In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Der Wirtschaftsnobelpreis 2019 – praktisch gut
piqer:
Thomas Wahl
Nicht zu Unrecht werden die abstrakten ökonomischen Theorien oft als wirklichkeitsfremd kritisiert. Die diesjährigen drei Wirtschafts-Nobelpreisträger erhalten ihre Auszeichnung für ganz handfeste Analysen über Probleme der Entwicklungspolitik. Keine großen Würfe, warum sich manche Länder schneller entwickeln, oder ob der böse Westen schuld ist, sondern konkrete und vielfältige Feldforschung.
Diese großen Würfe kollidieren oft mit der Erfahrung von Entwicklungshelfern vor Ort. „Die Frauen kommen vom Feld und klagen über Rückenschmerzen“, berichtete vor Jahrzehnten Bruder Johannes, ein Missionar in Tansania. Die Agrarhelfer zeigten den Frauen, dass die Rückenschmerzen ausblieben, wenn man nicht tief gebückt mit einer kurzen Hacke, sondern aufgerichtet mit einer langen Hacke den Boden bearbeite. Das sei eine gute Idee, meinten die Frauen in der Erzählung des Missionars: „Dann gehen sie nach Hause, nehmen ihre kurze Hacke und machen weiter.“
Also wie verändert man hinderliche Gewohnheiten, wie bringt man Menschen, die um ihr tägliches Überleben kämpfen, zu vorausschauendem Handeln? Wie verbessert man Schulbildung wirklich? Reicht mehr Geld? Helfen Mikrokredite und wem besonders? Es sind also ganz einfache Fragen, denen diese Ökonomen durch Versuch und Irrtum auf den Grund gegangen sind. Ob damit „die wissenschaftliche Entwicklungspolitik“ wirklich umgekrempelt wurde, wie die Schwedische Akademie der Wissenschaften in ihrer Preisbegründung schrieb, wird sich zeigen. Aber auf einige Probleme lässt sich heute vor Ort zielgenauer reagieren – was man bei vielen Großtheorien nicht behaupten kann.
Niederländer bekommen mindestens 1.200 Euro Basisrente, selbst wenn sie nie eingezahlt haben
piqer:
Rico Grimm
Die Bundesbank schlägt vor, das Renteneintrittsalter bis zum Jahre 2070 schrittweise auf 69 Jahre und vier Monate zu erhöhen. Als Grund nannte sie die gestiegene Lebenserwartung. Hinzu kommt natürlich, dass das deutsche Rentensystem mit seiner sogenannten Umlagefinanzierung an seine Grenzen kommt, d. h. es treten zu wenige junge Menschen in den Arbeitsmarkt ein, die dann wiederum mit ihren Beiträgen die Renten der Älteren zahlen könnten. Aber selbst, wenn der Vorschlag der Bundesbank umgesetzt werden würde: Das Rentenniveau könnte trotzdem weiter sinken. In diesem Interview wird deutlich, dass es auch anders ginge. In den Niederlanden bekommt jede:r Rentner:in im Schnitt eine Rente von 98% des Bruttogehalts. Auch Menschen, die nie eingezahlt haben, werden versorgt. Warum kollabiert das System nicht? Das Geheimnis sind Betriebsrenten:
Die Betriebsrenten, die quasi flächendeckend ausgebaut sind, machen in der Tat den wesentlichen Unterschied aus. So gut wie alle abhängig Beschäftigten zahlen gemeinsam mit den Arbeitgebern in einen Pensionsfonds ein. Mit steigendem Einkommen steigen auch die Beiträge.
Problem hier aber: Die Betriebsrenten werden aus Gewinnen am Finanzmarkt gezahlt. Da aber gerade die Zinsen sehr niedrig sind, bekommen die großen Pensionskassen Probleme, rentable und gleichzeitig sichere Anlagen zu finden.
Wie weit reicht der Arm Pekings?
piqer:
Maximilian Rosch
70 Jahre nach der Staatsgründung hat sich China längst vom Bauernstaat zur globalen Wirtschaftsmacht entwickelt. Doch wie weit reicht der Arm Pekings heute? Ausgehend von der hier empfohlenen Investigate Europe-Recherche sprach Philipp Weimar mit Harald Schumann und Wan-Hsin Liu über den chinesischen Einfluss, die Strategien und die Auswirkungen auf Europa.
Die chinesische Regierung fördert seit Anfang des neuen Jahrhunderts chinesische Investoren beim Gang ins Ausland, um dort zu investieren und eben auch um von ausländischen High-Technologiefirmen zu lernen oder Management-Know-How zu erwerben. – Wan-Hsin Liu vom Institut für Weltwirtschaft, Kiel
Chinas Anspruch haben nicht nur die Tausenden Soldaten und Panzer auf der Militärparade zur Siebzigjahrfeier demonstriert, sondern auch die Bestrebungen in der Außen- und Handelspolitik. Stichwort: Neue Seidenstraße.
Neue Seidenstraße bis Europa
Seit 2013 arbeitet die Regierung in Peking öffentlich an dem riesigen Handelsnetzwerk, das sich von Peking, über Asien und Afrika bis nach Europa erstreckt.
Ausverkauf findet überhaupt nicht statt. Also man muss auch die Größenordnung im Auge behalten. Amerikanische Unternehmen haben zehnmal so viel investiert wie chinesische Unternehmen. – Harald Schumann, Investigate Europe
Dabei investiert der chinesische Staat die wahnwitzige Summe von einer Billion Dollar – in Häfen, in Straßen, in Brücken, in Eisenbahntrassen. Und das selbstverständlich auch in Europa. Die Recherche des Journalisten-Netzwerks Investigate Europe zeigt, wo und wie China dabei vorgeht.
Wie abhängig ist Europa?
Aber welche Risiken sind damit verbunden? Hat sich Europa zu abhängig gemacht von den Milliarden aus Peking? Und wie kann, wie muss Europa der kommunistischen Parteiendiktatur in Peking entgegentreten, um sich vor Einflussnahme zu schützen?
Warum die Bundesregierung beim Klimaschutz die absolut wichtigste Zielgröße ignoriert
piqer:
Ralph Diermann
Als FDP-Chef Christian Lindner vor einigen Monaten der Fridays-for-Future-Bewegung riet, den Klimaschutz den Profis zu überlassen, hatte er damit offenbar nicht die Bundesregierung gemeint. Welchen Eiertanz Schwarz-Rot beim Klimapaket aufführt, arbeitet jetzt Klimaforscher Stefan Rahmstorf in einem Gastbeitrag für Spiegel Online heraus.
Seiner Argumentation legt Rahmstorf das globale CO2-Budget zugrunde, das der Menschheit dem IPCC zufolge noch zur Verfügung steht, wenn sie die Erderhitzung bis 2050 auf 1,5° begrenzen will. Verteilt man die Menge anhand der jeweiligen Einwohnerzahlen auf die einzelnen Staaten, ergibt sich eine sinnvolle Zielgröße für die deutsche Klimaschutzstrategie. Aus dieser Größe ließen sich dann konkrete Maßnahmen ableiten, die sicherstellen, dass das Budget einigermaßen verlässlich eingehalten wird (mit einem Emissionshandel für Verkehr und Wärme zum Beispiel, der seinen Namen verdient).
Und die Bundesregierung? Sie nennt gar kein CO2-Budget für ihre Klimaschutzstrategie. Stattdessen betont sie, dass die deutschen Reduktionsziele (minus 55% gegenüber 1990) eingehalten werden. Rahmstorf errechnet daraus eine Emissionsmenge, die doppelt so hoch liegt wie sie mit dem 1,5°-Ziel zulässig wäre (wenn man die Bevölkerungszahl zum Maßstab nimmt). Nähme die Regierung die IPCC-Berichte ernst, müsste sie also Maßnahmen beschließen, die weit über diese unzureichenden Klimaziele hinausgehen. Das würde transparent werden, wenn Schwarz-Rot mit dem Emissionsbudget arbeitete.
Eine Verkehrswende nicht nur für Reiche
piqer:
Daniela Becker
Andrea Reidl hat in diesem Text zusammengefasst, aus welchen Elementen eine sozial gerechte Verkehrswende bestehen muss. Sie schreibt damit auch gegen den mantrahaft vorgebrachten Fehlschluss an, mehr Klimaschutz im Verkehrsbereich schränke arme Menschen in ihrer Mobilität ein. Das Gegenteil kann der Fall sein, wenn man es richtig macht – und nicht nur den Privat-PKW als Mobilität einstuft.
1. CO2 braucht einen Preis: Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Höhe des Einkommens und klimaschädlichem Verhalten. Wer viel fährt oder viel fliegt, müsste fairerweise mehr bezahlen.
2. Pendlerpauschale einkommensabhängig machen
Eine einkommensabhängige Entfernungspauschale könnte für Geringverdiener, denen die Alternative zum Auto fehlt, auf 40 Cent pro Kilometer steigen, für Haushalte mit hohem Einkommen aber auf 15 Cent pro Kilometer sinken. So hätten die einen besonders hohen Anreiz, das Auto stehen zu lassen, die sich das auch leisten können – und die, weil sie in der Regel häufiger und in größeren Fahrzeugen unterwegs sind, dem Klima ohnehin stärker schaden als Geringverdienende.
3. Alternativen zum Auto schaffen
4. Radverkehr fördern
5. Bus- und Bahnverkehr müsste eine wichtigere Rolle spielen als bisher – und bezahlbar gestaltet werden. Bislang ist der ÖPNV jedoch in vielen Städten viel zu teuer als das ärmere Menschen ihn tatsächlich nutzen könnten. Dieses Hemmnis gilt es schnell abzubauen.
6. Mehr Platz für Fußgänger
Immer mehr Fahrzeuge beanspruchten Platz auf dem Gehweg: parkende Autos, Fahrräder, Leihräder und E-Scooter. Einzelhändler und Restaurantbetreiber blockierten die Wege mit Werbetafeln. “Das muss sich ändern. Zu Fuß gehen ist Basismobilität”, sagt [Vorstand des Fachverbands Fußverkehr Deutschland; A.d.R.] Stimpel. Die Menschen müssten ihren Gehweg zurückbekommen. Für ihn ist die Sache klar: “Wer klimafreundliche und sozial gerechtere Mobilität will, muss den Platz auf der Straße neu verteilen.” Für Stimpel geht das nur, indem man dem Auto Platz wegnimmt.
Wie die Deutsche Bahn im Ausland fast kein Geld verdient
piqer:
Rico Grimm
Marcus Engert von Buzzfeed hat sich durch die Auslandsbeteiligungen der Deutschen Bahn gewühlt, die als Unternehmen ja privatrechtlich organisiert, aber zu 100 Prozent in Staatsbesitz ist. Ihre Auslandsbeteiligungen sind also auch unsere Auslandsbeteiligungen (na gut, mittelbar wenigstens). Laut Engert schreibe „ein Großteil der Beteiligungen schwarze Zahlen”, allerdings hätten sie sich trotzdem nicht so entwickelt wie erhofft; schließlich wollte die Bahn Anfang der Nuller Jahre einmal zu einem weltumspannenden Logistikkonzern aufsteigen. Geblieben ist von den Plänen nicht viel, außer Schulden. Deswegen sollen jetzt auch einige der Beteiligungen verkauft werden, allen voran die Tochter ARRIVA, die unter anderem Nahverkehre im Ausland organisiert. Ein Buchverlust ist hier möglich.
Die Deutsche Bahn ist ein Schlüsselkonzern für die Verkehrswende und damit auch für den Wandel, den die Klimakrise nötig macht. Deswegen ist so eine detaillierte Aufstellung über ihre wirtschaftlichen Verhältnisse wertvoll.
Wer noch tiefer einsteigen will: Mitpiqer Christian Gesellmann hat einmal die Gesamtsituation betrachtet: „Die Deutsche Bahn, verständlich erklärt”
Was Jeff Bezos antreibt? Jean-Luc Picard!
piqer:
Jannis Brühl
Jeff Bezos ist, so lässt sich feststellen, ein recht interessanter Typ. Reichster Mann der Welt, Monopolist, dank Prime und Amazon Studios ein Hollywood-Mogul und neuerdings auch mit seinen Lobbyisten einer der Machtspieler in Washington – zum Unmut von Donald Trump, der Bezos zu einem seiner Lieblingsfeinde gekürt hat. Und sein Erfolg bestätigt seinen Größenwahn immer wieder. Dieser Text analysiert, was das Phänomen Amazon in all seinen Facetten im Jahr 2019 ist – von eigenen Flugzeugen über seine Versuche, der einzige Anbieter von allem für die Behörden zu werden, bis hin zu seinem opportunistischen Verhältnis zu Arbeiterrechten. Vor allem ist es aber der einigermaßen gelungene Versuch, ein Psychogramm von Konzernchef Bezos zu erstellen.
Reden wollte Bezos mit dem Reporter und selbsternanntem Amazon-Skeptiker Franklin Foer nicht. In vielen Gesprächen in Bezos’ Umfeld fördert Foer jedoch Interessantes zutage. Als Antrieb identifiziert er Bezos’ Science-Fiction-Träume, insbesondere den, die Menschen ins All zu bringen. Bezos meint, Weltraumkolonien könnten sich noch viele Milliarden Menschen mehr leisten als heute auf der Erde leben. Star Trek gegen Klimawandel und Überbevölkerung. Er geht auch auf Bezos’ Identifikation mit dem Enterprise-Kapitän Picard ein – die sich über die Jahre auch in seinem Aussehen niederschlug.
Sein nerdiges, wenig selbstkritisches Verständnis von der Welt – a la „Ich mache die Welt (und das All) zu meinem Sci-Fi-Freizeitpark” – traf auf die politische Realität, als er die Washington Post kaufte. Der Autor sieht Bezos als Gegenstück zu Trump, als jemanden, der verspricht, die Probleme der Gegenwart nicht mit Brachialgewalt, sondern als Technokrat zu lösen.
Interessant auch, wie Amazons Macht als „everything store” die Vorstellung vom freien Markt als Spiel der Kräfte zwischen vielen Teilnehmern auf den Kopf stellt – und damit die Theorien der Marktliberalen konterkariert:
Amazon … has acquired the God’s-eye view of the economy … any moment, its website has more than 600 million items for sale and more than 3 million vendors selling them … it has collected the world’s most comprehensive catalog of consumer desire, which allows it to anticipate both individual and collective needs. With its logistics business—and its growing network of trucks and planes—it has an understanding of the flow of goods around the world. In other words, if Marxist revolutionaries ever seized power in the United States, they could nationalize Amazon and call it a day.
Nach dreißig Jahren ein neuer Anlauf?
piqer:
Ruprecht Polenz
Als Triumph von Freiheitswillen und Liberalismus sehen wir die Transformation ehemals sozialistischer Einparteien-Systeme zu Demokratie und Rechtsstaat. Heute, 30 Jahre später, reiben wir uns die Augen über Rechtspopulismus und ethnischen Nationalismus in Polen oder Ungarn. In dem empfohlenen Artikel sieht der Historiker Tobias Rupprecht als Erklärung der gegenwärtigen Krise der liberalen Demokratie in Osteuropa, „dass eine affirmative Haltung zu ihr dort noch nie weit verbreitet war.“
Vorstellungen eines ethnisch und religiös definierten Europa seien auch in den 1990er und 2000er Jahren aufrechterhalten worden, ein entscheidender Faktor für den Aufstieg der antiliberalen Populisten in den letzten zehn Jahren. Hinzu komme die Angst vor einer demografischen Katastrophe durch Emigration und niedrige Geburtenraten.
„Der liberale Mythos von «1989» als friedlicher Revolution nach Freiheit und liberalen Institutionen strebender Menschen mag historisch nicht ganz korrekt sein – bietet heute aber einen Anknüpfungspunkt für antipopulistischen Protest und vielleicht auch ein Narrativ, das langfristig mehr Menschen in Osteuropa davon überzeugen könnte, sich mit der nach 1989 errichteten politischen Ordnung zu identifizieren.“
Wie viel CO2 verbrauchst du?
piqer:
Moritz Orendt
Ich bin zwar unter dem bundesdeutschen Durchschnitt, aber ich verbrauche immer noch erschreckend viel.
Das hat mir der CO2-Rechner des Umweltbundesamts errechnet. Dort kann jeder selbst errrechnen, wie weit er von dem Klimaschutz-Ziel für Deutschland weg ist: Wir müssen von 11,6 Tonnen CO2 auf unter 1 Tonne CO2 pro Person und Jahr kommen.
Natürlich schaffen wir das nicht nur über individuelles Verhalten, sondern brauchen auch einen hilfreichen politischen Rahmen. Aber um die Einschnitte in den eigenen Lebensstil ermessen zu können, ist diese Rechnerei doch erhellend.