Fremde Federn

Wohnungsmarkt, Zombiefirmen, signifikante Ökonomie

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Von der unnötigen Komplexität wissenschaftlichen Schreibens, das nächste große Blasen-Beben kündigt sich an und was Hans-Werner Sinn bei seiner E-Auto-Studie übersehen hat.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Das nächste große Beben kündigt sich an

piqer:
Dirk Liesemer

Diese Geschichte wäre ein genialer Stoff für ein großes Netflix-Drama, meinen die Capital-Autoren Lukas Zdrzalek und Christian Kirchner. Dumm nur: Falls sich diese Geschichte tatsächlich ereignen sollte, was zunehmend wahrscheinlicher ist, dann wäre für Netflix bald Sendeschluss.

In dieser Langstrecke geht es um hochverschuldete globale Unternehmen, zu denen eben auch der US-Streamingdienst zählt: Netflix dürfte mit dem 6,5-Fachen des operativen Gewinns verschuldet sein, 2018 waren es 8,3 Milliarden US-Dollar, das ist Ramschniveau. Und ständig wird mehr Geld verbrannt.

Aber der Konzern ist keine Ausnahme, sondern eher ein typisches Beispiel. Offenbar haben sich reihenweise Unternehmen mit Schulden aufgepumpt, wofür auch Aktienrückkäufe sprechen. Damit stellt sich folgende Frage: Wird die nächste globale Krise von Zombiefirmen ausgelöst – von Konzernen also, die nur dank günstiger Zinsen überleben? Tatsächlich erinnere die Lage an die Zeit vor dem Crash 2007, schreiben Zdrzalek und Kirchner. Aber dieses Mal dürfte das Beben gewaltiger sein. Denn den Notenbanken fehlen derzeit Mittel, um gegensteuern zu können.

Die CO2-Steuer scheint zu kommen – aber wie genau?

piqer:
Alexandra Endres

Jahrelang hatte die Idee in Deutschland keine Chance, politisch umgesetzt zu werden. Jetzt aber mehren sich die Anzeichen, dass eine CO2-Steuer doch kommt.

Der Berliner Tagesspiegel gibt im hier gepiqten Artikel anhand von sechs Fragen (und Antworten) einen guten, knappen Überblick über den Stand der Debatte. Noch knapper hier zusammengefasst:

1. Worüber genau wird diskutiert? – Darüber, den Ausstoß von CO2 mit einem Preis zu belasten. Weil Energie aber schon jetzt besteuert wird, würde das einerseits bedeuten, die Steuersätze zu vereinheitlichen, und andererseits, sie anzuheben.

2. Warum gerade jetzt? – Weil Deutschland seine Klimaziele verfehlt, und weil das so langsam teuer wird. (Und wegen Fridays for Future.)

3. Welche Konzepte gibt es? – Prinzipiell zwei. Das erste ist eine klassische Steuer in einer Höhe von beispielsweise 20 Euro pro Tonne. Alle weiteren Steuern und Umlagen im Energiebereich würden entfallen. Modell Zwei: Man könnte den EU-Emissionshandel, der bisher nur Energieversorger und Industrie trifft, auf andere Sektoren ausweiten.

4. Was wären die Folgen für die Bürger? – Eine CO2-intensive Lebensweise würde teurer. Aber die Bürger sollen das Geld zurückbekommen. Wie genau es verteilt wird, um soziale Härten zu vermeiden, wird derzeit diskutiert.

5. Wie sind die Erfahrungen anderswo? – In Schweden und der Schweiz hat es gut geklappt.

6. Wie realistisch ist es, dass die Steuer kommt? – Das ist noch nicht ganz klar. Am Wochenende schien sie schon fast beschlossene Sache, Wirtschaftsminister Peter Altmaier schien seinen Widerstand aufzugeben. Am Montag aber bremste dann die CDU, offenbar aus Sorge, die Steuereinnahmen könnten Begehrlichkeiten wecken und eine neue Gerechtigkeitsdebatte entfachen. Klar ist: Eine Steuer, die nicht wehtut, wird nicht wirken. Und soziale Härten lassen sich ausgleichen oder vermeiden. Wenn die Politik das will.

Sind Diesel wirklich klimafreundlicher als E-Autos, wie es eine virale Studie behauptet hat? Nein.

piqer:
Rico Grimm

Je nach eurer Filterblase werdet ihr es nicht mitbekommen haben: Vergangene Woche ging eine Studie von Hans-Werner Sinn (ja, dem Ökonomen mit dem Bart) viral, die zu der Schlussfolgerung kam, dass Diesel besser für das Klima seien als E-Autos. Passenderweise hat Sinn hier bewiesen, was viele gerne glauben wollen, was vielleicht auch Sinn beweisen wollte. Denn wie dieser Artikel in der Wirtschaftswoche en dé­tail zeigt: Sinn hat Rosinenpickerei betrieben.

Im Kern hat Sinn beim Diesel stets Best-Case-Szenarien, beim E-Auto aber Worst-Case-Szenarien angesetzt.

Achtung, jetzt kommt Statistik: Aber diese Entwicklung ist signifikant

piqer:
Rico Grimm

Ganz kurzer Ausflug in die Statistik: Wenn Wissenschaftler etwas ausrechnen, machen sie immer einen Test, um zu überprüfen, wie wahrscheinlich die These ist, die sie überprüfen wollen. Von diesem Test wird dann abgeleitet, ob ein Ergebnis „signifikant“ ist. (Mehr Details im Text.) Diese Signifikanz galt bisher als die eine Voraussetzung, um in den einschlägigen Wissenschaftsjournalen statistische Untersuchungen veröffentlichen zu können. Nun aber streichen viele Journale diese Bedingung. Warum? Weil dieser Test sehr anfällig ist für Fehlinterpretationen, von anderen Wissenschaftlern, aber natürlich auch von der breiteren Öffentlichkeit. Der Test gaukelt eine Sicherheit vor, die oft nicht existiert. Ein Beispiel aus dem Text:

Wenn etwa eine Studie einen signifikanten Einfluss des Mindestlohns auf die Beschäftigung findet und eine zweite einen nichtsignifikanten in die gleiche Richtung, dann widerspricht die zweite Studie nicht etwa der ersten, sondern sie bestätigt sie.

Professionelle Investoren entdecken Nachhaltigkeit und Klimaschutz

piqer:
Ralph Diermann

Lange Zeit war Grünes Investment im Wesentlichen nur ein Thema für private Anleger. Seit einigen Jahren achten auch Institutionen wie Pensionskassen mehr und mehr darauf, wofür das Geld eigentlich arbeitet. Und nun ist die grüne (und weiter gefasst: nachhaltige) Geldanlage im Herzen des Kapitalismus angekommen: Professionelle Investoren richten ihre Anlageentscheidungen immer stärker daran aus, wie nachhaltig, umwelt- und klimafreundlich ein Unternehmen wirtschaftet. So lautet zumindest die These eines Autorenteams des Handelsblatts.

Sie belegen dies mit allerlei Zahlen und Zitaten – und haben drei Gründe dafür ausgemacht:

1. Die Kunden der Investoren drängen darauf, dass ihr Geld nachhaltig angelegt ist. Auf Rendite müssen sie dabei nicht verzichten: Nachhaltigkeitsindizes erzielen nach Angaben des Vermögensverwalters Blackrock eine ähnliche oder sogar etwas bessere risikogewichtete Rendite.

2. Umweltkriterien bei Investitionsentscheidungen zu berücksichtigen begrenzt Risiken: Muss ein Konzern wegen eines Umweltskandals Strafe zahlen oder Reputationsschäden hinnehmen, mindert das oftmals den Börsenwert. Leider gehen die Autoren hier nicht auf die so genannte Carbon Bubble ein, vor der viele Ökonomen warnen: Mit dem Kampf gegen den Klimawandel werden Investitionen in fossile Energien – etwa in die Ölindustrie – massiv an Wert verlieren.

3. Banken sind schon bald regulatorisch verpflichtet, ihre Risiken in diesem Bereich offen zu legen.

Alle Ampeln auf Grün also an der Wall Street und in der Londoner City? Von wegen – das zeigt eine Zahl aus dem Artikel, die kräftig Wasser in den Wein gießt: Gerade einmal ein Viertel des weltweit verwalteten Vermögens wird bislang nachhaltig angelegt. Ein Anfang, aber für eine echte Trendwende bei Weitem zu wenig.

Wenn sich die Muster wiederholen – Arm und Reich in der Geschichte

piqer:
Thomas Wahl

Der Autor vertritt die Meinung, dass die Ursachen für das wachsende Gap zwischen Arm und Reich bei den Einkommen noch nicht wirklich verstanden werden.  Das liege u. a. an der Vielfalt der Faktoren und der Komplexität in Gesellschaften. Wenn man Langzeitstatistiken analysiert, fallen Muster im Ablauf steigender und fallender Ungleichheit ins Auge, die mit sich verändernden demographischen, ökonomischen, sozialen und politischen Strukturen korrespondieren. Diese Phänomene versucht er mit Hilfe der Theorie dynamischer Systeme zu modellieren:

Cycles in the real world are chaotic, because complex systems such as human societies have many parts that are constantly moving and influencing each other. Despite this complexity, our historical research on Rome, England, France, Russia and now the US shows that these complex interactions add up to a general rhythm. Upward trends in variables (for example, economic inequality) alternate with downward trends. And most importantly, the ways in which other parts of the system move can tell us why certain trends periodically reverse themselves. Understanding (and perhaps even forecasting) such trend-reversals is at the core of the new discipline of cliodynamics, which looks at history through the lens of mathematical modelling.“

Mit langen historischen Exkursen beschreibt Turchin die Zusammenhänge der verschiedenen Variablen oder Faktoren, wobei sich gewisse Muster wiederholen. So zeigt der Artikel Parallelen zwischen den Debatten im heutigen US-Senat und denen in der antiken Römischen Republik. Wie die Debatten gleichen sich auch die Prozesse. Ich hätte mir mehr Aussagen über die Natur und Leistungsfähigkeit der mathematischen Modelle gewünscht. M. E. wäre man auch ohne Modellierung zu ähnlichen Aussagen gekommen. Insofern bleibt der abstraktere systemtheoretische Aspekt unscharf. Aber es ergibt sich ein spannendes Bild historischer Zusammenhänge in den dynamisch-chaotischen Mehrfaktoren-Systemen unserer Gesellschaften.

Wie sich der Staat seit 1945 in den deutschen Wohnungsmarkt einmischt und warum das gut ist

piqer:
Antje Schrupp

Die Diskussion über die Enteignung von großen Wohnungsunternehmen wird derzeit sehr kontrovers und meist nur als Pro und Contra geführt. Ganz abgesehen davon, ob Enteignungen heute das richtige und effektivste Mittel wären, sollte dabei auch an den großen Erfolg staatlicher Eingriffe in die Wohnungswirtschaft erinnert werden. Die Erfahrungen seit dem Zweiten Weltkrieg zeigen nämlich, dass es ein großes Spektrum von Aktionsmöglichkeiten zwischen Nichtstun und Enteignung gibt.

In diesem 22-Minuten-Podcast wird diese Geschichte von 1945 bis heute mit vielen O-Tönen kurz und prägnant dargestellt. Das ist sehr interessant, und man kann dabei auch etwas lernen über viele Denkblockaden, die heutzutage beim Thema Eigentum auftreten. Am Ende der Sendung wird noch kurz wieder klar, dass Mainstream-Volkswirte heute oft eher Teil des Problems und nicht der Lösung sind.

Können die USA den Handelskrieg mit China gewinnen?

piqer:
Frank Lübberding

Die Handelspolitik des amerikanischen Präsidenten gilt in den Augen der meisten Beobachter als ein Desaster. Es stellt sich allerdings bisweilen die Frage, ob das mehr mit der Abneigung gegenüber Donald Trump zu tun hat, als mit nachvollziehbarer Kritik an seiner Politik. Wie schwierig der Umgang mit China ist, haben gerade erst die Gespräche der EU mit Peking bewiesen. Chinas Autokraten werden sich auch nur deshalb bewegt haben, weil sie nach dem Konflikt mit den USA keinen weiteren Krach mit Brüssel brauchen.

In diesem Artikel mit dem Titel „How the US Can Win Its Trade War With China. History provides the blueprint for a winning deal“ wird die Strategie von Trump historisch eingeordnet. Arjun Kapur zeigt, wie der berüchtigt gewordene „Smoot Hawley Tariff Act“ aus dem Jahr 1930 in ein weltwirtschaftliches Desaster führte. Oder die Embargopolitik des amerikanischen Präsidenten Franklin Roosevelt gegenüber dem kaiserlichen Japan letztlich zum Angriff auf Pearl Harbor am 6. Dezember 1941 führte. Als erfolgreich sieht er dagegen die Politik Richard Nixons an, der im Jahr 1971 die Goldbindung des Dollars aufhob – und damit seine europäischen Verbündeten desavouierte.

Am Ende des Artikels benennt Kapur die Voraussetzungen für einen Erfolg Trumps:

„Finally, Trump and his advisers should understand the need to devise clear, limited aims that they deem achievable through targeted measures and negotiations. They should identify and choose policies sharp enough to produce concessions, but restrained enough to avoid presenting the Chinese leadership with a binary choice of face-losing surrender or vicious retaliation. If the Trump administration instead goes after a symbolic, total victory, America may find itself forced to accept an embarrassing defeat.“

Das ist die Bereitschaft zum Kompromiss, unter Verzicht auf eine Demütigung des Kontrahenten in Peking. Ein wichtiger Hinweis, der nicht nur im Fernen Osten berücksichtigt werden sollte. Zurück zum Brexit.

Von der unnötigen Komplexität wissenschaftlichen Schreibens

piqer:
Emran Feroz

Ich begann schon früh mit dem Journalismus, und das hatte seine Gründe.

Mir fiel zum Beispiel bereits sehr früh auf, dass wissenschaftliches Schreiben nichts für mich ist. Ich wollte, dass möglichst viele Menschen meine Texte lesen – doch in der Wissenschaft, vor allem eben auch in den Geisteswissenschaften wie Politologie, Geschichte usw., schreibt man allerdings nur für die akademische Blase.

Hinzu kommt – und auch das fiel mir (und wahrscheinlich vielen, vielen anderen Menschen) sehr früh auf -, dass wissenschaftliches Schreiben eine unnötige Komplexität aufweist. Jeder kennt es doch: Man hat einen einfachen Sachverhalt vor sich, doch man will ihn „komplex“ und „wissenschaftlich“ darstellen, und konstruiert dann verrückte Sätze, die besonders klug klingen sollen. Oftmals wird einem dann auch deshalb die Bachelor- oder Masterarbeit abgekauft und gut benotet.

Der verlinkte Text beschäftigt sich mit ebenjener Thematik, und er plädiert – zumindest teilweise – dafür, dass sich diese Praktik ändern muss. Sobald sich die unnötig hochgezogene Sprache von wissenschaftlichen Arbeiten ändert, findet sie womöglich auch mehr Leser aus dem „einfachen Volk“.

Ich zitiere an dieser Stelle mal einen Kollegen aus meinem Verlag. Dem schlug ich einst nämlich einen sehr politikwissenschaftlichen Titel vor. „Ne, das klingt viel zu kompliziert. Liest niemand“, meinte der daraufhin nur.