Fremde Federn

Wirecard, europäische Seidenstraße, Juneteenth

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie die IG Metall den deutschen Autolobbyismus stützt, warum die Auswirkungen der Pest noch hunderte Jahre später zu spüren waren und welche Arten der Entwicklungshilfe sinnvoll sind.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Ökonomen schlagen vor: EU-Aufbaugelder für Ultra-Rapid-Zug und europäische Seidenstraße

piqer:
Daniela Becker

Die Regierungschefs der EU-Länder verhandeln derzeit über den Aufbau eines EU-Wiederaufbaufonds in Höhe von 500 Milliarden Euro. Wissenschaftler*innen des Düsseldorfer Instituts für Makroökonomie, des österreichischen Wirtschaftsinstituts WIIW sowie des französischen Instituts OFCE haben Vorschläge vorgelegt, in welche Projekte die EU das Geld fließen lassen sollte.

So fordern die Ökonomen die Einrichtung eines „Ultra-Rapid-Zugs“, der mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 250 bis 350 Kilometern pro Stunde große europäische Metropolen verbinden soll. Eine Strecke soll etwa über Lissabon, Paris, Berlin, Kopenhagen bis nach Helsinki verlaufen. Die Strecke Paris-Berlin würde sich durch den Schnellzug auf rund vier Stunden halbieren, schreiben die Wirtschaftswissenschaftler.

Insgesamt soll es vier solcher europäischen Schnellzugstrecken geben. Deutschland würde dank seiner geografischen Lage im Herzen Europas besonders von dem Aufbau eines solchen Netzes profitieren. Selbst schnelle Zugreisen an den äußersten Rand Europas, etwa nach Süditalien oder ins Baltikum, wären möglich.

Durch den Umstieg vom Flieger auf die Bahn würden sich die CO2-Emissionen um vier bis fünf Prozentpunkte reduzieren, heißt es in der Analyse. Da gleichzeitig mehr Frachtverkehr über den Schienenweg abgewickelt werden könnte, würde dies nochmals die Emissionen im Straßenverkehr drosseln. Kosten würde die 18250 Kilometer lange Strecke demnach rund 1,1 Billionen Euro. Das Schnellverkehrsnetz macht damit allein mehr als die Hälfte des gesamten Investitionsprogramms aus.

Der zweite große Baustein der Infrastruktur-Offensive, den die drei Institute vorschlagen, ist eine „europäische Seidenstraße“ nach chinesischem Vorbild. Die europäische Infrastruktur sei in einem „schlechten Zustand“, konstatieren die Forscher. Eine europäische Seidenstraße biete die Möglichkeit, „die Industriezentren im Westen Europas mit den weniger entwickelten Regionen im Osten zu verbinden“. Deswegen lautet der Vorschlag durchgängige, moderne Handelsrouten von Südfrankreich bis Moskau und von Norditalien bis nach Georgien und Kasachstan zu bauen. Dabei sollen auch neue Hafen- und Logistikzentren entstehen, als auch neue elektrifizierte Autobahnen und Schnellzugverbindungen.

Eine solche „europäische Seidenstraße“ würde zu einem durchschnittlich 3,5% höheren Wirtschaftswachstum führen und über zehn Jahre zwei Millionen Menschen entlang der Route in Beschäftigung bringen, kalkulieren die Forscher.

Die starke Autolobby in der IG Metall

piqer:
Anja C. Wagner

Wie kommt es, dass die Gewerkschaften lautstark für den Erhalt der Automobilindustrie kämpfen, nicht aber für die Arbeitsplätze der Solar- und Windenergie? Warum setzen sie sich nicht vehement für einen ökologischen Umbau der Wirtschaft ein?

Es scheint wohl eher eine Kombination aus Mutlosigkeit und übermäßigem innergewerkschaftlichen Einfluss der Automobil-Betriebsräte zu sein, die die IGM nicht aus den alten Gleisen herauskommen lässt. Jahrzehntelang eingeübtes Co-Management und verbissenes Festhalten an einer von der Gegenseite längst aufgekündigten Sozialpartnerschaft tragen ein Übriges zur politischen Fantasielosigkeit der gewerkschaftlichen Führungsetage bei.

Ja, sie scheinen sich an ihre einflussreichen Buddy-Positionen neben den Unternehmenslenkern gewöhnt zu haben (Frauen sind nicht mitgemeint). Keine zukunftsorientierte Kritik, verbissenes Festhalten an alten Sicherheiten und wenig Lust auf tatsächliche Transformation – diesen Eindruck musste man die letzten Jahre gewinnen. Und erst recht in diesen Tagen.

Man fordert Konjunkturhilfen für die eigene Klientel, damit sie weiter an ihren Verbrennern schrauben können. Dieses partnerschaftliche System ist nicht enkeltauglich. Das ahnte man längst. Jetzt ist es für alle offensichtlich geworden. Sehen wir zu, dass auch diesbezüglich über Alternativen nachgedacht wird!

Wie Pandemien Wirtschaft und Gesellschaft erschüttern können – das Beispiel der Pest (1347 bis 1351)

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Thomas Wahl

Es ist immer gut, einschneidende aktuelle Ereignisse, wie etwa Corona, an der Geschichte zu spiegeln. Zwei Historiker von der University of Virginia, Daniel W. Gingerich und Jan P. Vogler, haben nun in einer Studie die langfristigen Wirkungen der großen Pest nachgezeichnet.

Die durch die Seuche ausgelösten Verwerfungen waren so radikal, dass sie das Ende des Mittelalters und seines ökonomischen Systems einleiteten. … In Gegenden, die massiv von der Pest betroffen waren, kollabierte schlicht das ganze System.

Oft wird die Renaissance als eine Folge der Pest gesehen. Und die Studie meint zeigen zu können, dass sich langfristige Folgen noch im deutschen Kaiserreich des 19. Jahrhunderts nachweisen lassen.

Das Heilige Römische Reich deutscher Nation war eine lose Konföderation aus Hunderten einzelner Fürstentümer, Herzogtümer, Stadtstaaten. Als langfristige Konsequenz lässt sich zeigen, dass noch das Wahlverhalten im neunzehnten Jahrhundert von der Varianz beeinflusst wurde: Parteien, die die Interessen der Eliten vertraten, waren in Gebieten mit historisch starken Pestausbrüchen schwach. Im Gegensatz dazu waren in Gebieten, die weitgehend verschont blieben, die konservativen Parteien des Kaiserreichs extrem stark. Dort hat keine Transformation stattgefunden und die Eliten konnten an ihrer Macht festhalten.

Es entstanden also Gebiete mit unterschiedlichen politischen Zuständen, mit verschieden starken und schwachen aristokratischen Eliten – in der Soziologie als Äquilibriums-Zustände bezeichnet. „Solche „Äquilibria“ reproduzieren sich oft selbst und bestehen für lange Zeit.“ Im Interview mit einem der Autoren werden auch die Parallelen zu heute diskutiert. Sicher kann man eine so monumentale Seuche wie die Pest, die in Europa geschätzt 30–60% der Bevölkerung ausrottete, nicht direkt mit der Moderne vergleichen. Gerade die wohlhabenderen Nationen haben ja gezeigt, wie man mit relativ geringen Opferzahlen durch die Herausforderungen einer globalen Pandemie kommen kann. Aber gewisse Wirkmechanismen sind wahrscheinlich ähnlich.

Die Pest hatte auf die Gesellschaft nicht überall den gleichen Effekt. Vielmehr variierte sie geographisch stark und hat den Westen Europas samt der westlichen Teile des heutigen Deutschlands viel stärker getroffen als etwa den Osten. Dies hat zu unterschiedlichen Folgereaktionen geführt. In den Gegenden, in denen die Pest wütete, kam es zu einem massiven Rückgang an Arbeitskraft. Es ist ja bekannt, dass an den besonders schlimm betroffenen Orten fast die gesamte Bevölkerung ausgelöscht wurde. Hatte es vor der Pest einen Überfluss an Arbeitskraft gegeben, so führte der plötzliche Arbeitskräftemangel dazu, dass sich die ökonomischen Strukturen der mittelalterlichen Gesellschaft nicht länger aufrecht erhalten ließen. Feudalismus und Leibeigenschaft waren die prägenden wirtschaftlichen Institutionen der damaligen Zeit, durch die Folgen der Pest kam es zu ihrer Erosion.

Auch könnten opportunistische Akteure versuchen, Vorteile aus den Krisenprozessen zu ziehen. Wie etwa in der damaligen Pest, wo ganze Bevölkerungsschichten die Krise nutzten, um ihre Schulden bei der jüdischen Bevölkerung los zu werden. Die Juden wurden einfach für die Pest verantwortlich gemacht, verjagt oder gleich getötet. Das ist nicht wirklich direkt mit heutigen Zuständen gleichzusetzen. Allerdings, Klagen über die Schwächung demokratischer Institutionen und Prozesse hören wir schon. Das Resumee am Ende der unbedingt empfehlenswerten Studie lautet jedenfalls:

…. the present combination of high population density and unprecedented global interconnectedness will surely make the next great pandemic all the more destructive when (not if) it does emerge. What the Black Death offers us, at the end, is an important reminder: When the next wave of destruction emerges, the particular set of labor repressive institutions of our contemporary era may be washed away in its wake.

Der Fall Wirecard ist auch ein Fall Deutschland

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Rico Grimm

Wirecard ist eine bayerische Firma aus dem Bereich „Fintech“. Sie stellt allerhand strukturelle Dienstleistungen bereit, um digitale Zahlungen abzuwickeln. Mit diesem Geschäftsmodell wuchs die Firma in atemberaubender Geschwindigkeit, und wurde als einer der wenigen großen deutschen Zukunftsunternehmen zu einen Liebling der hiesigen Finanzszene, inklusive Aufnahme in deutschen Leitindex für Aktien beim Kursstand von fast 180 Euro. Während ich diese Zeilen schreibe, ist eine Aktie noch 25 Euro wert.

Vor ein paar Jahren gab es erste Betrugsvorwürfe von US-amerikanischen Shortsellern (das sind Menschen, die mit fallenden Kursen Geld verdienen). Damals wurde der Vorwurf abgewehrt, der Aktienkurs vervielfachte sich, aber die Gerüchte um Ungereimtheiten verschwanden nie. Zuletzt hatte die britische Financial Times über neue Details berichtet, was die Polizei in Singapur zu Hausdurchsuchungen veranlasste. Wie haben die deutschen Behörden reagiert? Nun, die deutsche Staatsanwaltschaft hat den Journalisten der Financial Times verklagt, und die deutsche Börsenaufsicht hat Leerverkäufe verboten. Gleichzeitig wiesen fast alle professionellen Analysten die Vorwürfe ab.

Eine Schlussfolgerung liegt nahe, und sie muss natürlich wieder ein ausländischer Journalist ziehen: Deutsche Anleger, Behörden und Analysten wollten nicht wahrhaben, was wahrscheinlich war im notorisch undurchsichtigen Geschäft mit digitalen Zahlungen: Es lag Betrug vor.

Wie Wirtschaftsprüfer Milliardenschäden anrichten

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Sven Prange

Dieser Film über die vier größten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften der Welt klingt nicht gerade nach einem Vergnügen. Und er steht auch schon etwas länger in der Mediathek. Aber er ist aus zwei Gründen dennoch jetzt genau richtig: Zum einen, weil der Zusammenbruch des Dax-Konzerns Wirecard zeigt, wie verheerend schludrige Arbeit der großen Wirtschaftsprüfer sein kann (zur Erinnerung: die jetzt bei Wirecard vermissten 1,9 Milliarden Euro wurden erst recht spät von EY und KPMG bemerkt). Zum anderen weil der Film gerade den deutschen Fernsehpreis bekommen hat, und das passiert Wirtschaftsdokumentationen nicht sehr oft.

Hier gelingt es einer ganzen Mannschaft an Autor*innen aber, ein Problem aufzutun, das uns alle betrifft und doch so sperrig ist, dass wir es gerne verdrängen. Im Kern geht es darum: Börsen-Konzerne brauchen eine externe Bestätigung, dass ihre Jahresabschlüsse sauber sind. Das besorgen Wirtschaftsprüfer, im Prinzip vereidigte Sachverständige, die zuvor eine ziemlich harte Ausbildung durchlaufen haben. Das klingt zunächst nach einem einwandfreien Verfahren, ist es aber nicht. Denn im Laufe der Zeit haben sich die einst vielen Wirtschaftsprüferkanzleien munter untereinander zusammengeschlossen, bis im Wesentlichen vier Konzerne übrigblieben, die das Geschäft weltweit unter sich ausmachen: die „Big Four“.

Da diese Big Four aber auch gerne weiterwachsen, eröffneten sich immer größere Beratungssparten. Damit aber erwächst ein Konflikt: Denn welcher Konzern beauftragt schon eine Beratung, deren Prüfungsabteilung dann womöglich Missstände in der Bilanz offenlegt? Weswegen immer mal wieder Geschichten kursieren, dass Wirtschaftsprüfer vielleicht doch nicht so hart prüfen. Die vier Konzerne bestreiten diesen Zusammenhang – können allerdings nicht erklären, warum das Gewerk der Wirtschaftsprüfer eigentlich in allen großen Wirtschaftsskandalen der vergangenen zwei Jahrzehnte eine tragende Rolle spielte. Dieser Film kann’s erklären. Wirtschaftskrimi mit Mehrwert.

Corona und Automatisierung: Wenn zwei Megatrends zum Super-Trend werden

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Ole Wintermann

McKinsey stellt in diesem Beitrag eine Analyse von über 1.000 regionalen Arbeitsmärkten und 285 städtischen Regionen in ganz Europa vor. Zielhorizont der Analyse ist das Jahr 2030. Damit einher geht auch der Versuch, trotz der von Corona dominierten Arbeitsmarktentwicklung einen Blick in die fernere Zukunft der Arbeit zu werfen. Die Automatisierung, die regionale Clusterung von Arbeitsmärkten, der sich verändernde Branchenmix und der demografisch bedingte Rückgang des Arbeitsangebotes stehen im Fokus der Analyse.

Ein Blick zurück auf die letzten 15 Jahre offenbart dabei: Erstens hat der Umfang der Beschäftigung gerade für Hochqualifizierte weiter zugenommen, zweitens hat dieser Anstieg in wenigen hochkonzentrierten Regionen stattgefunden und drittens ist der Grad der Arbeitsmobilität sehr hoch. McKinsey unterteilt die Regionen in Wachstums-, Stabilitäts- und Schrumpfungsregionen. Erstere sind zum Beispiel die Mega-City-Regionen Paris und London, Stabilitätsregionen lassen sich zu 70% in Deutschland finden, letztere sind wiederum v. a. in Osteuropa zu finden.

Dass Wachstumsregionen mit mehr Wohlstand und Innovationen einhergehen, ist hingegen eher eine Binsenweisheit, deren Erwähnung es eigentlich nicht bedurft hätte. Erstaunlicher mutet dagegen aber schon das reale Zusammenwachsen der europäischen Arbeitsmärkte an, das in den Zahlen ganz deutlich zu sehen ist:

„The number of working-age Europeans who live and work in another European country doubled from 2003 to 2018, from fewer than eight million (2.3 percent of the total working-age population) to 16 million (4.8 percent).“

Leider wird Corona schätzungsweise jeden 4. Arbeitsplatz in ganz Europa auch nach Beendigung der restriktiveren Maßnahmen des Lockdowns negativ beeinträchtigen. Sei es durch ein reduziertes Gehalt, verkürzte Arbeitszeiten oder durch negative Auswirkungen auf Sektoren wie bspw. den Tourismus. Da gleichzeitig infolge der Automatisierung aber sowieso schon jeder 4. Job in Europa bedroht gewesen ist, ergibt sich durch die Überlappung von Automatisierung und Corona eine beträchtliche Schnittmenge von 24 Millionen Jobs, die durch das Zusammentreffen beider Trends mittelfristig bedroht sind. Diese Jobs werden ausgerechnet von den eher geringer qualifizierten Arbeitskräften ausgeübt, die nun auch von der Pandemie besonders stark betroffen sind. Dazu kommt dann noch einmal – sich bis 2030 verstärkend – die negative Demografie. Besonders in Deutschland, Polen und Italien sinkt das Arbeitsangebot bis 2030 um bis zu 9% und stellt somit eine große Hürde dar, wenn es darum geht, zur Abmilderung der Folgen der Branchenveränderungen Arbeitskräfte und neue Kompetenzanforderungen zueinander zu bringen.

Spannend ist, dass v. a. soziale Arbeit, Arbeit im Gesundheitssektor und der Bildungssektor in ihrer quantitativen Bedeutung – neben technischen und wissenschaftlichen Jobs – zunehmen werden. Büro-Tätigkeiten und die Arbeit in der Produktion werden hingegen die hauptsächlichen Verlierer der Veränderungen bis 2030 sein. Unabhängig von den Branchen werden in erster Linie technische Kompetenzen gefragt sein:

„Activities that require technological skills will grow in all industries, creating even more demand for workers with STEM skills (increasing 39 percent), who are already in short supply.“

Job-Wachstum wird geografisch gesehen dort zu finden zu sein, wo auch heute schon starke Wachstums-Hubs existieren. Dementsprechend sehen die Autoren der Studie auch die Lösung der erkennbaren perspektivischen Probleme in erhöhter Arbeitsmobilität, in systematischer Weiterbildung, der Öffnung der Arbeitsmärkte, auf denen Knappheit des Arbeitsangebotes herrscht, der Erhöhung der Erwerbsbeteiligung in allen Gruppen der Gesellschaft sowie ausgeprägten regionalen Entwicklungsstrategien in schrumpfenden Regionen.

Bei aller Klarheit der Aussagen darf aber nicht vergessen werden, dass diese Arten der Analyse immer lineare Fortschreibungen von Ist-Zuständen sind. So ist zum Beispiel schon heute erkennbar, dass das Konzept der Metropolen zunehmend infrage gestellt wird, da hohe Mieten für Wohnungen und Büros, hohe Umwelt- und Stressbelastungen, lange Pendelzeiten Realitäten sind und die gleichzeitig durch Corona in den Fokus gerückte Möglichkeit für Millionen von Menschen, außerhalb tradierter Bürowelten zu arbeiten, zur realen Option geworden ist. Dies kann den Drang in die Städte durchaus beträchtlich abmildern und die Ergebnisse einer solchen Studie als solches hinterfragen.

Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Mode(-industrie)

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Natalie Mayroth

Weltweit hat die Pandemie Volkswirtschaften zugesetzt, hart getroffen sind vor allem Entwicklungsländer wie Bangladesch oder Indien – Länder, in denen nicht nur unsere Kleidung produziert wird, sondern wie im Letzteren, in dem die dafür benötigte Baumwolle wächst.

Dass die Modebranche nicht immer gut wegkommt, v.a. wenn es um die Produktionsbedingungen in den sogenannten Emerging Economies geht, ist nicht neu. Doch wie sehr die Pandemie und die Rücksichtslosigkeit von Firmen (aka stornierte Kollektionen und nicht abgenommene Ware) sich negativ auswirkt, darüber müssen wir sprechen. In der WOZ gebe ich einen Einblick in das Geschehen in Indien. Anja Utfelds Film ‚Wie die Modebranche leidet‘ beginnt dagegen in Deutschland und zeigt, dass unverkaufte Kleidung zum Teil entsorgt wird, statt sie zu spenden, weil es günstiger ist. 

In der Pandemie wurden nicht nur Kollektionen storniert, auch die Altkleider-Sammlungen quellen über … und was nicht mehr tragbar ist, geht nach Osteuropa und Afrika.

Wie es den ArbeiterInnen in Bangladesch geht, erfährt man auch. Ob das Lieferkettengesetz in Deutschland, ein Versuch die Bedingungen der ArbeiterInnen in den Produktionsländern zu verbessern, nun kommt, steht noch aus.

Brunnen bohren in Afghanistan: Wie sinnvoll war die internationale Hilfe?

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Lars Hauch

Afghanistan ist seit dem Krieg 2001 eine Tummelwiese für internationale Geber, Hilfsorganisationen und Co. Auch der Einsatz der Bundeswehr wurde in Deutschland in diesem Sinn geframed: Brunnen bohren statt kämpfen.

Aber die Initiativen umfassten weit mehr als Brunnenbau. Afghanistan sollte völlig neu aufgestellt werden: Durch gender-sensible, gute Regierungsführung. Durch nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung, großangelegte Anti-Korruptionsmaßnahmen und einen starken Rechtsstaat.

18 Jahre später braucht es eine gesellschaftliche Debatte über Sinn, Zweck und Erfolg der Bundeswehrmission und begleitender humanitärer Hilfe. Hilfreich dafür ist eine Meta-Review, in Auftrag gegeben vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Meta-Review heißt soviel wie: Man schnappt sich einen großen Haufen von Evaluationen aus aller Welt und analysiert auf dieser Grundlage, wie erfolgreich die internationalen Bemühungen in Afghanistan waren.

Fazit:

Die Ergebnisse der Meta-Review stimmen sehr nachdenklich, sie sind unbequem für die internationale Gebergemeinschaft und das ist positiv zu bewerten. Denn vor allem sollten wir die Meta-Review als eine großartige Chance begreifen, selbstkritisch Lehren zu ziehen und zu lernen. Für alle internationalen Geber gilt es, sich zukünftig und im kommenden Friedensprozess besser abzustimmen. Dazu gehört auch, realistischere und verbindliche Ziele zu setzen und mehr Wert auf Wirksamkeit und Nachhaltigkeit zu legen.

Der große Wurf sei nicht gelungen, resümiert die Untersuchung. Komplexe Projekte, die auf Verhaltensänderungen der Menschen und den Aufbau institutioneller Kapazitäten in der afghanischen Verwaltung abgezielt hätten, seien mehr oder weniger gescheitert.

Recht gut funktioniert hätten hingegen lokal eingebettete Projekte mit unmittelbarem, greifbarem Nutzen für die Bevölkerung. Womit wir wieder beim Brunnen angekommen wären.

Weltweites Medienvertrauen sinkt, junge Menschen halten Journalismus weniger für notwendig

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Alexander Sängerlaub

Mal eine beunruhigende Zahl vorweg: Während 88% der älteren Befragten unabhängigen Journalismus noch für eine notwendige Instanz in der Demokratie halten, sagen das unter den jüngeren nur noch 56%. Diese und viele andere spannende Zahlen, liefert der diesjährige Digital News Report von Oxford und Reuters. Die sehr schicke und mit vielen hilfreichen Grafiken aufbereitete Studie ist im Grunde der spannendste jährliche Bericht über die Zukunft und Vergangenheit unserer weltweiten Medienlandschaft.

Dieses Jahr lag der Fokus auf gleich drei Themen: die Besonderheiten der Mediennutzung während der Corona-Krise (klassische Medien haben ein großes Comeback erlebt), ob mehr Leute gewillt sind, für journalistische Inhalte zu zahlen (in Deutschland stieg die Zahl von 8 auf 10%) und wen Menschen für Desinformation verantwortlich machen (in BRA & USA vor allem die Politik).

Der Großteil der Befragungen lief dabei im Januar/Februar ab, sodass Corona noch nicht so richtig in den Befragungszeitraum der 40 Länder fällt. Daher gab es im April noch einmal eine Nachbefragung in sechs Ländern. Inwiefern das in diesen gestiegene Medienvertrauen im April in der Krise wirklich nachhaltig ist, sehen wir dann erst im Digital News Report 2021.

Sonst steckt einfach im Bericht zu viel drin, als dass ich es hier alles unterbekomme. Daher ein paar sehr spannende Zahlen für euch im Überblick, den Rest könnt ihr dem Report entnehmen:

  • Die Angst vor Mis- und Desinformationen bleibt hoch, über die Hälfte der Befragten sagt, dass sie Schwierigkeiten hätten einzuschätzen, ob etwas wahr oder falsch ist, wenn es um Online-Nachrichten geht. Facebook bleibt Problembär No. 1, aber auch WhatsApp nehmen die Menschen als „Superspreader“ von Desinformation wahr.
  • Das weltweite Medienvertrauen sinkt um vier Prozentpunkte auf 38%, sogar weniger als die Hälfte (46%) der Befragten gibt an, dass sie den Nachrichten trauen, die sie selber konsumieren.
  • Dabei wünscht sich ein Großteil (60%) neutrale und objektive Nachrichten, nur ein knappes Drittel (28%) wünscht sich Nachrichten, welche die eigene Meinung unterstützen.
  • Interessant ist auch, dass sich die Mehrheit (52%) der Befragten ein Eingreifen der Plattformen wünscht, um Falschinformationen kenntlich zu machen. Auch der komplette Bann politischer Werbung, die inakkurat ist, durch die Social-Media-Plattformen/Suchmaschinen wird befürwortet (58%).
  • Ebenso spannend sind die Zahlen zu bedeutenden Themen: fast 7 von 10 Befragten sehen den Klimawandel als bedeutendes Problem. Größere Minderheiten, die dem ablehnend gegenüberstehen, gibt es nur in Schweden, den USA und Australien (und die sind oft älter, oft rechter).

Sonst gibt es noch ein paar „Gimmicks“, die es lohnt, zu erwähnen: natürlich die Executive Summary als Zusammenfassung der Ergebnisse, die Daten für die einzelnen Länder und Medienmärkte, als auch ein interaktives Tool, in dem man sich eigene Grafiken basteln kann. Noch viel besser kann man eigentlich wissenschaftliche Ergebnisse nicht präsentieren.

Juneteenth und die Geschichte eines Geflüchteten in den USA

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Michaela Maria Müller

Juneteenth ist der Gedenktag zum Ende der Sklaverei in den USA. In Texas ist er es seit 1980 offiziell, seit diesem Jahr auch in New York und Virginia. Nach den zurückliegenden Ereignissen hat er eine besondere Symbolkraft.

In der New York Review of Books beschreibt Mohamed Abdulkadir Ali, der als Kind mit seiner Familie vor dem Bürgerkrieg aus Somalia flüchtete und in die USA kam, welche Erfahrungen er aufgrund seiner Hautfarbe machte und wie sie im Gegensatz zu dem standen, was er bisher erlebt hatte:

In Somalia, my blackness was like the blueness of the sky: it was always there, an immutable fixture in the world, and so there was no reason to dwell upon it. Why would I?

Bald wird ihm klar, welche Rolle Schwarze in der Gesellschaft haben. Er schließt die Highschool ab und beginnt ein Jura-Studium, versucht aber immer unter Somalis zu bleiben, um nicht zu den Schwarzen in den USA zu zählen:

And so we encased ourselves in our Somali identity, as a shield against becoming black in America. In high school, there was a Somali table at the cafeteria. Later, in college, I remember sitting in the library, a group of five or six other Somali students huddled around me, filling out the paperwork for what would be the first Somali Student Association at our university.

Vor einem Vorstellungsgespräch in New York, für das er aus Boston anreist, wird er unvermittelt auf der Straße von einem Polizisten verprügelt.

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie die IG Metall den deutschen Autolobbyismus stützt, warum die Auswirkungen der Pest noch hunderte Jahre später zu spüren waren und welche Arten der Entwicklungshilfe sinnvoll sind.

Er entschließt sich, wieder in seine Heimatstadt Mogadischu zurückzukehren.

I am Somali, I am African, I am a refugee of war. This is my history. But every time I go out my door in America, a 400-year history of generational pain, anger, and trauma is foisted upon me. It has weighed down every step I’ve taken there. It made me stumble when I sought to stride.