Die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) hat es zur Zeit schwer. Die Umweltorganisation Greenpeace hatte am 2. Mai Verhandlungspapiere geleakt, die an sich wenig Neues beinhalteten: Die Dokumente enthüllten Details der US-Verhandlungspositionen, die im Wesentlichen erwartbar waren. Aber das hielt die Süddeutsche Zeitung nicht davon ab zu behaupten, dass die Realität der Verhandlungen die dunklen Ahnungen der TTIP-Skeptiker noch überträfe.
Teilweise wegen der Leaks und der größtenteils einseitigen Medienberichterstattung ist die deutsche Unterstützung für das transatlantische Abkommen weiter gesunken. 70% der Deutschen erwarten inzwischen, dass TTIP Nachteile bringen würde. Auch in anderen Ländern schwindet die Unterstützung. Eine Kampagne in den Niederlanden hat inzwischen 100.000 Unterschriften für eine Petition für ein TTIP Referendum gesammelt. Währenddessen fühlen sich französische Politiker genötigt, ihre Skepsis immer offener zu artikulieren. Präsident Francois Hollande wurde mit den Worten zitiert: „An diesem Punkt [der Verhandlungen] sagt Frankreich ‚Nein‘.“
Die TTIP-Kritiker schütten das Kind mit dem Bade aus. Fangen wir mit den Ideen an, die hinter der verstärkten Handelskooperation zwischen der EU und den USA stecken. Ein freierer Handel und ein großer atlantischer Markt können die Produktivität und somit auch das Einkommensniveau steigern. Die Kooperation zwischen Europa und den USA bei der Regulierung von Produkt- und Arbeitsmärkten kann dabei helfen, diese Regulierungen zu verbessern und die Tür für höhere globale Standards öffnen. Eine solche globale Benchmark würde anderen Ländern starke Anreize bieten, diesen zu folgen, und sich stärker an das westliche Modell einer marktbasierten Wirtschaft, sowie an demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien zu binden.
Der harte Kern der Anti-TTIP-Bewegung wird von keiner dieser Ideen umgestimmt werden und das Abkommen unabhängig von seinem Inhalt bekämpfen. Aber es gibt eine europäische Öffentlichkeit, die für eine konstruktive Handelsdebatte offen ist. Das Problem ist, dass sich die Politik weiterhin damit schwertut, diese Ideen hinter TTIP zu erklären. Und solange sie es nicht schafft, eine breitere Öffentlichkeit von den Vorzügen von TTIP zu überzeugen, dürfte kein europäischer Politiker, nicht einmal Angela Merkel, das politische Kapital haben, das Abkommen zu retten.
Der erste Schritt besteht darin, ehrlich über die Handelspolitik früherer Tage zu reden. Die Unterstützer des Freihandels haben oft dessen negative Folgen heruntergespielt – etwas, was Ökonomen schon immer anerkannt haben, wenn auch zu selten öffentlich. Das fällt den TTIP-Befürwortern jetzt auf die Füße. Wenn die europäischen Politiker das öffentliche Vertrauen wiederherstellen wollen, müssen sie die Defizite der früheren Handelspolitik deutlich ansprechen und zeigen, wie und warum TTIP diese Fehler nicht wiederholt.
So haben zum Beispiel zwei kürzlich erschienene Studien (hier und hier) herausgefunden, dass die US-Wirtschaft zwischen 1999 und 2011 2,4 Millionen Arbeitsplätze wegen des Wettbewerbs mit China verloren hat. Zudem erlitten diejenigen Arbeiter, die ihren Beruf wegen des intensiveren Handels wechseln mussten, Reallohneinbußen von 15%. TTIP würde keine ähnlichen Auswirkungen für Arbeiter in der EU und den USA haben – es wird erwartet, dass TTIP keine größere Verlagerung von Arbeitsplätzen verursachen würde. Aber einige Länder in der EU würden mehr profitieren als andere.
Die ökonomischen Auswirkungen von TTIP auf die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten
Die Auswirkungen auf kleine und mittlere Unternehmen (KMUs) sind ebenfalls nicht eindeutig: KMUs werden von einem leichteren Zugang zum US-Markt und zu öffentlichen Aufträgen, niedrigeren Zöllen und einer einheitlicheren Regulierung profitieren. Gleichzeitig begünstigt ein größerer Markt aber gewöhnlich größere Unternehmen und führt zu Firmenfusionen.
Es ist für die Volkswirtschaft und die Konsumenten positiv, größere und effizientere Firmen zu haben, die in der Lage sind, Skaleneffekte zu generieren und Preise zu reduzieren. Aber europäische KMUs müssten sich an den stärkeren Wettbewerb anpassen, expandieren und investieren, oder fusionieren – und die europäische Politik müssten ihnen dabei helfen, Wachstumshindernisse zu beseitigen.
TTIP und der Klimaschutz
Ein weiteres Beispiel für die potentiellen negativen Konsequenzen des Handels ist der Klimawandel. Der Handel selbst führt laut den meisten Studien zu einem höheren CO2-Ausstoß. Zudem sind Konsumenten in Europa und den USA ein wichtiger Faktor für die CO2-Emissionen in anderen Ländern – besonders in Russland, China und Indien, deren Exporte einen hohen CO2-Anteil aufweisen, wie der folgende Chart zeigt:
CO2-Anteil von Importen und Exporte
TTIP wird die CO2-Emissionen nicht gravierend erhöhen – aber das Abkommen bietet die Möglichkeit, das Problem, wie Klimawandel und Handel zu vereinbaren sind, anzugehen. Ein zukunftsweisender Klimaschutzteil innerhalb von TTIP würde ein starkes Signal an die europäische Öffentlichkeit senden, dass das Abkommen wichtige Themen angeht.
So könnte es etwa Pläne für ein gemeinsames atlantisches Emissionshandelssystem oder gemeinsame Standards für Energie- und Transportmärkte enthalten. Noch mutiger wären Pläne, Wettbewerbsgleichheit für EU- und US-Produzenten gegenüber Produzenten in anderen Ländern herzustellen, die CO2-Emissionen derzeit nicht bepreisen – ein hoch kontroverses Thema im Welthandel. Eine Option bestünde darin, eine Einfuhrabgabe für CO2-Emissionen einzuführen, etwa durch die Besteuerung von Importen auf Basis ihres CO2-Gehalts. Momentan versucht die EU noch, energieintensive europäische Produzenten durch die Zuteilung von freien Zertifikaten zu kompensieren.
Europa könnte bei der Regulierung sogar etwas von den USA lernen
Der zweite Schritt, um die Ideen hinter TTIP zu retten, sollte die Etablierung eines offenen und transparenten atlantischen Dialogs sein, der sich damit beschäftigt, wie die Produkt- und Arbeitsmärkte am besten mit Blick auf die Gesundheits-, Sicherheits- und Umweltstandards sowie auf die Arbeitnehmerrechte reguliert werden können. In diesen Prozess sollten die Parlamente und die Zivilgesellschaft einbezogen und ein reger Austausch mit Vertretern der Medien und der Wissenschaft erfolgen. Die EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström hat immer wieder betont, dass „Standards zu senken nicht zu ihren Aufgaben gehört“ und das EU-Verhandlungsmandat untermauert das. Aber der Öffentlichkeit fehlt offenbar das Vertrauen.
Eine atlantische Kooperation bei der Regulierung ist an sich nichts Neues. 2009 vereinbarten die USA und die EU ein bilaterales Flugsicherheitsabkommen. Die Regulierungsbehörden der USA und der EU akzeptieren demnach die jeweiligen Prüfsiegel des anderen für Flugzeuge. Da sowohl Europa als auch die USA sehr starke Präferenzen für eine sichere Luftfahrt haben, ist es nicht überraschend, dass beide Seiten der Meinung waren, dass der andere einen ausreichend guten Job macht, um die Sicherheit der Flugzeuge zu gewährleisten.
Es gibt nur wenige europäische oder amerikanische Bürger, die ein anderes Sicherheitsgefühl haben, wenn sie anstatt in einer Boeing in einem Airbus sitzen. Bei TTIP geht es darum, weitere Bereiche zu finden, in denen es ähnliche Präferenzen gibt. Die Luftfahrt dagegen hat ihr eigenes „TTIP“ schon jetzt.
Im Gegensatz zu der in Europa weitverbreiteten Meinung haben die USA nicht generell niedrigere Standards, sondern sind vielmehr der natürliche Partner der EU für eine Regulierungskooperation. Und Europa könnte davon sogar noch etwas lernen. Europa wäre beispielsweise gut beraten, die höheren US-Standards für medizinische Geräte zu übernehmen. Jeffrey Shuren, bei der US-amerikanischen Food & Drug Administration (FDA) zuständig für Medizinprodukte, sagte 2011 einmal ziemlich undiplomatisch, dass „die Patienten unter dem EU-System als Versuchskaninchen benutzt“ würde. Später erstellte die FDA eine Liste mit gefährlichen Geräten aus der EU, die nicht in den USA zugelassen wurden.
Die EU und die USA haben im Durchschnitt ähnliche strenge Luftverschmutzungs-Standards, aber die Standards für die unterschiedlichen Schadstoffe variieren. So sind die US-Standards für Stickstoffoxide deutlich schärfer als die der EU. Wenn man bedenkt, dass es in der EU pro Jahr 72.000 vorzeitige Todesfälle wegen einer Belastung durch Stickstoffoxide gibt (das entspricht 800.000 verlorenen Lebensjahren, jedes Jahr), dann sollte die EU die US-Standards übernehmen. Der Volkswagen-Emissionsskandal legt zudem nahe, dass Europa ein Problem mit der Durchsetzung von Umweltschutzregularien hat und eine Kooperation mit den USA hilfreich sein könnte.
Nicht einmal bei der Landwirtschaft, dem für die europäischen Kritiker neuralgischsten Aspekt von TTIP, sind die Standards in Europa durch die Bank höher. Sicher: Die USA gehen wesentlich entspannter mit genetisch modifizierten Organismen und hormonbehandeltem Rindfleisch um – aber sie sind auch wesentlich erfolgreicher bei der Prävention von Lebensmittelkrankheiten.
„Vorsorgeprinzip“ vs. „Wissenschaftsprinzip“?
Europa muss von seinem hohen Ross runterkommen. Viele Europäer behaupten, dass die EU ein strengeres „Vorsorgeprinzip“ (Regulierung zur Vermeidung von Risiken, selbst wenn diese wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden können) habe, während die USA ein risikofreundlicheres „Wissenschaftsprinzip“ (Regulierung nur dann, wenn das Risiko wissenschaftlich nachgewiesen wurde) anwenden würden. Wenn das so wäre, dürfte es die oben genannten Beispiele nicht geben. Zudem ist das durchschnittliche Niveau von Vorsichtsmaßnahmen auf beiden Seiten des Atlantik ziemlich ähnlich.
Um die europäische Öffentlichkeit von den Vorzügen einer regulatorischen Kooperation mit den USA zu überzeugen, sollten die europäischen Politiker kritisch und ehrlich die Defizite ihrer eigenen Regulierung analysieren und zeigen, wie sie sich durch TTIP verbessern ließen. Es wäre ein schmerzhafter Prozess der Selbstreflektion, aber sehr nützlich für die Öffentlichkeit, um Europas Defizite in diesem Bereich zu verstehen.
Der finale Schritt, um die Ideen hinter TTIP zu retten, sollte in der Betonung seiner globalen Rolle liegen. Die westlichen Werte von Demokratie, Transparenz und Rechtsstaatlichkeit sind zunehmend bedroht, sogar in der europäischen Nachbarschaft. Ein gemeinsamer atlantischer Ansatz für globale Handelsregeln und regulatorische Standards, kombiniert mit einer Aussicht auf ein offenes TTIP, dem auch Drittländer beitreten könnten, würde die Anziehungskraft des ökonomischen Modells des Westens wiederbeleben.
Das Abkommen könnte hohe Gesundheits-, Sicherheits- und Arbeitsstandards, die Notwendigkeit transparenter und nachvollziehbarer Regulierungsbehörden und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit festsetzen. Es sollte gleichzeitig aufstrebenden Ländern genug Raum für ihre eigene Wirtschaftspolitik lassen, so dass heimische Sektoren und Industrien sich entwickeln können. Während der momentane Plan lautet, TTIP erst bilateral abzuschließen, bevor es für andere geöffnet wird, könnten die USA und Europa ein starkes Signal für die Offenheit von TTIP senden, indem sie wichtige Nachbarländer wie die Türkei, die Schweiz, Norwegen, Mexiko und Kanada als Beobachter einladen und sie während der Verhandlungen konsultieren.
Europas Politiker sehen sich mit einer zunehmend feindseligen TTIP-Debatte konfrontiert. Aber die jüngsten Rückschläge sind auch eine Chance: nämlich vom Verteidigungs- in den Angriffsmodus umzuschalten. Vor TTIP gab es in Europa kaum eine Debatte über die Ziele westlicher Handelspolitik im 21. Jahrhundert. Als Folge dessen war die Öffentlichkeit schlecht auf die Wellen von Kampagnen gegen TTIP vorbereitet. Aber die Öffentlichkeit ist auch zu Recht misstrauisch gegenüber der offiziellen Handelspolitik, weil die Globalisierung nun einmal nicht jedem Vorteile gebracht hat.
Europa und die USA müssen mit ihrer früheren Handelspolitik reinen Tisch machen, ihre Erfolge und Fehler analysieren und zeigen, dass TTIP die letzteren nicht wiederholen wird. Die neue EU-Handelsstrategie ist ein guter Anfang. Die prominente Aufnahme von Maßnahmen gegen den Klimawandel in TTIP würde auch dabei helfen, skeptische Europäer zu überzeugen.
Zu guter Letzt müssen beide Seiten, inklusive der politischen Öffentlichkeit, ihre jeweiligen regulatorischen Prozesse kritisch hinterfragen und TTIP nicht als ein überhastetes Handelsabkommen verstehen, sondern als eine langfristige atlantische Kooperation zur Verbesserung, und nicht zur Verwässerung von Regulierung. Die europäische Presse sollte ihrerseits weiterhin den Prozess in jeder denkbaren Form hinterfragen. Aber sie sollte beim Blick auf die Handelspolitik, den Zustand der europäischen Regulierung und die Folgen von TTIP auch ehrlich und empirisch arbeiten. Es wäre ein Fehler, wenn legitime öffentliche Bedenken zu manchen Aspekten von TTIP dazu führen würden, dass das gesamte Projekt versenkt wird.
Zum Autor:
Christian Odendahl ist Chef-Volkswirt des Centre for European Reform (CER).
Hinweis:
Dieser Beitrag ist zuerst in englischer Sprache auf der Homepage des CER erschienen. Die Übersetzung erfolgte mit Genehmigung des CER durch die Makronom-Redaktion.