Fremde Federn

Wohnungsmarkt, Europas Sozialmodell, Homo Donut

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Leben auf dem Donut, wie internationale Investments den Wohnungs­markt umwälzen und warum zu wenig Klimaschutz illiberal ist.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Europas Städte: Recherche auf dem Wohnungsmarkt der Metropolen

piqer:
Antje Schrupp

Journalistinnen und Journalisten haben in 16 europäischen Großstädten Zahlen und Entwicklungen zum Wohnungsmarkt recherchiert. Für Deutschland war der Tagesspiegel mit Berlin dabei. Die anderen Städte sind Madrid, Mailand, Zürich, London, Paris, Dublin, Brüssel, Athen, Amsterdam, Wien, Kopenhagen, Helsinki, Bratislava, Prag und Lissabon.

Wie haben sich Wohnungs- und Immobilienmärkte seit der Finanzkrise entwickelt? Wird Corona etwas ändern? Wie ist das Verhältnis von Miete und Eigentum? Wer investiert warum und woher kommt das Geld? Wie wirkt sich das auf die Lebensverhältnisse unterer Einkommensgruppen und für Menschen auf Wohnungssuche aus? Welche Entwicklungen sind in allen Städten ähnlich, wo unterscheiden sie sich? Als das wird in Text und interaktiven Grafiken aufbereitet.

Bei dem Rechercheprojekt „Cities for Rent“ arbeiten die beteiligten Medien unabhängig voneinander, teilen aber ihre Rechercheergebnisse. Es sind wichtige Zahlen und Trends, denn die Wohnungskrise, die Ungleichheit von Vermögenswerten (die sich häufig im Besitz von Immobilien niederschlägt) sowie das Verhältnis zwischen Metropolregionen und ländlichen Bereichen ist eines der wichtigsten ökonomischen Themengebiete auch für die kommenden Jahre.

Wie Europa den Einsatz von künstlicher Intelligenz regulieren will

piqer:
RiffReporter

Die EU-Kommission will den Einsatz von künstlicher Intelligenz zur Überwachung, Auswahl von Personen und das Lernen aus Datenbanken reglementieren.

Rainer Kurlemann hat sich den ersten Entwurf einer Verordnung vom 21. April angesehen. Das 88 Seiten starke Dokument zeigt bereits, nach welchen Kriterien die EU künstliche Intelligenz (KI) künftig bewerten und begrenzen will.

Der Entwurf der EU versucht rote Linien zu ziehen, die von den KI-Anwendungen nicht überschritten werden dürfen. Aber schon heute ist klar, dass das in Detailfragen äußerst diffizil werden wird.

So verbietet er die Kontrolle des Sozialverhaltens, die beispielsweise in China getestet wird. Das Dokument untersagt generell Anwendungen, die Menschen zu ihrem Schaden manipulieren oder Wissen über Schwachstellen von Personen ausnutzen, um ihnen zu schaden. Das klingt plausibel, doch die Formulierung lässt zahlreiche Interpretationen zu. „Impliziert das, dass soziale Medien verboten werden?“, fragt Kristian Kersting von der TU Darmstadt. „Das klingt zwar zynisch, aber viele Leute sind der Meinung, das soziale Netzwerke die Meinung von Menschen negativ beeinflussen können“, erklärt der Leiter des Fachgebiets Maschinelles Lernen.

Ähnlich kompliziert ist die Frage nach der automatischen Gesichtserkennung, die in vielerlei Hinsicht leicht missbraucht werden könnte.

Verboten werden soll auch die Verwendung von ‚Echtzeit‘-Systemen zur biometrischen Identifizierung in öffentlich zugänglichen Räumen. Doch das Verbot gilt nicht generell, sondern nur für staatliche Überwachung. Privatleute dürfen die automatische Gesichtserkennung einsetzen. Auch Staaten wird das Recht für Ausnahmen eingeräumt. Einzelne Regierungen können abweichende Regelungen erlassen, etwa für die gezielte Suche nach vermissten Kindern, nach Verbrechern, die schwere Straftaten begangen haben oder für die Verhinderung solcher Taten. Dabei sollen aber die Rechte und Freiheiten aller betroffenen Personen bedacht und die Einsätze angemessen zeitlich oder räumlich eingegrenzt werden. Christiane Wendehorst, ehemalige Co-Vorsitzende der Datenethikkommission der Bundesregierung, erwartet konkretere Vorgaben beispielsweise auch für den Einsatz von Software, die Emotionen erkennen kann. „Doch diesbezüglich hat man es bei einer Kennzeichnungspflicht bewenden lassen“, sagt sie.

Besondere Anforderungen sollen sogenannte „risikoreiche KI-Systeme“ erfüllen, die einen irreparablen Schaden anrichten können. Damit sind Anwendungen gemeint, die als Sicherheitskomponenten in kritischer Infrastruktur eingesetzt werden.

Dazu gehören aber auch KI-Systeme, die prüfen, ob Personen zum Beispiel für Kredite, Arbeitsstellen, Ausbildungs- oder Studienplätze geeignet sind. Die Anbieter dieser Anwendungen sollen ein Risikomanagement entwerfen. Eine gute Idee, die aber schwierig umzusetzen sein könnte, urteilt Kersting. „Eine vollständige, explizite Beschreibung sämtlicher Auswirkungen von Aktionen auf alle in einer Welt geltenden Fakten ist schwer, wenn nicht unmöglich. Von dem Festlegen der Mindeststandards mal ganz abgesehen“, sagt er.

Wie das Klima-Verfassungsurteil den Freiheitsbegriff neu fasst

piqer:
Ralph Diermann

Ob das Bundesverfassungsgericht anders entschieden hätte, wenn es nicht junge Menschen gewesen wären, die die Klimaklage eingereicht hatten? Auf jeden Fall begründen die Richter ihre Entscheidung mit der Generationengerechtigkeit – und verknüpfen diese mit einem Freiheitsbegriff, der eine zeitliche Dimension hat: Es gilt im politischen Handeln, nicht nur die Freiheit heute zu sichern, sondern auch die von morgen und übermorgen. Und das bedeutet für den Klimaschutz, dass es nicht verfassungsgemäß ist, das noch zur Verfügung stehende CO2-Budget schon in den nächsten Jahren zu verballern – das nämlich schränkt den künftigen Handlungsspielraum der Menschen über Gebühr ein (was letztlich doch nichts anderes ist als die alte Maxime, dass die eigene Freiheit dort endet, wo die Freiheit des Anderen beginnt).

Zeit-Redakteur Bernd Ulrich weist in einem Kommentar trotzdem darauf hin, dass die Karlsruher Richter im Kern eine Revolution des Freiheitsbegriffs vollzogen haben, ihn vom 20. ins 21. Jahrhundert gehoben haben. Er schreibt:

Freiheit ist nun nicht mehr nur etwas, das man lebt und gegen den Staat geltend machen kann, Freiheit ist nun auch etwas, das man materiell und physisch verbrauchen kann. Und nicht darf.

Nicht Klimaschutz gefährde die Freiheit – zu wenig Klimaschutz sei illiberal. Ulrich sieht im Urteil eine Befreiung der Freiheit. Diese wurde an den Verbrauch von Natur und an das Emittieren gekettet; vermeintliche Freiheit sei mit Zwang verbunden, den Zwang zum „Immer Mehr“, oft irreversibel.

Man hat Freiheit mit Gewohnheit verwechselt, Gewohnheit mit Anspruch und Anspruch mit Recht. So verkam unter der Hand die universelle Freiheit zu einer Art fossilem Feudalismus: Sonderemissionsrechte wurden de facto in Anspruch genommen, vergeben durch das Geburtsdatum, ein Zerstörungsprivileg der Älteren auf Kosten der Jüngeren.

Ulrich schließt:

Gestern war – halleluja – ein richtig guter Tag für die Freiheit.

Wer wissen will, wie die Verfassungsrichter genau geurteilt haben, findet im Blog der auf Energie und Klimaschutz spezialisierten Kanzlei re Rechtsanwälte eine gute Zusammenfassung.

Ist ein europäischer Super-Wohlfahrtsstaat unsere Zukunft?

piqer:
Thomas Wahl

Wenn es so etwas wie ein europäisches Sozialmodell heute schon gibt, so nur als Ansammlung historisch gewachsener nationaler Strukturen. Insofern ist die Frage nach der zukünftigen Entwicklung eines europäischen Sozialmodells, nach dem Potenzial europäischer Sozialpolitik wichtig und zeitgemäß. Wobei keine einfachen Antworten zu erwarten sind.

Geht es um punktuelle Regulierungen des EU-Binnenmarkts? Den Aufbau eines supranationalen Wohlfahrtsstaats? Oder gilt es, das Verhältnis zwischen Binnenmarkt, Wirtschafts- und Währungsunion einerseits und marktkorrigierenden Institutionen auf der nationalen Ebene andererseits neu auszubalancieren?

Schaut man auf die Mitgliedsstaaten – mit ihren sehr unterschiedlichen Wohlstandsniveaus, Industrialisierungsgraden, aber auch mit widersprüchlichen ideologischen Vorstellungen über das Verhältnis von Staat und Markt, über demokratische Institutionen und Prozesse und über die Umverteilung zwischen den Mitgliedern der Union – dann ist ein einheitliches, vollharmonisiertes Sozialmodell für ganz Europa schwer vorstellbar. Verschiedene nationale soziale Errungenschaften können also nicht einfach europaweit übernommen werden. Sie müssen an die jeweiligen nationalen Pfeiler anknüpfen. Dazu der Autor:

Wenn die Zukunft des sozialen Europas nicht ein europäischer Super-Wohlfahrtsstaat ist, was ist es dann? Wie bereits umrissen, könnte der Weg dahin über eine zu den nationalen Institutionen komplementäre, regulative europäische Sozialpolitik führen, die die wohlfahrtsstaatliche und arbeitsrechtliche Entwicklung auf der nationalen Ebene schützt und fördert. Es braucht aber nicht nur eine komplementäre europäische Sozialpolitik, sondern auch eine sozialkompatible Gestaltung der Wirtschafts- und Währungsunion und des Binnenmarkts, um die fiskalischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Vorbedingungen für ein sozialeres Europa zu schaffen.

Wie nicht anders denkbar, eine enorm komplexe Aufgabe. So braucht es neue Fiskalregeln. Die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) ist für das soziale Europa in mehrfacher Hinsicht problematisch. Die EZB ist der Geldwertstabilität mehr verpflichtet als Wachstum und Beschäftigung. Haushaltspolitisch steht Disziplin im Mittelpunkt. Das im Euroraum fehlende Instrument der Anpassung von Wechselkursen erschwert nationale Lohnpolitiken. Als Ausweg

wurden während der Eurokrise im Gegenzug für finanzielle Hilfen Kürzungen von Sozialausgaben, Privatisierungen, Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst, Senkungen des Mindestlohns, die Abschaffung von Allgemeinverbindlich- keitserklärungen sowie die Dezentralisierung von Tarifvertragssystemen verlangt und durchgesetzt … Das Regelwerk der WWU muss daher umgestaltet werden.

So meint der Autor, irgendwoher müssen die Euroländer ausreichend fiskalischen Spielraum erhalten, um „ihre Sozialsysteme zu finanzieren, die öffentliche Infrastruktur zu modernisieren sowie eine ökologisch nachhaltige wachstums- und beschäftigungsfördernde Fiskalpolitik zu betreiben“. Ein Schritt wäre die Schuldenobergrenze von 60% des BIP stark zu erhöhen. Da sich sowieso nur wenige daran halten, dürfte das m. E. zukünftig auch wenig helfen.

Für mich nachvollziehbarer ist es, die starre Defizitregel einer maximalen Neuverschuldung von 3% des BIP pro Jahr durch eine Regelung zu ersetzen, die besser auf Konjunkturverläufe reagieren kann. Ob es drittens Sinn macht, öffentliche Investitionen von der Ausgabenregel auszunehmen, ebenso wie Ausgaben etwa für Arbeitslosenunterstützung oder die Grundsicherung, wage ich zu bezweifeln. Es sind nun mal dauernde Kosten und sie müssen finanziert werden. Irgendwie von irgendjemandem.

Der nächste Vorschlag ist die Stärkung sozialer Rechte, etwa durch eine echte europäische Verfassung. Wobei ich mich frage, wie postulierte Rechte zu guten Sozialsystemen führen sollen. Die basieren ja eigentlich auf einer florierenden und potenten Wirtschaft. Das Ziel einer europäischen Sozialpolitik sieht der Autor in einer

aufwärtsgerichtete(n) Konvergenz zwischen den EU-Ländern bei sozialen Standards. Das Instrument, um dieses Ziel zu erreichen, sind soziale Mindeststandards. Sie würden überdies „Sperrklinken“ gegen einen wechselseitigen Unterbietungswettbewerb bei sozialen und arbeitsrechtlichen Standards einziehen

Es geht ihm dabei nicht um einheitliche absolute Zielgrößen, sondern um relative Vorgaben. Ein Beispiel hierfür wäre ein europäischer Mindestlohn von 60% des nationalen Medianlohnes. Eine realistische Idee.

Leben auf dem Donut – die Vision vom Nullwachstum

piqer:
Thomas Wahl

Ökonomie scheint am überzeugendsten, wenn sie in einfachen Metaphern daherkommt. Von der unsichtbaren Hand des Marktes über den Kapitalisten als Funktionär des Kapitals, der Laffer-Kurve bei den Steuereinnahmen bis zur aktuellen Donut-Theorie für eine Wirtschaft ohne Wachstum – immer sind es suggestive Bilder, die Bürger, Aktivisten, Experten und Politiker beeindrucken.

Laffer zeichnete eine abenteuerliche Kurve auf seine Serviette, die in die Wirtschaftsgeschichte eingehen sollte. Entgegen jeder wissenschaftlichen Evidenz zeigte sie, dass der Staat ab einem gewissen Punkt die Steuern stark senken und trotzdem mehr Einnahmen generieren könnte. Es war ein verlockendes Versprechen, so verlockend, dass die Laffer-Kurve Anfang der 1980er Jahre unter Präsident Ronald Reagan zur Grundlage der Haushaltspolitik wurde – nur wahr wurde die Idee dadurch nicht, denn anders als von Laffer vorausgesagt, stiegen die Defizite deutlich.

Gerade kursiert das Bild des Donuts als Metapher für eine Ökonomie, die nach außen durch Ressourcen bestimmt ist und nach innen durch soziale Aufgaben. Das sehr einprägsame Bild stammt von der Ökonomin Kate ­Raworth,

die damit nichts Geringeres verspricht als den Sturz herkömmlicher Wirtschaftsmodelle. … Und sie beginnt mit der Frage: Was müsste eigentlich unser wirtschaftliches Ziel sein? Die Antwort: ein Leben auf dem Ring des Donuts. Gegen aussen hin wird unser Handeln damit begrenzt, dass wir die Umwelt nicht unwiderruflich schädigen und dass wir nachhaltig mit ökologischen Ressourcen haushalten sollen. Gegen innen ist die Grenze eine soziale: Niemand darf hungern und arm sein, alle sollen Zugang zum Gesundheitswesen und Anrecht auf eine anständige Bildung haben … Die Aufgabe von Raworth’ nachhaltiger Ökonomie wäre es jetzt, die Wirtschaft in diesen Korridor zu steuern, in die «sichere Zone des Donuts».

Das Einfache, das schwer zu verwirklichen ist? Sicher stimmt es, dass die Grenzen für einen tragbaren Umgang im gegenwärtigen Modus unserer Wirtschaften überschritten werden. Eine Fixierung auf lineares Wachstum im Ressourcenverbrauch ist nicht zukunftsfähig. Raworths Lösungsvorschlag:

Um zu einer Ökonomie fürs 21. Jahrhundert zu kommen, müsse man anders denken: das Ziel einer «wachsenden» durch eine «prosperierende» Wirtschaft zu ersetzen, in der nicht der Wert der produzierten Waren und Dienstleistungen (Bruttoinlandprodukt), sondern das «Wohlbefinden der Menschen» im Zentrum stehe.

Wobei es nicht der Wert der produzierten Waren ist, sondern die materiellen und energetischen Ressourcen, die bei Produktion und Konsum verbraucht werden. Damit diese Lösung funktioniert, wird der Homo oeconomicus (der in den neueren Konzepten der Ökonomen auch irrationale Momente einschließt) durch den Homo Donut ersetzt. Das ist eine

in Gesellschaft und Umwelt eingebettete multiple Persönlichkeit, die mehrere Identitäten gleichzeitig hat und sich auf einmal für weniger statt für mehr entscheidet.

Alain Zucker, der kritische Autor des Artikels, hält dagegen. Das Konzept des nicht ganz rationalen Homo oeconomicus scheint eigentlich unsere Welt und unser Verhalten ganz gut abzubilden.

 «Das Modell kann die Welt gut erklären. Es geht ja nicht darum zu sagen, dass der Mensch ein Egoist ist, sondern nur darum, wie er sich auf dem Markt verhält», sagt kein Neoliberaler, sondern der gewerkschaftsnahe Professor Peter Bofinger.

Für viele Ökonomen führt Nullwachstum in der heute existierenden Wirtschaft in die Abwärtsspirale. Ohne Wachstum machen Unternehmen Verluste, die Nachfrage sinkt, Jobs verschwinden. Unsere Sozialstaaten werden unfinanzierbar.

Die Frage, gibt es auch mit den real existierenden Menschen einen Ausweg – in dem die Wirtschaft wächst, der Wohlstand global steigt und die Natur überlebt, die Klimaerwärmung gestoppt wird? Ja, meint Sir Partha Dasgupta, einer der angesehensten Umweltökonomen.

Er ortet zunächst zwei Ursachen für die Misere: Erstens werde die Natur nicht wie Kapital und Arbeit als Vermögenswert angesehen. … Zweitens macht er ein «tiefsitzendes und verbreitetes institutionelles Versagen» aus und meint damit die Politik, die es nicht schafft, wirksame Umweltsteuern einzuführen oder durchsetzbare Vereinbarungen zu treffen.

Er sieht vier Wege, die den Preismechanismus beibehalten: den (materiellen) Konsum über Lenkungsabgaben senken, die Natur effizienter nutzen (etwa mit Gentechnik), das Bevölkerungswachstum in Entwicklungsländern stoppen und besonders in ärmeren Ländern in Natur investieren.

Ein Jahrhundert Wissenschaftsjournalismus im Schnelldurchlauf

piqer:
Hristio Boytchev

Wissenschaftsjournalismus spielt in der Coronakrise eine so bedeutende Rolle wie kaum jemals zuvor, Christian Drosten hat ihn gar als „systemrelevant“ geadelt. Doch was ist Wissenschaftsjournalismus überhaupt? Deborah Blum, Leiterin des Knight Science Journalism Programm am MIT, gibt hier eine prägnante Zusammenfassung seiner Geschichte.

Immer noch wird die Aufgabe von Wissenschaftsjournalist:innen oft als „Cheerleader für die Wissenschaft“ missverstanden. Tatsächlich war das die Rolle, die sie anfangs eingenommen hatten, schreibt Blum. Doch in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts habe sich das Berufsbild allmählich zu einem kritischen Begleiten wissenschaftlicher Erkenntnisse und Prozesse gewandelt.

The original, science-boosting mission (…) hasn’t been lost. Today, countless “science communicators”—from press officers to scientists themselves—work to foster a positive portrait of science. And there’s still a place for journalistic stories about the wonders of science. But the past century has proved that this is not the most important contribution of science reporters. Rather, it is to portray research accurately in both its rights and its wrongs and stand unflinchingly for the integrity of the story.

Schätzt mehr die Arbeit der „Geringqualifizierten“

piqer:
Anja C. Wagner

Das „Modernisierungsjahrzehnt“ ist offenbar auf sämtlichen politischen Ebenen ausgerufen. Zwar spürt man es noch nicht unmittelbar im Alltag, aber mit einer großen Kraftanstrengung soll (endlich!) die digitale Transformation angegangen werden. In den USA ebenso wie in Europa, wird jetzt „die Bildung“ adressiert, um das individuelle digitale Kompetenzniveau allenthalben zu heben. Für „die Wirtschaft“, ist doch klar, die es zur Kompensation der Kosten der Corona-Krise und mit Blick auf die Klimakrise schnell neu aufzustellen gilt. Und daran sollen alle tatkräftig mitwirken!

Millionen von Menschen müssen sich „upskillen“, um im 21. Jahrhundert konkurrenzfähig zu sein, so sagen es unter anderem die New York Times und die Boston Consulting Group.

Der „Skills Gap“ oder „Fachkräftemangel“, wie es hierzulande heißt, fokussiert dabei auch auf die (bislang) „Geringqualifizierten“. Diese gelte es weiterzubilden oder zu unterstützen, damit sie sich die für die digitale Transformation notwendigen Fähigkeiten drauf schaffen. Zwar sind die vorgehaltenen Institutionen des formalen Bildungssystems noch nicht diesbezüglich zeitgemäß aufgestellt. Aber mit verschiedenen Konzepten von der „nationalen Bildungsplattform“ bis hin zur „Weiterbildungsoffensive“, durchexerziert von der Bundesagentur für Arbeit,  versucht man dieser Herausforderung top-down weiter zu begegnen. Die vorherrschenden bildungspolitischen Ideen spiegeln dabei traditionelle politische und volkswirtschaftliche Wertvorstellungen mit Blick auf die Erwerbsarbeit wider. Und sind alles andere als zeitgemäß.

Warum dies? Es ist doch gut gemeint?!

Die „Geringqualifizierten“ oder „bildungsfernen Schichten“ arbeiten zumeist in gering bezahlten Jobs, die oft systemrelevant sind, aber schlecht angesehen in der akademischen Welt. Man will ihnen deshalb (öffentlichkeitswirksam) politisch „helfen“, damit sie ihre Talente zur vollen Entfaltung bringen können und sich Chancen auf einen besseren Job erarbeiten. Mit dieser vielleicht gut gemeinten, etwas großväterlichen Art schätzt man aber die eigentliche Leistung dieser Menschen zu gering. Sie haben sich ein würdevolles Leben trotz aller Ungleichheit bereits verdient, so der Tenor des verlinkten Artikels. Das Problem sei vielmehr die strukturelle Ungleichheit.

Ein Weißes Haus nach dem anderen, ob Republikaner oder Demokraten, hat Umschulungs- und Weiterbildungsinitiativen vorangetrieben, die den Arbeitnehmer*innen auferlegen, sich selbst zu verbessern, um ihre Aussichten auf dem Arbeitsmarkt und die amerikanische Wirtschaft im Allgemeinen zu verbessern. Damit machen sie individuell, was eindeutig ein staatliches und gesellschaftliches Problem ist. Der vermeintliche Mangel an „Fähigkeiten“ unter amerikanischen Arbeitnehmer*innen spiegelt die generationenübergreifende Armutskrise des Landes, die brutalen Kosten für die Hochschulbildung, die Unzugänglichkeit einer qualitativ hochwertigen und erschwinglichen Kinder- und Gesundheitsversorgung und die Hürden, die es für eingewanderte Arbeitnehmer*innen aufbaut, genauso wider wie alles andere.

Viel zu viel Arbeit sei schlecht bezahlt. Viel zu viele Menschen hätten ganz andere Sorgen, als sich für die digitale Transformation im Interesse „der Wirtschaft“ einzusetzen. Sie arbeiten vielmehr wie verrückt, um irgendwie zu (über)leben. Es sei ein systemisches Problem, kein individuelles.

Dies lässt sich auch auf Deutschland übertragen. Man schaue sich nur einmal die Verteilung der Corona-Fallzahlen in Städten an. Sie sind dort auch am höchsten, wo sich die Bildungsungleichheit jetzt noch weiter verstetigt hat. Mit mehr Druck auf die Einzelnen wird man die durchaus vorhandenen, auch emanzipatorischen Potenziale des digitalen Zeitalters kaum hieven können.

Vielmehr benötigen wir weit bessere Infrastrukturen und eine gesamtgesellschaftliche, öffentliche Weiterbildungskultur auf allen Ebenen – hier wie drüben in Amiland. Und mehr Respekt für alle geleistete Arbeit! Auch jenseits der Erwerbsarbeit …

Finnland engagiert sich gegen Obdachlosigkeit

piqer:
Charly Kowalczyk

„Wir hätten keine Chance, wenn es in Finnland keinen Konsens darüber gäbe, dass jedem eine Wohnung zusteht. In den vergangenen 15 Jahren gab es sehr unterschiedliche Regierungskoalitionen, aber dieses Ziel ist fest verankert. Sanna Marin, die aktuelle Regierungschefin, ist sehr ambitioniert. Sie verlangt jetzt von uns, dass es bis 2027 gar keine Obdachlosigkeit mehr gibt. Das ist ein ehrgeiziges Ziel und auch eine große Herausforderung. Dass eine Regierung die Hilfsorganisationen so fordert, ist sicherlich ungewöhnlich. In vielen Ländern ist es ja umgekehrt.“

Sagt Juha Kaakinen, Geschäftsführer von „Y-Säätiö“, einem der vier größten Wohnungsanbieter in Finnland, in einem SPIEGEL-Interview. Der gemeinwohlorientierten Stiftung gehören aktuell mehr als 17.000 Wohnungen.

Überall in Europa nimmt die Obdachlosigkeit zu. Durch die Pandemie verstärkt sich das gesellschaftliche Problem zusätzlich. Wirtschaftliche Krisen, überteuerte Wohnungen, psychische Krankheiten… Es gibt viele Gründe, warum man auf der Straße landet. In Finnland stemmt sich ein großer Teil der Gesellschaft gegen ein Leben ohne Respekt und Würde. Das ist bemerkenswert. Durchaus auch aus ökonomischen Gründen:

„Bevor wir anfingen, wurden die Notunterkünfte in Helsinki von einer Firma verwaltet, die viel Geld bekam, obwohl die Zimmer menschenunwürdig waren. Das wollten wir beenden. Als wir dann die ersten Wohnungen anboten, merkten wir schnell, dass uns das doppelt hilft: Unser Konzept senkt die Kosten für die Allgemeinheit, weil es weniger Notfälle und Chaos gibt. Gleichzeitig gibt es den Menschen ihre Würde zurück. Wir behandeln sie wie normale Mieter, nur dass sie eben mit Sozialhilfe oder Wohngeld bezahlen. 2008 hat die Regierung aus diesem Konzept dann eine offizielle Strategie für ganz Finnland gemacht.“

Juha Kaakinnen klammert Probleme nicht aus. Er sucht nach Lösungen und redet dabei nichts schön. Kaakinnen verhehlt nicht, dass es auch in Finnland Widerstand gegen die Bekämpfung der Obdachlosigkeit gibt. Alles andere wäre aber auch eine zu große Überraschung. Aber er zeigt im Gespräch mit dem SPIEGEL auf, dass es für alle europäischen Staaten eine Möglichkeit gäbe, Obdachlosigkeit zu verhindern. Wohnungslosen wieder Wohnungen zur Verfügung zu stellen. Wenn es einen Willen dazu gäbe!