Fremde Federn

Wohnungsbau, Neoliberalismus, Wachstumsdogma

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Warum Griechenland noch lange im Schuldenturm gefangen bleibt, was bei den Wahlen in Schweden zu erwarten ist und wieso Uni-Abschlüsse weniger wichtig werden könnten.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

„Der Staat soll mehr Wohnungen bauen – aber auf keinen Fall hier“

piqer:
Rico Grimm

Eigentlich müsste bei den Sozialwohnungen alles klar sein: Der Staat will sie bauen, es gibt vom Bund Geld für den Bau, die Bürger brauchen sie – und trotzdem geht das Ganze nur schleppend voran. Dieser Text liefert einen Teil der Erklärung, der zu wenig thematisiert wird, weil er schwer zu fassen ist.

Denn wenn es konkret wird mit dem Bau, melden sich manchmal Anwohner und versuchen das Vorhaben zu verhindern. Angeblich geht es ihnen um Umweltschutz und Baurecht. Tobias Lill hat Beispiele aus der ganzen Republik zusammengetragen, aus denen allerdings astreiner Klassismus spricht. Bloß keine Armen in der Nachbarschaft!

Der Verein aus dem Prenzlauer Berg, der fürchtet, dass der „Charakter des Viertels“ durch zu viele Sozialwohnungen verloren ginge, in Schwaben glauben sie, dass „soziale Brennpunkte“ entstehen und in Dresden glauben Anwohner, dass der Bau von Sozialwohnungen die Lebensqualität „erheblich beeinträchtigen“ würden. Fast immer führt das dazu, dass weniger Sozialwohnungen gebaut werden – oder das Projekt gar nicht erst angegangen wird.

80 Jahre Neoliberalismus – eine Richtigstellung

piqer:
Thomas Wahl

Vor 80 Jahren trafen sich 26 Männer (Frauen waren nicht beteiligt), Akademiker und Intellektuelle – darunter Raymond Aron, Friedrich A. von Hayek, Ludwig von Mises, Michael Polanyi und Wilhelm Röpke. Dieses Treffen gilt heute als die Geburt des Neoliberalismus.

Was wirft man diesem nicht alles vor: Demokratiefeindlichkeit, die Abschaffung des Staates zu propagieren und Knechte des Kapitals zu sein. Nichts davon stimmt mit den Zielstellungen und Theorien überein. Den Teilnehmern war die Dramatik der Lage 1938 sehr wohl bewusst, die sehr viele differenzierte Antworten verlangte. In der Einleitung zu den veröffentlichten Diskussionen wurden diese Ziele so formuliert:

Es war ein Treffen aufrichtiger, guter, freier Männer, überzeugt davon, dass die beste Chance der westlichen Zivilisation darin bestand, zu einem wohlverstandenen Liberalismus zurückzufinden, dem einzigen Weg, für einen verbesserten Lebensstandard der Massen zu sorgen, für Frieden zwischen den Völkern, für die Freiheit der Gedanken und die Ehre des menschlichen Geistes.

Sie sahen sehr klar, das Linke wie Rechte daran arbeiteten, der Demokratie den Garaus zu machen. Weder ein ein Kapitalismus unter totalitärer politischer Herrschaft und schon gar nicht ein ungezügelter Kapitalismus stand auf ihrer Agenda:

Das moralische Drama unserer Zeit ist die Blindheit der Linken, die von einer Kombination aus politischer Demokratie und ökonomischer Planwirtschaft träumen, ohne zu verstehen, dass Planwirtschaft einen totalitären Staat bedingt. Das moralische Drama unserer Zeit ist die Blindheit der Rechten, die vor lauter Bewunderung totalitärer Regierungen keuchen und zugleich die Vorteile einer kapitalistischen Wirtschaft einfordern, ohne zu verstehen, dass ein totalitärer Staat private Vermögen auffrisst und alle Formen wirtschaftlichen Handelns einebnet und bürokratisiert.

Die letzten Sätze könnte man sehr ähnlich heute wieder formulieren.

Warum hat Europa so wenig große Tech-Unternehmen?

piqer:
Rico Grimm

Europa ist ein Traum für Gründer: 550 Millionen Kunden, einheitliche Regeln dank der EU, sehr gute Universitäten und Ausbildungssysteme. Europa ist ein Traum für Gründer, eigentlich.

Denn außer Spotify gibt es auf dem Kontinent eigentlich keine Tech-Firma, die wirklich im Konzert der ganz Großen aus den USA und China mitspielen kann. Dieser Text zeigt erst die Gründe – und macht dann Hoffnung, dass sich das bald ändert. Denn chinesische Firmen haben Probleme, sich an andere Märkte als ihre eigenen anzupassen, die Öffentlichkeit wendet sich gegen US-Giganten und endlich scheint auch zu fließen, was im vergangenen Jahrzehnt noch selten war, wie Wasser in der Wüste: Risikokapital. Das aber kann immer noch nicht das vielleicht größte Hindernis aus dem Weg räumen. Dass zu oft viel zu klein gedacht wird.

Ist nun auch noch Schweden verloren?

piqer:
Eric Bonse

Nach Österreich und Italien droht nun auch in Schweden ein Rechtsruck. Bei den Wahlen am 9. September könnten die ausländerfeindlichen Schwedendemokraten die Sozialdemokraten in Bedrängnis bringen, wie die Umfragen zeigen. Auf den ersten Blick lässt sich dies leicht erklären – durch die Einwanderung der letzten Jahre und die damit verbundenen Probleme.

Doch halt – hat sich die Lage durch die Flüchtlinge wirklich so deutlich verändert? Sind die Krawalle in Malmö und anderen Städten ein Zeichen für wachsende gesellschaftliche Spannungen? Das ist genau das Narrativ, das die Schwedendemokraten vermitteln willen. Bei näherer Betrachtung lässt es sich aber nicht halten, sagt der Politikwissenschaftler Anders Hellström.

The fear is that Sweden may now be on the trajectory of other countries in Europe which have elected large numbers of representatives from nationalist populist parties to parliament, and in some cases even into government. The narrative is that everything is going down the drain and there is no hope. However, there are several reasons not to jump to hasty conclusions. Sweden is not yet on an inevitable path toward dystopia.

Nein, nicht alles ist schlecht, auch wenn die Rechten alles schlecht reden wollen. Die Arbeitslosigkeit sinkt, die Lebensqualität ist immer noch hoch, und die meisten Schweden sind immer noch tolerante und weltoffene Menschen. Wie all das zusammenhängt – und welche Rolle die neuen sozialen Medien dabei spielen – erklärt diese interessante Analyse.

Abschied vom Wachstum

piqer:
Jörn Klare

Benjamin Reibert spricht für die SZ mit dem Stuttgarter Wirtschaftswissenschaftler André Reichel über die Notwendigkeit eines Abschieds vom ökonomischen Wachstumsdogma. Anlass dieses gerade auch für Laien anschaulichen Interviews ist Reichels kürzlich erschienene Zukunftsstudie Next Growth: Wachstum neu denken?. Deren Ausgangspunkt ist die banale aber immer noch gern geleugnete Erkenntnis, dass einem materiellen Wachstum auf einem materiell begrenzten Planeten natürliche(!) Grenzen gesetzt sind.

Klimawandel, Biodiversitätsverlust, Übersäuerung der Ozeane und die sozialen und wirtschaftlichen Folgen wie Ernteausfälle, Hitzetote und Umweltflüchtlinge sind die Rückzahlungen, die wir leisten müssen. Das wird mehr werden in Zukunft, wenn es nicht gelingt, von Wachstum, wie wir es bislang gekannt haben, auf eine andere Art des Wirtschaftens umzustellen.

Reichel beschreibt das ökonomische Wachstum dabei als „Patriotismus der Deutschen“, was ein entsprechendes Umdenken und die notwendigen demokratischen Diskussionen und politischen Entscheidungen nicht unbedingt erleichtert. Angela Merkel zitiert er dazu mit der Formel „Ohne Wachstum ist alles nichts.“ Schließlich werden auch unsere sozialen Sicherungssysteme durch Abgaben auf in Zukunft steigende Einkommen finanziert.

Hier wäre ein Umsteuern angeraten, um zumindest die Staatsfinanzen etwas wachstumsunabhängiger zu machen. Steuern auf Vermögen und auf Umweltverbräuche sind hier die bessere Wahl als Steuern auf Arbeitseinkommen.

Letztlich aber scheint dem Nachhaltigkeitsforscher eine Verringerung von Konsum und Produktion auf der Basis einer Entkopplung von Lebensqualität und Wachstum unausweichlich. Dazu nimmt er sogar das „schlimme Wort“ Wertewandel in den Mund.

Ein Wertewandel bei dem Wachstum nicht mehr wirtschaftlich gedacht wird, sondern einen Zuwachs an Wissen, Erfahrung, Freude, Freundschaft, Zufriedenheit bedeutet.

Lesenswert.

Die verpassten Lehren aus der Griechenland-Krise

piqer:
Eric Bonse

Nach acht Jahren Dauerkrise hat Griechenland den Euro-Rettungsschirm verlassen. Für die EU ist dies ein „historischer Moment“, sie sieht sich in ihren Bemühungen bestätigt. Doch für Kritiker wie Harald Schumann bleibt ein bitterer Nachgeschmack. Denn Griechenland bleibt noch bis 2060 gefangen im Schuldenturm. Zudem wurden wichtige Lehren aus der Krise nicht gezogen.

So hat die Eurozone bis heute kein eigenes Budget. Die Euroländer machen sich am Kapitalmarkt gegenseitig Konkurrenz – was vor allem Deutschland zugutekommt, das im Zuge der Krise zum „sichern Hafen“ für die Anleger wurde und so dutzende Milliarden gespart hat. Außerdem fehlt immer noch eine demokratische Kontrolle der Europäischen Zentralbank und der Eurogruppe.

Schumann verweist auf einen grundlegenden Widerspruch in der Verfassung des Euro: „Die 19 beteiligten Staaten teilen sich zwar eine Währung, aber sie bewirtschaften ihre Staatshaushalte getrennt und betreiben ihre jeweils nationale Wirtschaftspolitik.“ Es hat zwar immer wieder Versuche gegeben, das zu ändern – zuletzt hat sich Frankreichs Staatschef Macron vorgewagt.

Doch am Ende scheiterten alle Reformvorschläge an Deutschland – also an dem EU-Mitglied, das am meisten vom Euro profitiert, sogar in Krisenzeiten …

Die Arbeitnehmerin der Zukunft: Vom Kosten- zum Kreativfaktor

piqer:
Ole Wintermann

Der Internet-Vordenker John Hagel III zeichnet in seinem Beitrag für den HBR ein helles Bild des Übergangs der Massenproduktion des letzten Jahrhunderts zu der wissensbasierten und hochspezialisierten Produktion der Zukunft, die aber eben nicht nur die formal Geringqualifizierten, sondern auch die formal Hochqualifizierten zum Umdenken zwingen wird. Und das ist auch gut so.

Seiner Meinung nach sind einige Trends nicht mehr zu leugnen, die gegenwärtig die Art der Produktion und der Beschäftigung massiv verändern: Künstliche Intelligenz übernimmt immer mehr Standard-Routinen in einer Vielzahl von Berufen. Die Konsumenten sind zugleich immer weniger bereit, für beliebige Massenprodukte zu zahlen. Diese Produkte wollen sie zudem immer seltener besitzen, sondern nur nach deren Nutzungszeit mieten. Das dadurch freigewordene Kapital kann im Alltag sehr viel besser für sinnstiftende Aktivitäten genutzt werden. Produkte müssen gleichzeitig sehr viel schneller als in der Vergangenheit neuen Kundenpräferenzen, über die viele (nicht alle) Unternehmen heute sehr viel besser informiert sind, angepasst werden.

Die Veränderungen der Kunden- und der Arbeitsmärkte gehen miteinander einher:

“The only way to create value in a more differentiated and rapidly changing product world will be to redefine work … to focus on distinctly human capabilities like curiosity, imagination, creativity, and emotional and social intelligence.”

Welche Berufsgruppen werden daher zukünftig nach Auffassung von Hagel stärker nachgefragt werden? Es sind die Kreativen (kreieren neue Arten von Produkten), die “Composer” (die die Verbindung zwischen Produkten und Menschen optimieren) und die Coaches (die die Menschen in einer Welt der Vielfalt anleiten), die in der #ZukunftderArbeit gefragt sein werden.

Und für diese gilt nach Meinung von Hagel:

“The emerging opportunities may not require college degrees, but they will require passion and a desire to connect with others in richer and more meaningful ways.“

Klingt gut.