Fremde Federn

Fahrverbote, Traumatisierungs-Anstalt, Überschuss-Sünder

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Ein Überblick zur Vollgeld-Debatte, was die Treuhand-Privatisierung angerichtet hat und warum man sich den Plattformkapitalismus als Planwirtschaft vorstellen muss.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Immer wieder gefordert, in der Schweiz bald Gegenstand einer Volksabstimmung: das Vollgeld

piqer:
Rico Grimm

„Was macht jeder ordentliche Schweizer, wenn er um die Zukunft der Eidgenossenschaft bangt? Er lanciert eine Volksabstimmung.“ Gut so, möchte ich hinzufügen. Denn die weltweite Debatte um das Grundeinkommen hatte erst dann richtig begonnen, als die Schweizer im Sommer 2016 über die Idee abstimmen sollten. Die Referenden schaffen es immer wieder, Aufmerksamkeit zu bündeln. Ob das bei der Vollgeld-Initiative genauso wird? Es gibt auf jeden Fall – wie beim Grundeinkommen – eine Gruppe von Menschen, die viel Zeit in die Verbreitung der Idee investieren. Worum geht´s?

Die Vollgeldinitiative soll Banken verbieten, Geld zu schöpfen. Gesetzliches Zahlungsmittel soll unter der alleinigen Kontrolle der Schweizerischen Nationalbank stehen.

Warum das in den Augen der Initiatoren der Abstimmung viel Sinn macht – und was die Schweizer Bankenwelt davon hält, beschreibt Leopold Stefan für den Standard, knapp, aber als erster Überblick völlig ausreichend.

Kein Ende des Ölzeitalters in Sicht

piqer:
Nick Reimer

Erdöl ist jener fossile Energieträger, der (in der Regel) die größte Energiedichte besitzt – und damit auch das größte Potential, bei seiner Verbrennung Treibhausgase zu produzieren. Die schwarze, schmierige Flüssigkeit wird deshalb auch gern als „schwarzes Gold“ bezeichnet, was im Zeitalter der menschgemachten Klimaerhitzung natürlich ein Euphemismus ist. Denn mitnichten ist das Ölzeitalter vorbei, wie es nach der Verabschiedung des Paris-Vertrages für den Klimaschutz hieß. Im Gegenteil: Wenn der „Energy Outlook“ stimmt, den der Ölmulti BP alljährlich vorstellt, dann steigt der weltweite Hunger nach „schwarzem Gold“ drastisch weiter an. Die Welt kommt sogar zu dem Schluss:

Gegen Öl und Atomkraft sind Öko-Energien chancenlos

Schlechte Zeiten also für den Klimaschutz: Auch die Internationale Energieagentur erwartet, dass die Ölnachfrage in diesem Jahr um 1,4 Millionen Barrel pro Tag steigt. 1 Barrel (ein Fass) sind 159 Liter, der Ölverbrauch wird 2018 demnach 81,249 Milliarden Liter über dem des vergangenen Jahres liegen. BP gibt für 2016 einen Tagesverbrauch von 96,6 Millionen Barrel an, 1,6 Prozent mehr verglichen mit 2015.

Doch nicht nur der Verbrauch steigt weiter an, sondern auch die Produktion – vor allem wegen den USA. Die Internationale Energieagentur erwartet, dass die Produktion 2018 um täglich 1,7 Millionen Barrel steigt. Die Produktion steigt also um 300.000 Ölfässer mehr an als die Nachfrage. Das macht Öl billig und den Kampf der Erneuerbaren tatsächlich umso schwerer.

Wenngleich der „Energy Outlook“ von BP den Erneuerbaren eine boomartige Ausbreitung prophezeit. So werden erneuerbare Energieträger in den kommenden 20 Jahren „die mit Abstand am schnellsten wachsende Energieart bleiben“, heißt es in dem Bericht: „Ihr Anteil wird sich verfünffachen.“

Aber die Erdöl-Nachfrage dennoch nicht bremsen: Die Experten gehen davon aus, dass die Nachfrage bis mindestens 2030 weiter steigen wird. Und damit auch die weltweiten Emissionen.

Warum tickt Österreich so rechts?

piqer:
Simone Brunner

58 Prozent haben bei den letzten Nationalratswahlen in Österreich Rechtspopulisten gewählt. „Warum tickt das Land so rechts?“, fragen sich viele. Ist es die Politik, ist es der Boulevard? Nein, sagt die österreichische Journalistin Solmaz Khorsand. Es sind die Wähler selbst.

In einem furiosen Text für das Schweizer Crowdfunding-Magazin Republik arbeitet sich Khorsand, die bis zuletzt für die Wiener Zeitung geschrieben hat, am österreichischen Typus ab. Über ein Land, das wohlhabend ist, sich aber gerne kleinlich gibt, das als Exportland von der Globalisierung profitiert, sich aber gerne abschotten würde und in dem Fremden Verlogenheit vorgeworfen wird, während im Land selbst gerne alles bis zur Unkenntlichkeit relativiert und in Watte gepackt wird.

Schon lange habe ich keinen Text mehr gelesen, der so schonungslos und so unbeirrbar klar über Österreich schreibt. Großartig.

Was ist Macht – und wie viel davon darf Google haben?

piqer:
Jannis Brühl

Ein Text, der eine der wichtigsten Fragen der digitalen Demokratie behandelt: Was ist Macht – und wer darf wie viel davon haben?

In die Debatte, ob die größten IT-Konzerne mit dem Kartellrecht eingeschränkt oder gar zerschlagen werden sollen, kommt Bewegung. Dieser Longread aus dem New York Times Magazine erklärt in aller Tiefe, wie schwer es Googles kleinere Konkurrenten haben – aus der Perspektive eines von ihnen, nämlich des britischen Ehepaars Raff.

Die Raffs hatten eine Preisvergleich-Suchmaschine gebaut, aber Googles Super-Filter hielt sie vom Bürger fern. Damit kommt der Artikel dem Kern des Problems sehr nah: Denn das klassische Kartellrecht (insbesondere in den USA) sieht nur dann Probleme, wenn Konsumenten die Nachteile von Machtkonzentration spüren. Und Konsumenten nutzen Google (sowie Facebook und Amazon) ja sehr gerne. Die möglicherweise undemokratische Macht der Konzerne zeigt sich in ihrer Fähigkeit, Konkurrenten gar nicht erst auf den Markt zu lassen. (Im Falle Googles angeblich durch algorithmische Tricks.)

Der Text ist auch ein ungewöhnliches Gründer-Porträt: Denn die Raffs sind als Davids, die Goliath herausforderten, viel mehr geworden als 08/15-IT-Unternehmer. Sie kämpften ein Jahrzehnt gegen den Konzern, auf beiden Seiten des Atlantiks und unter hohen persönlichen Kosten. Der Kampf wurde ihr Lebensinhalt – statt des Start-ups, mit dem sie eigentlich angetreten waren. Nach der überraschend harten Strafe, die die EU-Kommission im Herbst gegen Googele verhängt hat, kann das Ehepaar sich zwar eigentlich als Sieger fühlen – dafür hat es aber einen Teil seines Lebens geopfert.

Der Artikel dekliniert zudem am Fall Microsoft durch, ob es sein Monopol nur wegen Google verlor, oder doch durch ein Kartellverfahren, ob der Staat also überhaupt einen Hebel gegen Software-Monopole hat. (Antwort: Hat er.)

Steigbügelhalter für Autokraten

piqer:
Hauke Friederichs

Sie haben demokratische Regierungen geleitet, Wirtschaftsministerien geführt oder für die Europäische Union wichtige Posten innegehabt: Spitzenpolitiker aus verschiedenen europäischen Ländern verdingen sich nach ihrer Karriere an autoritäre Regime wie Russland, Kasachstan oder die Ukraine. Sie bekommen dafür anscheinend viel Schmerzensgeld. Dennoch sollte diese Praxis verboten werden, fordert Thorsten Benner in einem Gastkommentar für ZEIT Online.

Der Direktor des Global Public Policy Institute (GPPi) in Berlin bringt prominente Beispiele: Alfred Gusenbauer früher Kanzler in Österreich, oder Romano Prodi, ehemaliger italienischer Premier und EU-Kommissionspräsident. Jahrelang setzten sie sich für eine engere Beziehung Europas zur Ukraine ein – so schildern sie ihr Engagement. Tatsächlich sollen sie dafür vom „korrupten Regime des damaligen ukrainischen Präsidenten Janukowitsch“ bezahlt worden sein.

„Die aktuellen Enthüllungen sind nur die Spitze eines Eisbergs. Zunehmend sichern sich nicht demokratische Regime die Dienste ehemaliger westlicher Spitzenpolitiker“, schreibt Thorsten Benner. „Diese machen sich zu Steigbügelhaltern für autoritäre und korrupte Interessen. Sie setzen ihre Kontakte und ihre Glaubwürdigkeit für Regime ein, die für das Gegenteil der Demokratien stehen, in denen sie einst den Amtseid ablegten.“

Es sei höchste Zeit, das zu beenden. Oder wenigstens das zweifelhafte Engagement für Ex-Politiker nach ihren eigentlichen Karrieren zu stören. „Karenzregeln für den Übergang in die Privatwirtschaft“ reichten nicht aus, stellt Benner fest. Wer in einer Demokratie höchste Ämter übernehmen möchte, müsse eine Erklärung unterzeichnen, nicht für in Nicht-Demokratien beheimatete Unternehmen oder autokratische Regime zu arbeiten.

Man muss sich den Plattformkapitalismus als Planwirtschaft vorstellen

piqer:
Michael Seemann

Tobias Haberkorn interviewt den Ökonomen Nick Srnicek, der mit seinem Buch Platform Capitalism die spezifischen Eigenschaften der Ökonomie der Plattformen untersucht. Neben den üblichen Allgemeinplätzen zur Plattformregulierung geht es aber durchaus zur Sache. So werden die Plattformen eben nicht einfach nur als mächtige Riesen, die sich alles erlauben können, gezeichnet, sondern sehr dezidiert gezeigt, wie die Plattformen untereinander immer mehr in Konkurrenz stehen. Es werden gar die „Great Platform Wars“ vorausgesagt. Oder wie angreifbar und fragil das Werbegeschäftsmodell von Google und Facebook in Wirklichkeit ist. Insbesondere aber die Diskussion zu Amazon ist interessant, wo dann die titelgebende Grundprämisse, nämlich, dass wir es noch mit Kapitalismus zu tun haben, ins Wanken gerät. Zitat:

Srnicek: Ja, die Idealvorstellung von Amazon wäre, dass es die Konsumgüter in einem vernetzten Haushalt quasi automatisch nachfüllt. Der Verbraucher sagt etwas oder drückt einen Knopf – oder der Kühlschrank schickt gleich selbst die Nachricht, dass irgendwas fehlt – und dann wird sofort ein passendes Produkt geliefert.

ZEIT ONLINE: Würde man damit nicht das Grundprinzip des Marktes eliminieren, das darin besteht, Käufern eine Wahl zwischen verschiedenen Angeboten zu lassen? Konsum basiert dann weniger auf der Entscheidung von Konsumenten als auf automatisierter Vorsorge. Würden wir überhaupt noch in einem kapitalistischen System leben, wenn es keine Konkurrenz zwischen verschiedenen Angeboten mehr gäbe?

Srnicek: Das ist eine interessante Hypothese. Ich würde sagen, die Konkurrenz findet dann auf der Ebene von Algorithmen statt, nicht mehr auf der von individuellen Entscheidungen.

Wenn es aber nicht mehr Menschen sind, die Preise auf einem Markt aushandeln und die Entscheidungen treffen, ist es dann noch ein Markt? Oder kann das Zusammenspiel von Algorithmen, die in Echtzeit Bedarfe und Angebote miteinander abstimmen, nicht vielmehr als Planwirtschaft bezeichnet werden?

Was radikale Privatisierung in Deutschland angerichtet hat

piqer:
Rico Grimm

Im Buchregal meines Opas standen viele Kreuzworträtsel-Lexika, viele Guinness-Bücher und Garten-Bücher und etwas über Autos und dazwischen zwei Bücher, die durch ihre schiere Ernsthaftigkeit herausstachen: eines über die Geschichte von Carl Zeiss, dem Betrieb, dem er sein ganzes Leben lang angehörte und eines über die Treuhand-Anstalt, die nach dem Mauerfall Tausende Betriebe der ehemaligen DDR privatisierte oder abwickelte. Lange wusste ich nicht, warum mein Opa ausgerechnet ein Buch über die Treuhand im Regal hatte, als eigentlich einziges, das man von vorne bis hinten durchlesen konnte.

Dieser Text hier hat mir, basierend auf einer Studie, bei der Antwort geholfen. Die Treuhand-Privatisierung war die ganz eigene Version der neoliberalen Schocktherapie, die ein Teil Deutschlands hier erlebte.

Man muss sich das einmal vorstellen: Ausschließlich westdeutsche Industriemanager, Unternehmer und Beamte bekommen über Nacht die Verfügungsgewalt über 8.000 ostdeutsche Betriebe mit mehr als vier Millionen Beschäftigten. Sie dürfen entscheiden, welche Firmen geschlossen oder ob Mitarbeitende zu Hunderttausenden entlassen werden. Und die BRD-Regierung unter Kanzler Helmut Kohl nennt das Ganze einen „alternativlosen Einsatz“.

Vier Millionen Beschäftigte! Und die hatten alle nochmal Kinder und Großeltern und Eltern, mit denen sie darüber sprachen, was passierte: Was die Treuhand machte, hat jeder mitbekommen. Mehrere Wissenschaftler haben nun untersucht, was das bedeutete, wie die Menschen im Osten die Privatisierung wahrnahmen:

„Das war die Initialerfahrung von Fremdbestimmung, Kolonialisierung und Unterwerfung“.

Fahrverbote: Die Justiz kümmert sich um Luftreinhaltung, weil die Politik versagt hat

piqer:
Daniela Becker

Sie fahren einen Diesel? Dann sind sie zu Recht sauer. Erst wird Ihnen dieser Antrieb durch Vergünstigungen und Subventionen schmackhaft gemacht und nun das. Gestern hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig den Weg für Diesel-Fahrverbote in Deutschland freigemacht. (Link zur Pressemitteilung)

Es ist die Geschichte eines eklatanten Politikversagens. Jahrelang hat sich der Bund nicht um die Luftqualität gekümmert. Neue Autostraßen wurden gebaut, der Ausbau der E-Mobilität behindert, Rufe nach mehr Fahrrad-Infrastruktur belächelt, die Autoindustrie nach dem Dieselskandal nicht zur Rechenschaft gezogen.

Ergebnis: In fast allen deutschen Großstädten wurde es nicht geschafft, die EU-Grenzwerte für Stickoxide einzuhalten. Die EU-Kommission behält sich deswegen weiterhin vor, den Europäischen Gerichtshof anzurufen.

Und so nahm sich die Deutsche Umwelthilfe (DUH) der Steilvorlage des Diesel-Skandals an. Sie hatte geklagt, um Fahrverbote für Dieselautos erreichen, die die Grenzwerte nur auf dem Papier, nicht aber in der Realität erreichen. Es gibt immer wieder Kritik am Vorgehen der DUH (hier ein Portrait) – aber sicher ist: Schuld an dem jetzigen Schlammassel ist sie nicht.

Das Gericht (hier ein interessantes Portrait des Richters) entschied, dass Fahrverbote ein in Ausnahmefällen rechtlich zulässiges Mittel sind. Eine Ohrfeige für die Bundespolitik, meint dieser Kommentar, der auch das verursachte Chaos beschreibt.

Denn all die Kommunen müssen nun individuell regeln, was die Bundespolitik nicht regeln wollte. Ein ärgerlicher Job.

Die Fokussierung auf Diesel ist beim Thema Luftverschmutzung natürlich viel zu kurz gedacht. Deswegen habe ich diesen Text von Michael Bauchmüller ausgewählt: weil er darauf hinweist, dass es um etwas sehr grundsätzliches geht, nämlich um die Lebensqualität und Gesundheit in Städten.

Wir Überschuss-Sünder

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Eric Bonse

Überschüsse sind gut, Defizite sind schlecht. So denken viele in Deutschland – auch bei den umstrittenen Exporten. Das Schweizer Prognos-Institut hat nun (scheinbar) eine neue Begründung geliefert: Nicht nur die deutsche Wirtschaft, sondern auch die Zulieferer in Osteuropa und andere Partner profitieren von den Ausfuhren „made in Germany“. Allerdings hat die Sache einen Haken.

Die Exporte kommen zwar tatsächlich all jenen zugute, die in der deutschen Wertschöpfungskette hängen. Das Problem sind jedoch die wachsenden Export-Überschüsse. Denn sie zeigen, dass die Importe nicht Schritt halten – und Deutschland unter seinen Verhältnissen lebt. Fehlende Investitionen, eine verrottende Infrastruktur und soziale Spaltung sind die Folge.

Aber was soll man konkret tun, damit es der Binnenwirtschaft besser geht? Die Regierung hätte die Mittel in der Hand: Sie könnte ihre Politik der Haushaltsüberschüsse lockern und mehr Geld für öffentliche Investitionen, für Bildung, für eine Stärkung der dahinsiechenden Rente und anderem ausgeben.

Bisher zeichnet sich dieser Paradigmenwechsel in Berlin allerdings nicht ab. Die SPD fordert zwar mehr Investitionen – an der Politik der „Schwarzen Null“ und der Förderung der Exportwirtschaft will sie jedoch festhalten. Deutschland wird also weiter wachsende Überschüsse produzieren – und den Ärger von US-Präsident Trump sowie Kritik aus dem IWF und der EU auf sich ziehen.

Denn für den Rest der Welt bedeuten deutsche Überschüsse immer neue Defizite – auf Dauer kann das nicht gut gehen. Wie das alles zusammenhängt, erklärt dieser Artikel.