Fremde Federn

Wohnungsmärkte, EU-Haushalt, Lohnsau Deutschland

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie die Grünen versuchen, auch ärmere Wählerschichten anzusprechen, weshalb Bernie Sanders (zu Unrecht) als linker Trump dargestellt wird und warum die Zukunft des westlichen Modells zu einem beträchtlichen Teil an den Wohnungsmärkten hängt.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Die Wohneigentums-Politik als größter ökonomischer Fehler des Westens?

piqer:
Thomas Wahl

In einem „Special Report“ widmet sich der Economist den westlichen (insbesondere den angelsächsischen) Wohnungsmärkten. Das Resümee:

Home ownership is the West’s biggest economic-policy mistake. It is an obsession that undermines growth, fairness and public faith in capitalism.

Insbesondere die Finanzkrise von 2008–2010 zeigte die desaströsen Folgen eines falsch gemanagten Wohnimmobilienmarktes. So waren die Jahre von 1960 bis 2000 gekennzeichnet von fallenden Immobilienpreisen. Rezessionen durch Kreditklemmen und stagnierende oder sinkende Hauspreise dauern länger als andere Abschwünge. Und wenn sie enden, steigen in der Regel die Kosten schnell. Das alles ist politisches Gift. Eigentlich lieben Politiker steigende Hauspreise – die Bürger fühlen sich dann reicher. Zu stark steigende Preise schließen allerdings viele Menschen aus.

Costly housing is unambiguously bad for the rich world’s growing population of renters, forcing them to trim spending on other goods and services. And an economic policy which relies on homebuyers taking on large debts is not sustainable. In the short term, finds a study by the imf, rising household debt boosts economic growth and employment. But households then need to rein in spending to repay their loans, so in three to five years, those effects are reversed: growth becomes slower than it would have been otherwise, and the odds of a financial crisis increase.

So entstanden in den reichen Ländern zu wenige Wohnungen, die Preise stiegen. Die Bürger haben zunehmend das Gefühl, der Kapitalismus arbeite nicht zu ihren Gunsten. Teure Wohnungsmärkte und wachsender Populismus hängen zusammen.

Whereas baby-boomers tend to own big, expensive houses, youngsters must increasingly rent somewhere cramped with their friends, fomenting millennials’ resentment of their elders. Thomas Piketty, an economist, has claimed that in recent decades the return to capital has exceeded what is paid to labour in the form of wages, raising inequality. But others have critiqued Mr Piketty’s findings, pointing out that what truly explains the rise in the capital share is growing returns on housing.

Der Report weist den Regierungen der westlichen Welt nach dem 2. Weltkrieg drei gravierende Fehler nach:

  • Der Bau von Wohnungen, die die Bevölkerung benötigte, war zu schwierig.
  • Die Rahmenbedingungen und Anreize für die Haushalte, mehr Geld in den Wohnungsmarkt zu stecken, waren unzureichend.
  • Es fehlen regulatorische Instrumente, um Blasen zu verhindern bzw. zu managen.

Positiv erwähnt werden die Schweiz und Deutschland.

Most important, in a few places the rate of home ownership is low and no one bats an eyelid. It is just 50% in Germany, which has a rental sector that encourages long-term tenancies and provides clear and enforceable rights for renters. With ample supply and few tax breaks or subsidies for owner-occupiers, home ownership is far less alluring and the political clout of nimbys is muted. Despite strong recent growth in some cities, Germany’s real house prices are, on average, no higher than they were in 1980.

Die Art des Urteils liegt eben meist auch in den Augen des Betrachters. Aber wie auch immer, die Zukunft des westlichen Politik- und Wirtschaftsmodells hängt zu einem beträchtlichen Teil an den Wohnungsmärkten.

Zähes Thema EU-Haushalt: Was Korrespondent*innen leisten können

piqer:
Ulrich Krökel

Beim EU-Haushaltsgipfel gab es in der letzten Woche kein Ergebnis. Damit bleibt der wertvolle DLF-Hintergrund zum Thema wohl noch eine ganze Weile aktuell, der am vorigen Mittwoch lief. Die nur knapp 20-minütige Sendung belegt einmal mehr, welche Vorteile es für ein Medium und sein Publikum bietet, wenn Korrespondent*innen nicht nur aus Brüssel und Paris, London oder Washington berichten, sondern auch aus einem festen Büro in kleineren oder mittelgroßen Staaten wie den Niederlanden oder Polen. Ganz besonders gilt das natürlich für die Berichterstattung über die EU, in deren Institutionen die „Kleinen“ bekanntlich eine überproportional große Rolle spielen, wie zum Beispiel Deutschlands Nachbarn:

Die Zeiten, in denen die Niederländer als Mustereuropäer galten, sind vorbei. Stattdessen haben sie sich als Nein-Sager einen Namen gemacht – man denke an das niederländische Nee zur EU-Verfassung 2005 und an das zweite Nee zum Assoziierungsabkommen mit der Ukraine 2016. Gleich zwei rechtspopulistische Parteien machen hinter den Deichen gegen Europa mobil und streben einen Nexit an, sprich: einen EU-Austritt der Niederlande.

Im „Kampf ums Geld“, wie der DLF-Hintergrund titelt, haben sich die Niederländer mit Dänen, Schweden und Österreichern zu den sparsamen Vier zusammengeschlossen, die nach dem Brexit das EU-Haushaltsvolumen am liebsten sogar schrumpfen sehen würden. Auf der anderen Seite stehen Empfängerländer wie Deutschlands östlicher Nachbar Polen:

Unterm Strich hat Polen seit dem EU-Beitritt 120 Milliarden Euro bekommen. […] Dennoch sehen Experten noch einen langen Weg vor Polen, bis das Land wirklich zu den reicheren EU-Ländern aufgeschlossen hat, etwa zu Deutschland. Immer weniger wird Polen jedenfalls mit billigen Löhnen punkten können, stattdessen braucht die Wirtschaft eigene Wachstumsimpulse. Investitionen in Bildung, Ausbildung und Innovationen werden nötig.

Wie lässt sich das zusammenbringen? Schwierig, zumal da noch der Streit um die Rechtsstaatlichkeit in Ländern wie Polen ist:

Das neue, mittelfristige Budget der EU soll deshalb eine Klausel erhalten, die von der EU-Kommission formuliert wurde. Macht die Brüsseler Behörde in einem Mitgliedsland Verstöße gegen die Prinzipien der Rechtstaatlichkeit aus, kann sie Fördergelder zurückhalten.

Und da haben wir vom EU-Parlament, das einer Einigung zustimmen muss, noch gar nicht gesprochen. Auf ein Resümee mit Ausblick verzichten die Kolleg*innen vom DLF wohlweislich. Bundeskanzlerin Angela Merkel war nach der gescheiterten Gipfelnacht ähnlich wortkarg: „Wenn wir uns eines Tages mal geeinigt haben, dann bin ich gesprächiger.“ Bis dahin bleibe viel zu tun …

Droht mit Friedrich Merz eine wirtschaftspolitische Katastrophe?

piqer:
Frank Lübberding

Wie sehr sich die wirtschaftspolitische Debatte unter deutschen Ökonomen verändert hat, zeigt sich an diesem Interview mit dem in den Vereinigten Staaten lehrenden Rüdiger Bachmann. Er äußert sich zur wirtschaftspolitischen Kompetenz von Friedrich Merz. Er hält dessen Politikansatz „für eine Katastrophe“. Interessant ist die Begründung einer „sehr rückwärtsgewandten Finanz- und Wirtschaftspolitik, die nicht auf dem Stand der modernen Forschung“ sei. Zudem bescheinigt er Merz  „Beratungsresistenz“.

Offensichtlich sind die Zeiten vorbei, wo Wirtschaftspolitik noch als Austausch von Glaubensbekenntnissen verstanden worden ist. Der Grund ist in der veränderten Wirklichkeit zu finden. Sie ist in diesem Artikel von Daniel Eckert zu finden. Der Arbeitsmarkt scheine insgesamt weniger anfällig für konjunkturelle Schwankungen geworden zu sein, so zitiert er den IW-Experten Holger Schäfer: „Dazu trage die zunehmende Bedeutung von Branchen wie Bildung, Soziales oder Gesundheit bei.“ Die Welt hat sich seit 2005 verändert – und damit zugleich die Strukturen im klassischen deutschen Verbände-Staat. So hat die Industrie ihre dominierende Position in der öffentlichen Meinung an diese postmodernen Dienstleistungsmilieus verloren. Die „Macht der Banken“ existiert ebenfalls nur in den Köpfen linker Nostalgiker, bestenfalls gut, um in Wahlkämpfen Ressentiments zu schüren.

Für Merz (und die CDU) ist also nicht nur der wirtschaftspolitische Dogmatismus ein Problem, sondern der Verlust ihrer Scharnierfunktion zwischen Verbänden und Wählern. Die Grünen profilieren sich gleichzeitig in der Debatte über die Tesla-Ansiedlung als klassische Industrielobbyisten. Deren Grundsätze von Bürgerbeteiligung und Verbandsklagrecht gelten nur dort, wo es den Erwartungen ihrer Wählermilieus entspricht – und der von ihnen vertretenen Branchen. Insofern wäre ein gewisses Maß an ordoliberalem Denken in der postmodernen Beliebigkeit durchaus zu begrüßen. Es müsste allerdings die heutige Wirklichkeit endlich zur Kenntnis nehmen.

Können die Grünen Ärmere ansprechen? Eine Reportage aus dem Hamburger Wahlkampf

piqer:
Hristio Boytchev

Sind die Grünen die künftige Volkspartei? Den Eindruck gewinnt man leicht in letzter Zeit, besonders wenn man, ob man sich dessen bewusst ist oder nicht, zu deren Zielgruppe gehört. „Zum Volk gehören allerdings auch Arme und Arbeitslose“, stellt Moritz Aisslinger in seinem Text fest. In seiner Reportage widmet er sich der Frage, ob die Grünen auch diese Menschen ansprechen können. Es ist zumindest kompliziert. Aisslinger zitiert einen Parteienforscher:

„Die Grünen sind ein Prachtexemplar der bildungsbürgerlichen Verankerung, sie sind Kinder der Mittelschicht“, sagt Wiesendahl im Wohnzimmer seines Hauses im Hamburger Norden mit Blick auf den Garten. „Sie haben sich zwar den Kopf über die arbeitende Klasse zerbrochen, aber sie haben das im Sinne des akademischen Seminars gemacht, nicht im Sinne des Schulterschlusses.“

Dabei sei das Parteiprogramm der Grünen wie kaum ein anderes auch auf ärmere Menschen abgestimmt, schreibt Aisslinger. Nur nehme man das der Partei nicht ab.

Der Text beschreibt in seinem Hauptteil den Versuch einer Grünen-Kandidatin für die Hamburger Bürgerschaftswahl, sich den Menschen in der ärmeren Wohnsiedlung Mümmelmannsberg anzunähern.

Die Arbeiterklasse ist weitgehend verschwunden, und mit ihr haben sich die Träume von einst aus Vierteln wie Mümmelmannsberg verzogen. Heute verteilen sich dort knapp 18.000 Menschen auf 7631 Wohnungen, weit über die Hälfte sind Sozialwohnungen. Aus der Arbeitersiedlung ist eine Siedlung der Arbeitslosen, Alten und Alleinerziehenden geworden, 80 Prozent der Kinder kommen aus Einwandererfamilien.

Die Reportage ist genau und unterhaltsam geschrieben und komprimiert die große Frage auf diesen konkreten Versuch. Wie ernst gemeint er ist, darüber kann man sich durch die Lektüre eine eigene Meinung machen.

Unpiq: Warum wird Bernie Sanders als linker Trump dargestellt?

piqer:
Achim Engelberg

Große Medien mögen ihn nicht, den Bernie Sanders. Als Beispiel gibt es eine Kolumne aus der New York Times, hinter einer Bezahlschranke bläst DER SPIEGEL in das gleiche Horn: „Wie Trump, bloß von links“ heißt es da oder „Der nächste Spalter“.

Liest man genauer, wird deutlich, dass im Text etwas eingeschränkt wird. Zu wenig ähneln sich die Erscheinungsbilder der beiden. Trump hadert mit der Grammatik, Sanders hält seit Jahrzehnten wortgewaltige Reden.

Freilich, ich zweifele manchmal auch, ob er mit fast 80 Jahren nicht zu alt ist, aber die beiden von den „Qualitätsmedien“ gelobten Biden und Bloomberg sind nicht viel jünger.

Man kann Einwände gegen Sanders haben, aber der Wunsch, zurück in die Clinton-Ära zu gelangen, verkennt, dass genau in dieser viele der jetzigen Widersprüche wenn nicht entstanden, so doch entscheidend verstärkt worden sind. Warum wird immer noch Hillary Clinton nachgeweint?

Zu dem Argument, Hillary Clintons Niederlage beweise ja, wie wenig die Nominierung einer Mitte-Links-Kandidatin gebracht hat, ist zu sagen, dass Clinton die Präsidentschaftswahl nach Stimmen in der Bevölkerung mit etwa 3 Millionen Vorsprung gewann und die Mehrheit des Wahlmännergremiums nur wegen etwa 77 000 Stimmen verfehlte, trotz Russland, trotz James Comey, trotz der gnadenlosen Berichterstattung über ihre E-Mails und trotz der politischen Bürde, die sie selbst mit sich herumschleppte. Zieht man all das ab, bleibt eine Siegerin – eine Siegerin, die völlig anders ausgerichtet war als Bernie Sanders.

Gut, ein Wahlsieg von Clinton war möglich, sogar erwartet. Aber ihr Programm war ein Weiter so. Und alles in allem wollen Biden oder Bloomberg nach dem Desaster Trump zurückgehen ins Vorher. Mit einigen kosmetischen Korrekturen.

Schauen wir doch einfach mal in das Wahlprogramm von Bernie Sanders. Er listet 12 entscheidende Punkte auf, die vom Wiederaufbau der maroden Infrastruktur bis zu höheren Mindestlöhnen reichen, von Maßnahmen zum Klimaschutz bis zur gleichen Bezahlung von Frauen bei gleicher Arbeitsleistung. Er will die unter der gegenwärtigen Oligarchie unterdrückten Gewerkschaften stärken, also: Mehr Demokratie wagen! Bildung und Krankenversicherung sollen für alle da sein und die Macht der Wall Street soll reduziert werden. Ein richtig gutes sozialdemokratisches Programm also.

Es ähnelt dem legendären New Deal, der auch aus einer Mischung aus sofort wirkenden und längerfristigen Maßnahmen bestand. Diese 1933 begonnenen Reformen wirkten bis zur allmählichen Einführung der ökonomischen Oligarchie ab den 1980er Jahre durch Reagan. Ob Sanders es durchsetzen kann, muss offen bleiben. Möglicherweise bereitet er auch „nur“ das Feld für seine wesentlich jüngere Truppe, zu der u. a. die populäre Alexandria Ocasio-Cortez gehört.

Aber urteile ich nicht zu stark aus deutscher Sicht und besitze kein Gefühl für die Staaten? Ich würde diesen Beitrag aus der respektablen New York Times nicht kritisieren, wenn ich nicht etliche amerikanische Stimmen wie die von Robert Reich kennen würde, der die USA vor der umstürzenden Wahl Demokratie oder Oligarchie sieht:

Großkonzerne, Wall Street und Milliardäre haben ihre Macht zementiert. Und Trump hat ihnen all die Steuerkürzungen, Deregulierungen und Subventionen gegeben, die sie haben wollten. Warum also steht das übrige Amerika nicht auf und protestiert gegen Trumps bösartige Attacken auf die amerikanische Demokratie? Weil die amerikanische Demokratie schon dysfunktional war, bevor Trump überhaupt kandidierte. Die Lobby der Reichen hatte sie da schon zum großen Teil übernommen. Viele Amerikaner können sich deshalb nur schwer dafür begeistern, in die Jahrzehnte vor Trump zurückzukehren, die bereits von zunehmender Ungleichheit und wachsender Korruption geprägt waren. … Doch die Demokraten werden Trumps autoritären Populismus nicht mit einem Establishment-Kandidaten besiegen können, der den Strohmann für die Oligarchie gibt. Sie können nur gewinnen, wenn sie eine grundlegende Reform des Systems anstreben, so wie es Warren fordert, aber auch Sanders. Kurzum: Die Demokraten müssen aufrecht auf der Seite der Demokratie und gegen die Oligarchie stehen. Ansonsten riskieren sie, dass am Wahltag viel zu viele Amerikaner auf der Seite Trumps stehen – oder zu Hause bleiben.

Warren wäre eine Alternative, aber ihre Basis ist (noch?) schwach. Deshalb hilft liberale Kritik an Sanders in Wahrheit Trump.

Ach, Roland Nelles analysiert gerade im SPIEGEL, warum Sanders in vielen Punkten Recht hat.

Armut wirkt wie eine schlaflose Nacht, kann aber nicht einfach nachgeholt werden

piqer:
Christian Huberts

Der niederländische Historiker Rutger Bregman ist häufiger zu Gast auf piqd. Mit empfehlenswerten Büchern, TED-Talks und kompromisslosen TV-Auftritten. Seine Positionen sind also vielleicht schon längst ausreichend bekannt. Für das »entschleunigte« Online-Magazin The Correspondent hat er seine Ideen zum Thema Armut aber noch einmal so gut zusammengefasst, dass sich ein weiterer piq lohnt.

Armut, so schreibt er, wirke oft wie ein Persönlichkeitsdefizit oder gar ein genetischer Faktor, bei dem nur Nudging und Bildungsangebote zuverlässig weiterhelfen. Den Armen einfach Geld zu geben, erscheint als Risiko, weil sie damit höchstwahrscheinlich nicht verantwortungsvoll umgehen werden. Klingt hart, aber die Statistik widerspricht dem erst mal nicht.

Harsh? Perhaps, but take a look at the statistics: the poor borrow more, save less, smoke more, exercise less, drink more, and eat less healthfully. Offer money management training and poor people are the last to sign up. When responding to job ads, they often write the worst applications and show up at interviews in the least professional attire.

Aber Bregman präsentiert ebenso Studien, die ein ganz anderes Bild zeichnen. So fiel etwa eine seit 1993 in den USA durchgeführte Langzeituntersuchung zur mentalen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zufällig mit der Eröffnung eines Casinos im Untersuchungszeitraum und Untersuchungsgebiet zusammen. Das Cherokee-Reservat, zu dem das Casino gehört, profitierte plötzlich von erheblichen Einnahmen, die den Lebensstandard der Einwohner deutlich erhöhten. Das schlug sich auch in den Untersuchungsergebnissen nieder.

Behavioural problems among children who had been lifted out of poverty went down 40 %, putting them in the same range as their peers who had never known hardship. Juvenile crime rates among the Cherokee also declined, along with drug and alcohol use, while their school scores improved markedly. At school, the Cherokee kids were now on a par with the study’s non-tribal participants.

Geld allein hat hier also die vermeintlichen Persönlichkeitsdefizite und genetischen Faktoren weitgehend rückgängig gemacht oder kompensiert. Um das zu erklären, verweist Bregman auf das Konzept der »scarcity mentality«. Menschen, denen es an wichtigen Ressourcen wie Geld mangelt, entwickeln einen Tunnelblick. Statt nachhaltig zu planen, neigen sie zu kurzfristiger Bedürfnisbefriedigung. Auch das ist mittlerweile gut erforscht. Bis zu 14 Punkte sinkt der IQ eines Menschen unter prekären Bedingungen. Das entspricht den Folgen einer schlaflosen Nacht, mit dem Ergebnis, dass schlechte Entscheidungen getroffen werden.

Compare it to a new computer that’s running 10 heavy programmes at once. It gets slower and slower, makes errors, and eventually freezes – not because it’s a bad computer but because it has to do too much at once. Poor people have an analogous problem. They’re making bad decisions not because they are stupid but because they’re living in a context in which anyone would make bad decisions.

Nudging zu besserem Verhalten und Bildungsangebote sind zwar nicht grundsätzlich falsch, können unter diesen Umständen jedoch nicht ihre volle Effektivität entwickeln oder sogar kontraproduktiv sein. Denn die Kausalitäten werden verdreht. Eine schlaflose Nacht mag man vielleicht nachholen können, aber Armut kann nicht allein durch die Bekämpfung der Symptome zuverlässig reduziert werden. Erst mit wiederhergestellter »mental bandwidth« verfangen Hilfsangebote.

Poverty is not a lack of character – it’s a lack of cash.

Die Illusionen der prekären Vollerwerbsgesellschaft

piqer:
Michael Hirsch

Der Beitrag aus der Wochenzeitung „Jungle World“ zeigt wunderbar nüchtern den zentralen Denkfehler des „deutschen Beschäftigungswunders“ auf. Das Schwerpunktthema des Hefts trägt die schöne Überschrift „Deutschland, du Lohnsau!“. Der Artikel zeigt auf, dass die wirtschaftspolitische Strategie, auf mehr Beschäftigung zu setzen, einem fatalen Fehler auf der Ebene der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung aufsitzt: Die „prekäre Vollerwerbsgesellschaft“ (ein Ausdruck des Soziologen Oliver Nachtwey in seinem Buch Abstiegsgesellschaft) setzt auf Beschäftigung buchstäblich um jeden Preis. Sie kann, innerhalb des herrschenden Paradigmas, gar nicht anders.

Der Artikel plädiert dafür, nicht nur prekäre und Niedriglohnarbeit zu beklagen, sondern den prinzipiellen volkswirtschaftlichen Fehler zu benennen. Dann ist es eben keine gute Nachricht, wenn in Deutschland die Beschäftigtenzahlen ansteigen, sondern eine schlechte Nachricht. Stefan Laurin bringt dies wunderbar trocken auf den Punkt:

  • Am 4. Dezember veröffentliche das Social-Media-Team der Bundesregierung eine frohe Botschaft: Noch nie seien in Deutschland so viele Menschen in ­Arbeit gewesen. Angaben des statistischen Bundesamts zufolge lag die ­saison- und kalenderbereinigte Anzahl der Erwerbstätigen mit Wohnsitz in der Bundesrepublik im Oktober 2019 bei 45,15 Millionen. Ein Jahr zuvor ­waren es noch 44,85 Millionen gewesen. Trotz schlapper Konjunktur und Beinaherezession war die Zahl der Beschäftigten noch einmal gestiegen. Die ­Arbeitslosenquote lag bei 4,8 Prozent. 2005 hatte sie noch bei 11,7 Prozent ­gelegen.
  • Doch dass Menschen am Morgen aufstehen und zur Arbeit gehen, bedeutet erst einmal nur, dass sie am Abend müde nach Hause kommen. Ob sie von ihrer Arbeit leben, ja vielleicht sogar gut leben können, das kann man aus den Beschäftigungsstatistiken nicht ableiten. Es kommt darauf an, wie gut oder schlecht Menschen verdienen.“

Schöner und deutlicher kann man es nicht auf den Punkt bringen, wie grundfalsch die aktuelle wirtschaftspolitische Doktrin der Schaffung von mehr Beschäftigung ist. Sie produziert prekäre Beschäftigung, Niedriglohnarbeit, und eine sinnlose Erschöpfung der arbeitenden Bevölkerung. Richtig wäre hingegen eine Politik, die eher auf kürzere Arbeitszeiten sowie auf weniger und dafür besser bezahlte und sozial abgesicherte Beschäftigung setzt. Es geht also um ein neues, ganz anderes wirtschaftspolitisches Paradigma.

Silos in der Wissenschaft überwinden? So geht’s!

piqer:
Anja C. Wagner

Ich kann mich nicht erinnern, jemals aus dem herrschenden Wissenschaftssystem heraus eine so umfassende Forderung nach multipler Vernetzung gelesen zu haben, wie in diesem Interview mit Thomas Hofmann, Präsident der TU München (TUM).

Welches Thema beschäftigt Sie jetzt? Wir wollen Hürden abbauen, um einer kooperativen Arbeitskultur über Grenzen einzelner Disziplinen hinweg neuen Raum zu geben. Zum Beispiel in gemeinsam genutzten und missionsgetriebenen Forschungsgebäuden, um Interdisziplinarität zur neuen Disziplin zu machen.

Warum? Das Innovationspotential ist am größten an den Grenzflächen der Disziplinen und nicht in den ausgetretenen Trampelpfaden einzelner Fächer. Diese neue Arbeitskultur, die tiefgehende Expertisen aus den einzelnen Disziplinen zu verknüpfen hilft, wollen wir nicht nur auf Ebene der Professorinnen und Professoren, sondern auch beim wissenschaftlichen Nachwuchs – den Doktorandinnen, Doktoranden sowie den Post-Docs – nachhaltig implementieren.

Dazu bauen sie den interdisziplinären Campus in Garching immer weiter aus, den ich (ganz nebenbei) letztes Jahr besucht habe und der mich nachhaltig beeindruckte. Dort wachsen Forschung, Start-up-Kultur und Prototyping über einen öffentlichen Makerspace zusammen.

Die Anzahl der entstehenden Start-ups aus dem Ökosystem heraus ist entsprechend beachtlich. Derweil fehle es allerdings an Mut und Finanzierungen, um diese schnell zu skalieren, so Hofmann – auch bedingt durch den kleineren deutschsprachigen bzw. EU-Wirtschaftsraum (im Ggs. zu USA und Asien).

Davon lässt sich die TUM aber nicht beeindrucken. So sollen die bereits vorhandenen 60 Professuren im Bereich Robotik und KI stärker miteinander vernetzt werden – sowohl horizontal als auch vertikal. Dies sei ein attraktives Kriterium für Forschende, die zwischenzeitlich auch gerne von globalen Tech-Unternehmen mit hohen Gehältern angeworben werden:

Diese vertikale Integration von Wissen über Größenordnungen hinweg in unterschiedlichste Anwendungsbereiche ist für Spitzenwissenschaftler hoch attraktiv. Das ist wissenschaftlich interessant und bekommen unsere Forscher in keinem Unternehmen.

Schließlich bauen sie ein Partnernetzwerk zur additiven Fertigung. Dieses gemeinhin unter „3D-Druck“ subsumierte Verfahren wird die produzierenden Industriesektoren im Automobilsektor, der Luft- und Raumfahrt und der Bauwirtschaft maßgeblich verändern. Wenn die Transformation schnell vollzogen würde, könnten hiesige Unternehmen im internationalen Wettbewerb standhalten. Dazu bauen sie einen Kooperationsverband auf, um diese neuen Technologien schnell industriell nutzbar zu machen. Nach Hofmann geht es in Deutschland allerdings politisch nicht schnell genug in Richtung Zukunftstechnologien.

Für mich ist die Frage: Wird es uns gelingen, die bislang starken produzierenden Sektoren schnell genug zu transformieren unter Nutzung neuer Technologien? Oder werden die auf Daten und IT basierenden Unternehmen aufgrund ihrer Finanzkraft schneller neue produzierende Sektoren aufbauen, die dann übrigens vielleicht auch nicht in den Vereinigten Staaten oder Asien entstehen, sondern hier bei uns, siehe Tesla. Wir haben keine Zeit zu verlieren! Wir brauchen dringend auch die Unterstützung der Politik.

Vonseiten der forschenden Infrastruktur bis hin zur Unterstützung beim Aufbau von Unternehmen ist zumindest in diesem Bereich einiges aufgesetzt. Das Potenzial zur Innovation ist demnach gegeben. Jetzt muss es nur noch fliegen lernen …

Guter Artikel! Unbedingte Leseempfehlung!

Die Geschichte hinter der russischen Kohle auf dem deutschen Strommarkt

piqer:
Michaela Maria Müller

39 Prozent der Kohle, die in Deutschland zur Stromerzeugung verwendet wird, kommt aus Russland. Der größte Teil davon aus der Region Kusbass im Süden des Landes. Es ist derzeit die mit Abstand billigste Kohle.

Seit den 1990er Jahren hat sich im Kusbass jedoch eine Menge verändert, denn die Kohleförderung wurde von Berg- auf Tagebau umgestellt. Die Umweltstandards werden nirgends eingehalten, was zur Folge hat, dass viele Kinder erkranken und die Lebenserwartung der Bevölkerung rapide gesunken ist. Unterirdische Kohlebrände sind entflammt und lassen sich nicht löschen; es entstehen Mondlandschaften und Maßnahmen zur Renaturierung gibt es nicht.

Reporter*innen des russischen Onlinemagazins Takie Dela waren in Kisseljowsk, eine Stadt mit rund 80.000 Einwohnern und haben mit den Menschen dort gesprochen:

„Der gesundheitsschädlichste Job im Tagebau ist Baggerfahrer“, sagt Natalja. „Die arbeiten ganz unten und atmen bis zu zwölf Stunden lang Methan und Qualm ein, kaum einer von ihnen wird 60. Die BelAZ-Fahrer kommen wenigstens zwischendurch mal hoch und können kurz Luft schnappen, die haben es etwas besser. Mein Mann fährt schon 17 Jahre auf seinem BelAZ , alle staunen, dass er noch so gut aussieht, aber vor kurzem haben auch bei ihm die Bursitiden angefangen, das sind Schleimbeutelentzündungen in den Gelenken. Er hat irrsinnige Schmerzen, aber er arbeitet weiter, was soll man sonst machen?“

Die Menschen fordern nun, dass sie umgesiedelt werden, und dass die Kohleunternehmen gezwungen werden, sich an die Umweltstandards zu halten.