Analyse

Wieso eine hohe Ungleichheit das Risiko von Finanzkrisen steigen lässt

Die These, dass die steigende Einkommensungleichheit in den USA eine der tieferen Ursachen der Finanzkrise ab 2008 war, ist in den akademischen und wirtschaftspolitischen Debatten mittlerweile fest verankert. Doch welchen Zusammenhang gab es tatsächlich zwischen den Verschiebungen in der Einkommensverteilung und dem Aufbau makroökonomischer Ungleichgewichte? Eine Analyse von Jan Behringer und Till van Treeck.

Ein traditionelles Problem in der Makroökonomie liegt in der Frage, wie bei hoher bzw. stark steigender Einkommensungleichheit eine hinreichend große Nachfrage generiert werden kann, um die gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten auszulasten und einen entsprechend hohen Beschäftigungsstand zu gewährleisten. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Entwicklung des privaten Konsums, der in reichen Ländern typischerweise zwischen 60 und 70% des Bruttoinlandsprodukts ausmacht: Wenn sich im Zuge steigender Ungleichheit die Einkommen der breiten Masse der Bevölkerung nur schwach entwickeln, droht entweder eine Überschuldung der privaten Haushalte, wenn die unteren Einkommensgruppen ihren Konsum kreditfinanziert hochhalten, oder ein gesamtwirtschaftlicher Nachfrageausfall.

Die These, dass die steigende Einkommensungleichheit in den USA eine der tieferen Ursachen der Finanzkrise ab 2008 war, ist in den akademischen und wirtschaftspolitischen Debatten mittlerweile fest verankert. Besondere Aufmerksamkeit in der breiteren Öffentlichkeit erlangte diese Hypothese durch den 2010 veröffentlichten Bestseller „Fault Lines“ von Raghuram Rajan. In einer kürzlich erschienenen Arbeit haben wir nun empirisch untersucht, welchen  Zusammenhang es zwischen den Verschiebungen in der Einkommensverteilung in den Vorkrisenjahrzehnten und dem Aufbau makroökonomischer Ungleichgewichte gab.

Ungleichheit als Krisenursache?

Der vermutete Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und Finanzkrise kennt verschiedene Varianten, deren gemeinsamer Kern sich aber wie folgt zusammenfassen lässt: Seit Beginn der 1980er Jahre ist die Einkommensungleichheit in den USA stark gestiegen, insbesondere am obersten Ende der Einkommensverteilung. Die darunter liegenden Einkommensgruppen konnten ihre relativen Kaufkraftverluste aber durch längere Arbeitszeiten, geringere Ersparnis und höhere Verschuldung teilweise kompensieren. Der Zugang zu Krediten für Konsumenten selbst mit zweifelhafter Bonität wurde durch deregulierte und „innovative“ Kreditmärkte ermöglicht, aber auch durch die direkte politische Förderung von Immobilienkrediten und eine expansive Geldpolitik. Ohne die hohe Konsumorientierung und Kreditaufnahme aller Einkommensgruppen unterhalb der Spitzenverdiener wäre das Wirtschaftswachstum demnach geringer und die Arbeitslosigkeit höher gewesen.

Allerdings hat die Überschuldung der privaten Haushalte maßgeblich die Gefahr einer privaten Schuldenkrise erhöht, die sich schließlich in der Großen Rezession ab 2008 realisierte. Eine ganz ähnliche Entwicklung lässt sich für Großbritannien und einige andere Länder insbesondere im angelsächsischen Raum feststellen, die im Vorfeld der Krise ebenfalls einen starken Anstieg der Spitzeneinkommen und der privaten Verschuldung erlebten:

Quelle: Jan Behringer & Till van Treeck: Income distribution and the current account (2018)

Aus dem kreditfinanzierten privaten Nachfrageboom resultierten in diesen Ländern zunehmende Finanzierungsdefizite der privaten Haushalte und Leistungsbilanzdefizite, welche zunächst problemlos über die internationalen Finanzmärkte finanziert werden konnten, dann aber mit zur weltweiten Finanzkrise ab 2007 beitrugen.

Einkommensverteilung und Leistungsbilanz-Ungleichgewichte

In einer Reihe weiterer Länder wie China, Deutschland und Japan ist es in den Jahren vor der Krise ebenfalls zu deutlichen Verschiebungen in der Einkommensverteilung hin zu mehr Ungleichheit gekommen, allerdings gingen diese mit einer relativ schwachen binnenwirtschaftlichen Entwicklung und zunehmenden Exportüberschüssen einher. Kumhof et al. (2012) argumentieren, dass in China und anderen Schwellenländern unterentwickelte heimische Finanzsysteme den unteren Einkommensgruppen den Zugang zu Krediten erschwerten, weswegen der Anstieg der Einkommensungleichheit in diesen Ländern mit einer Schwächung des privaten Konsums und nicht mit höherer Verschuldung einherging. Die reichen Haushalte, die von der Umverteilung profitierten, erwarben daher in zunehmendem Maße ausländische Finanztitel, weil sie ihre gestiegenen Ersparnisse im Inland nicht attraktiv anlegen konnten.

In Deutschland und Japan ist der Anteil der sehr hohen Einkommen an den gesamten Haushaltseinkommen (Topeinkommensquoten) weniger stark gestiegen als in den angelsächsischen Ländern. Während in den USA oder Großbritannien die Unternehmen ihre steigenden Einnahmen unter dem Druck der „Shareholder Value-Orientierung“ und des „Markts für Manager“ an die Spitzenverdiener innerhalb des Haushaltssektors weitergegeben haben, hat der Unternehmenssektor in Deutschland seine während der 2000er Jahre explodierenden Gewinne in hohem Maße einbehalten und seitdem sogar anhaltende Finanzierungsüberschüsse gebildet:

Quelle: Jan Behringer & Till van Treeck: Income distribution and the current account (2018)

Die damit einhergehende schwache Entwicklung der Lohn- bzw. Haushaltseinkommen (und die im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern geringeren Möglichkeiten zu kreditfinanziertem Konsum) werden von vielen Ökonomen als eine Ursache für die schwache binnenwirtschaftliche Entwicklung und die hohe Exportabhängigkeit der deutschen Volkswirtschaft angeführt. Eine hohe Einkommensungleichheit kann somit über die skizzierten Nachfrageeffekte zu globalen Ungleichgewichten im Außenhandel beitragen und die Wahrscheinlichkeit von Finanzkrisen erhöhen.

In unserer Untersuchung zeigen wir anhand einer Panelanalyse für 20 Länder und für den Zeitraum 1972-2007, dass ein Anstieg der personellen Einkommensungleichheit (Anteil der Spitzeneinkommen an den Haushaltseinkommen) tendenziell mit einem Rückgang des Leistungsbilanzsaldos verbunden ist. Unsere bevorzugte Erklärung dafür ist, dass in Ländern mit stark steigender personeller Ungleichheit die Mittelschicht mit geringeren Ersparnissen reagiert hat. Dagegen trägt ein Rückgang der Lohnquote (Anteil der Arbeitseinkommen an den Volkseinkommen) unter Berücksichtigung bekannter anderer Einflussgrößen zu einem Anstieg des Leistungsbilanzsaldos bei. In Ländern mit stark steigendem Anteil der Gewinne am Volkseinkommen haben die privaten Unternehmen tendenziell ihre Ersparnis erhöht und somit die Binnennachfrage gebremst.

Implikationen für die Verteilungsforschung

Interessanterweise sind dabei die Spitzenhaushaltseinkommen besonders in solchen Ländern stark gestiegen, in denen sich die Lohnquote relativ positiv entwickelt hat. Umgekehrt ist die Lohnquote besonders dort stark gefallen, wo der Anteil der Spitzenhaushaltseinkommen sich kaum verändert hat. Eine Erklärung hierfür ist, dass die Managergehälter – welche insbesondere in den angelsächsischen Ländern erheblich zugenommen haben – statistisch als Lohneinkommen erfasst werden, während einbehaltene Unternehmensgewinne keine Haushaltseinkommen sind.

Diese Feststellung ist auch im Zusammenhang mit der Diskussion um die Entwicklung der Einkommensverteilung in Deutschland wichtig, welche sich häufig einseitig auf Maße der personellen Einkommensverteilung beschränkt. Denn wenn etwa der deutsche Mittelstand hohe Unternehmensersparnisse anhäuft, werden diese Einkommen zwar nicht als Spitzenhaushaltseinkommen erfasst, sie implizieren aber natürlich dennoch eine gestiegene Ungleichheit, weil die Unternehmensersparnisse ungleicher verteilt sind als die Arbeitseinkommen.

Implikationen für die Nachfragetheorie

Unsere Ergebnisse sind zwar empirischer Natur, allerdings sind sie auch in theoretischer Hinsicht interessant. Während nach traditionell neoklassischer Sicht die Einkommensverteilung keinen Einfluss auf die aggregierte Nachfrage und auf die Leistungsbilanz haben sollte, geht die traditionell keynesianische Sicht von einem positiven Zusammenhang zwischen Ungleichheit und aggregierter Sparquote aus, weil bei steigender Ungleichheit die einkommensstarken Gruppen profitieren, die verhältnismäßig viel sparen. Demgegenüber prognostiziert die – in den Wirtschaftswissenschaften lange vernachlässigte – Relative Einkommenshypothese, dass die unteren Einkommensgruppen bei steigender Ungleichheit unter Druck geraten, ihre Ersparnis zu senken. Dieser Mechanismus scheint insbesondere für die USA relevant zu sein, wie auch verschiedene mikroökonometrische Arbeiten zeigen.

Weil in den USA viele Bereiche der Daseinsvorsorge (Bildung, Gesundheit, Verkehr, Wohnen usw.) zu großen Teilen privat finanziert werden, sind diese in hohem Maße Bestandteil von sozialen Statusvergleichen. Wenn etwa die obersten Einkommensgruppen in Folge eines gestiegenen Einkommens mehr Geld für Wohnen oder die Bildung ihrer Kinder ausgeben, sehen sich die nun vom sozialen Abstieg bedrohten Einkommensgruppen vor einem schwierigen Zielkonflikt: Wenn sie nachziehen und ebenfalls ihre Ausgaben erhöhen, damit sie weiterhin in den besseren Wohnvierteln leben und ihre Kinder die besseren Schulen besuchen können, können sie nicht mehr so viel fürs Alter sparen, wie es eigentlich (ohne Konsumexternalitäten) ihren Präferenzen entspräche. Zudem müssen sie einen Anstieg der Verschuldung in Kauf nehmen, wenn die gestiegenen Ausgaben nicht aus dem laufenden Einkommen finanziert werden können. Das Problem ist natürlich, dass, wenn alle in ähnlichem Maße mehr arbeiten und mehr Geld für Statusgüter ausgeben, zwar Konsum, Arbeitsvolumen und Verschuldung steigen, aber letztlich niemand nachhaltige Statusgewinne erzielt.

In Deutschland gab es für die Mittelschicht weniger Anlass zur Absenkung der Ersparnis, da die Einkommen und der Konsum der Spitzenverdiener angesichts der hohen Unternehmensersparnis deutlich weniger stark angestiegen sind als etwa in den USA. Darüber hinaus dürfte die weitgehend öffentliche Finanzierung der Daseinsvorsorge in Deutschland den Druck auf die Haushalte, „über ihren Verhältnissen zu leben“, abgemildert haben. Jedoch waren in Deutschland viele Haushalte in der Mittelschicht durch die Arbeitsmarkt- und Rentenreformen zu Beginn der 2000er Jahre sowie durch den Anstieg der Ungleichheit in der unteren Hälfte der Verteilung stark verunsichert, was zu vermehrtem Vorsichtssparen führte.

Gleichmäßigere Einkommensverteilung für stabileres Wachstum

Unsere Forschung liefert weitere Anhaltspunkte dafür, dass Verschiebungen in der Einkommensverteilung zur Entstehung von nicht nachhaltigen Wachstumsmodellen in verschiedenen Ländern beigetragen haben. Die Entwicklung der Ungleichheit und ihre gesamtwirtschaftlichen Wirkungen hängen dabei entscheidend von länderspezifischen Institutionen ab. Während das US-amerikanische Modell in den letzten Jahrzehnten durch stark steigende Spitzenhaushaltseinkommen geprägt war, zeigen die üblichen Maße für die personelle Einkommensverteilung für Deutschland eine weniger dramatische Entwicklung auf. Hierzulande sind vielmehr die stark steigenden (einbehaltenen) Unternehmensgewinne, die nicht in Statistiken zur Einkommensungleichheit erfasst werden, ein Grund für die schwache Entwicklung der Masseneinkommen.

Das kreditfinanzierte Wachstumsmodell wichtiger Leistungsbilanzdefizitländer wie den USA oder Großbritannien hat sich mit der Krise ab 2007 als nicht nachhaltig erwiesen. Zukünftig wird hier eine stabile Entwicklung des privaten Konsums nur mit entsprechenden Zuwächsen bei den Masseneinkommen zu erreichen sein. Auch das deutsche Exportüberschussmodell mit seinen strukturellen Finanzierungsüberschüssen im Unternehmenssektor ist inhärent instabil. Die Korrektur von Fehlentwicklungen in der Einkommensverteilung wird daher eine wichtige Rolle bei der Suche nach einem nachhaltigen Wachstumsmodell spielen müssen.

 

Zu den Autoren:

Jan Behringer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Referat Steuer- und Finanzpolitik des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung.

Till van Treeck ist Geschäftsführender Direktor am Institut für Sozioökonomie der Uni Duisburg-Essen.

 

Hinweis:

Die diesem Beitrag zugrundeliegende Studie finden Sie hier.