Die zwischen 2010 und 2015 durchgeführten Reformen der Eurozone markierten die stärkste Vertiefung der europäischen Integration seit dem Vertrag von Maastricht (1992). Trotzdem sind viele ökonomische und politische Beobachterinnen und Beobachter der Auffassung, dass es noch weiterer Reformen bedarf, um die Währungsunion krisenfest zu machen. Kontrovers diskutiert wird, wie diese Reformen ausschauen sollen.
In einer neuen Untersuchung haben wir den politischen Konflikt in dieser Kontroverse genauer analysiert. Dabei haben wir mittels einer Sammlung der politischen Positionen aller EU-Mitgliedsstaaten und unter Verwendung von statistischen Skalierungsmethoden sowohl die zugrundeliegenden Konfliktdimensionen, als auch die dominierenden Koalitionsmuster in der Debatte um die Reform der Eurozone identifizieren können.
Für unsere Analyse stützen wir uns auf einen Datensatz, der die vollständigste und systematischste Sammlung von Positionen der Euro-Mitgliedsstaaten beinhaltet. Dieser Datensatz umfasst eine große Bandbreite von 47 ökonomischen, fiskalischen und institutionellen Vorschlägen, die zwischen 2010 und 2015 diskutiert wurden. Dazu zählen beispielsweise der Six-Pack und Two-Pack, der Fiskalpakt, der EFSF, der ESM, die Hilfsprogramme für Griechenland und die sogenannte Bankenunion (hier finden Sie den Datensatz sowie weitergehende Erläuterungen dazu).
Konfliktdimensionen
Zunächst haben wir in unserer Analyse untersucht, ob die Eurozonen-Reformen durch eine oder mehrere zugrundeliegende Konfliktdimensionen strukturiert waren. Ein Standardmodell der EU-Politik besagt, dass wir uns dabei auf zwei Konfliktlinien fokussieren sollten: eine verläuft zwischen linken und rechten Regierungen, die andere zwischen Befürworterinnen und Gegnern einer stärkeren Integration. Diesem Modell folgend wäre also zu vermuten, dass linke Regierungen, die eine stärkere Integration befürworten, ähnliche Positionen teilen, und in direkter Opposition zu rechten Regierungen stehen, die einer verstärkten Integration skeptisch gegenüberstehen.
Die wissenschaftliche Literatur diskutiert, neben diesen beiden Konfliktdimensionen, noch weitere, wie etwa die zwischen alten und neuen Mitgliedsstaaten. In der Praxis sollten mehrdimensionale Konflikte im Wesentlichen bedeuten, dass sich die Mitgliedsstaaten in wechselnden Koalitionen gegenüberstehen. Dies kann wiederum dazu führen, dass sich die politischen Differenzen auflockern: z. B., weil sich eine linke, für mehr Integration eintretende Regierung darüber im Klaren ist, dass sie bei manchen Themen in Konflikt mit einer rechten Regierung geraten wird, die ebenfalls für mehr Integration ist, aber mit eben dieser Regierung auf anderen Politikfeldern zusammenarbeiten kann.
Fiskaltransfers vs. Fiskaldisziplin
Die Mehrdimensionalität ist aber nicht die Konfliktstruktur, die wir mit Blick auf die Politik in der Währungsunion beobachten können – stattdessen zeigt unsere Analyse, dass sich die Eurozone vor allem dadurch auszeichnet, dass die konventionellen EU-Konfliktdimensionen keine Rolle spielten. Vielmehr können wir nur eine einzige Konfliktstruktur identifizieren, die die Auseinandersetzungen bei der Reform der Währungsunion erklärt: der Konflikt zwischen Befürworterinnen stärkerer Fiskaltransfers und jenen, die mehr „fiskalische Disziplin“ wollen. Diese Konfliktlinie ist inhaltlich definiert und die stabilen Positionen der Mitgliedsstaaten in dieser Auseinandersetzung lassen sich weitgehend über ökonomische Unterschiede zwischen den Ländern erklären. Wir finden diesen stabilen, strukturellen Konflikt in der Analyse der Daten zu allen ökonomischen und fiskalischen Reformen, sowie jenen zur Finanzintegration, die zwischen 2010 und 2015 diskutiert wurden.
Mit statistischen Skalierungsmethoden und unseren neuen Daten haben wir die aggregierten Positionen jedes Mitgliedsstaats und sechs europäischer Institutionen berechnet. Die Ergebnisse zeigen, dass Frankreich auf Seiten der Befürworter von fiskalischen Transfers die extremste Position vertreten hat, gefolgt von Griechenland, den anderen südlichen Mitgliedsstaaten und Belgien.
Auf der anderen Seite des Spektrums sind die Niederlande und Finnland am stärksten für mehr Fiskaldisziplin eingetreten. Deutschland folgt auf Rang drei. Eine große Gruppe von nördlichen und osteuropäischen Staaten befindet sich ebenfalls auf der Seite des Fiskaldisziplin-Lagers, wenngleich sie näher an der Mitte liegen. Dazu zählen Länder wie die Slowakei, Kroatien, Tschechien, Österreich, Lettland, Estland, Ungarn, Schweden, Dänemark, Rumänien, Großbritannien und Bulgarien.
Alles in allem können wir empirisch zwei Koalitionen an beiden Enden dieser eindimensionalen räumlichen Skala identifizieren, die in starker Opposition zueinanderstehen. Die De-Facto-Anführer dieser Lager – Frankreich und Deutschland – befinden sich an den jeweiligen Enden der Skala.
Die Positionen in den Verhandlungen um die Reform der Eurozone
Beide Koalitionen bemühen sich um die Unterstützung einer dritten Gruppe von Akteuren, die sich in der Mitte positioniert hat. Dazu zählen vor allem die EU-Institutionen, namentlich die Eurogruppe, der Rat, das Parlament, die Kommission und die EZB, wobei der ECOFIN-Rat dem Fiskaldisziplin-Lager nähersteht. Irland, Zypern, Luxemburg und Slowenien sind zentristische Staaten, die zwischen beiden Koalitionen hin und her wechseln. (Unsere Ergebnisse sind im Übrigen konsistent zu anderen Studien, die die Spaltung zwischen exportorientierten Ländern und Gläubiger- und Schuldnerstaaten hervorheben.)
Ein ideales Setting für deutsch-französische Kompromisse
Aus dieser Analyse können wir unter anderem folgende drei Dinge lernen:
Die Ergebnisse deuten auf eine sehr ausgeprägte und historisch stabile Spaltung zwischen Befürworterinnen von mehr Fiskaldisziplin und Befürwortern von mehr Transferzahlungen hin. Im Wesentlichen werden die Mitgliedsstaaten durch zwei unterschiedliche makroökonomische Konzepte voneinander getrennt, und diese divergierenden Präferenzen spiegeln ideelle, ökonomische und institutionelle Differenzen zwischen den Mitgliedsstaaten wider. Dieser permanente und eindimensionale Konflikt überschattet alle politischen Verhandlungen über die Reform der Eurozone. Es gibt weiterhin gegenläufige Narrative und Analysen der Krisenursachen und der künftigen Ausgestaltung der Eurozone, wobei die Krise diese Gegensätze verschärft hat.
Das Fiskaldisziplin-Lager ist größer als die Gruppe der Befürworterinnen von Fiskaltransfers. Die EU-Osterweiterung hat ersteres noch gestärkt, wenngleich sich das Kräfteverhältnis nur leicht verschoben hat, ohne den grundsätzlichen, politischen Konflikt verändert zu haben. Die zentral- und osteuropäischen Länder könnten ihre Position zwischen den beiden großen Lagern stärker einsetzen, indem sie eine aktivere Rolle als politische Mehrheitsbeschafferinnen einnehmen.
Die eindimensionale Konfliktstruktur hat einen wichtigen Vorteil: Es gibt einen klar eingegrenzten Verhandlungsspielraum, wobei die Median-Position zwischen beiden Koalitionen das natürliche Verhandlungsgleichgewicht darstellt. Dieses Gleichgewicht wird in immer wiederkehrenden Verhandlungen, seit der Gründung der Währungsunion mit dem Vertrag von Maastricht (1992), jeweils neu datiert. In einer Dynamik von Reziprozität und gegenseitigen Konzessionen zwischen beiden Lagern werden Reformen vorangetrieben, ohne dass sich eine Seite mit ihrem Konzept der Wirtschafts- und Währungsunion konsequent durchsetzen kann (siehe dazu auch folgende Studie).
Mit Frankreich und Deutschland stehen die beiden mächtigsten EU-Mitgliedsstaaten an der Spitze der jeweiligen Lager. Der von uns identifizierte Verhandlungsspielraum ist ein ideales Setting für gemeinsame deutsch-französische Vorschläge, die die politische Unterstützung aller EU-Mitgliedsstaaten bekommen sollten. Die entscheidende Frage ist allerdings, ob die Regierungen Frankreichs und Deutschlands gewillt (und in der Lage) sind, das (innen-)politische Risiko einzugehen, das mit einem umfassenden Kompromiss verbunden ist; oder ob sie es stattdessen bevorzugen, kleine gegenseitige Zugeständnisse zu machen.
In der von uns skizzierten europäischen Konfliktstruktur sind beide Strategien praktikabel – aber um die Währungsunion langfristig stabil zu machen, dürften kleine Konzessionen nicht ausreichen.
Zu den Autoren:
Fabio Wasserfallen ist assoziierter Professor für Politische Ökonomie an der Uni Salzburg und ab April Professor für Vergleichende und Europäische Politik an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen.
Thomas Lehner ist Doktorand an der Uni Salzburg.
Hinweise:
Dieser Beitrag ist zuerst auf Englisch im EUROPP-Blog der London School of Economics and Political Science (LSE) erschienen. Weiterführende Informationen finden Sie in der Studie, die diesem Beitrag zugrunde liegt. Die Studie ist Teil des Projekts „EMU Choices”, welches vom EU-Programm für Forschung und Innovation Horizon 2020 finanziert wurde (Projektnummer 649532).