional CO2 in the atmosphere, we are increasing the likelihood of tipping events.“
Habt dies im Kopf, wenn ihr PolitikerInnen hört, die sich für die Beibehaltung der Verbrenner-Technik bei Autos einsetzen. Was bedeutet es, sich wider besseren Wissens für Politiken und Techniken einzusetzen, die uns der globalen Katastrophe näherbringen?
Was empfänglich für Verschwörungserzählungen macht
piqer:
Jürgen Klute
Alois Pumhösel stellt in seinem Beitrag für den Wiener Standard eine Studie vor, die im deutschsprachigen Raum der Frage nachgegangen ist, welche persönlichen Voraussetzungen für das Anspringen auf Verschwörungsmythen förderlich sind. Verantwortlich für die Studie zeichnet das Transatlantic Research Lab on Complex Societal Challenges, ein internationales Forschungsnetzwerk mit starker österreichischer Beteiligung, das 2021 unter dem Eindruck der Herausforderungen gegründet wurde, die Krisen wie die Covid-19-Pandemie darstellen.
Wie Pumhösel schreibt, analysiert die Autorengruppe der Studie nicht allein die Ursachen für eine Anfälligkeit für Verschwörungserzählungen, sondern sie will in weiteren Schritten aus den Ergebnissen dieser und weiterer Studien auch Schlussfolgerungen ableiten, um Menschen und damit auch Gesellschaften zu befähigen, Verschwörungserzählungen als solche zu erkennen und sich dann vor deren negativen Einflüssen zu schützen.
Ergänzung vom 25.08.2024
Zu dieser Empfehlung passt das am 25.08.2024 auf taz online veröffentlichte Interview mit dem Soziologen Georg Vobruba: Wann wird Kritik zur Verschwörung? Bill Gates, die Reichen, die Grünen: Georg Vobruba hat das Verschwörungsweltbild untersucht, das die Komplexität der Welt auf ein paar Sündenböcke reduziert.
Eine kleine Geschichte der Viralität
piqer:
Jannis Brühl
Wer sich für das Internet und Medien interessiert, dem empfehle ich heute ein ganzes Buch: „Traffic: Genius, Rivalry, and Delusion in the Billion-Dollar Race to Go Viral“ von Ben Smith (von 2023, bislang nur auf Englisch). Journalist Smith beschreibt darin eine Ära, die nicht lange her ist und doch schon Geschichte: den wilden Boom der großen Online-Only-Medien Gawker, Buzzfeed, Huffington Post und Breitbart News, der vor etwa 15 Jahren Fahrt aufnahm.
Die Geburt der neuen Medienseiten, die Klicks und Reichweite zu ihrem einzigen Maßstab machten und damit die etablierten Medien und ihre Online-Portale eine Zeit lang vor sich hertrieben, macht die revolutionäre Kraft des Internets spürbar (und Erinnerungen an Clickbait à la „Nummer 8 wird dir Schauer über den Rücken jagen…“ machen auch noch Spaß). Sie zeigt aber auch, wie flüchtig der Erfolg der berüchtigten „schnellen Klicks“ sein kann. Für praktisch alle Beteiligten endet das aufgeheizte Rennen um Viralität mit Ernüchterung oder Schlimmerem.
Mit Ben Smith, der einst bei Politico schrieb, dann Chefredakteur von Buzzfeed wurde (und mittlerweile die Nachrichtenseite Semafor gegründet hat), berichtet einer, der ganz nah dran war. Er beschreibt die Protagonisten des großen Viralitäts-Booms: Der brillante Buzzfeed-Gründer Jonah Peretti, der von Online-Traffic besessen war und dessen Höhenflug endete, als Facebook seine Macht gegen Seiten wie Buzzfeed ausspielte. Arianna Huffington, die ihren großen Namen aus der „alten Elite“ ins Internet brachte und deren Pro-Obama-Webseite die Politisierung und Polarisierung von heute vorwegnahm. Der wilde Nick Bilton, der auf seinem Blog Gawker keine Grenzen respektieren wollte und dem das Outing des rachsüchtigen Investors Peter Thiel zum Verhängnis werden sollte.
Für ein Buch, in dem es auf den ersten Blick um drögen Online-Traffic geht, ist es wirklich schnell, unterhaltsam und lehrreich für alle, die sich mit digitalen Medien beschäftigen.