(In-)Humanität

Wie viel „kostet“ ein Mensch?

Menschen einen Preis zu geben, hat eine lange Tradition: einerseits, um Investitionen für die Schwachen durchzusetzen – aber auch, um ihre Vernichtung zu rechtfertigen. Letztere Variante erleben wir jetzt gerade wieder in Italien. Ein Beitrag von Stefan Sell.

Massengrab Mittelmeer: Manchmal kommen Politiker sogar auf die Idee, „Strafzahlungen“ für gerettete Menschenleben erheben zu wollen. Foto: Pixabay

Was „kostet“ ein Mensch? Viele Leser werden sich schon angesichts dieser Fragestellung abwenden – verständlicherweise, denn gibt es etwas Unbezahlbareres als ein menschliches Leben? Kann man den Tod bzw. sein Aufschieben „bepreisen“? Oder bewegen wir uns nicht schon mit der Frage danach in den mit Zahlen und Währungssymbolen gepflasterten Gefilden einer durch selbstverliebte Hybris maßlos gewordenen Ökonomen-Welt, deren Übergriffigkeit in (fast?) alle Lebensbereiche hinein als eine negativ verstandene Ökonomisierung gebrandmarkt wird?

Solche berechtigten und sympathischen Abwehrhaltungen versuchen, die Würde eines jeden einzelnen Menschen zu schützen und diese nicht auch noch auf dem Altar der umfassenden Verdinglichung und Monetarisierung von Allem und Jedem zu opfern. Doch in der Realität wird jeden Tag menschliches Leben mit einem Preis versehen – mehr noch: manchmal kommen Politiker sogar auf die Idee, im Stile eines Bußgelds im Straßenverkehr „Strafzahlungen“ für gerettete Menschenleben erheben zu wollen.

Bis zu 5.500 Euro Strafe für das Retten eines Menschenlebens

Im konkreten Fall reden wir hier über eine Geldstrafe von 3.500 bis 5.500 Euro für jeden geretteten Flüchtling – jedenfalls wenn es nach dem italienischen Innenminister und Vize-Regierungschef Matteo Salvini geht. Der Lega-Chef hatte vor ein paar Tagen ein „Sicherheitsdekret“ vorgelegt, in dem er die Kompetenzen für die zivile Schifffahrt seinem eigenen Ministerium übertragen will. Dies soll es ihm ermöglichen, die Durchfahrt oder den Aufenthalt von Schiffen in italienischen Gewässern „aus Gründen der nationalen Sicherheit“ zu verbieten. Damit zielt Salvini auf die – nur noch wenigen – NGOs ab, die im Mittelmeer versuchen, schiffbrüchige Flüchtlinge vor dem Ertrinken zu retten. Wer gegen das Dekret verstößt, soll Geldstrafen in Höhe von eben jenen 3.500 bis 5.500 Euro für jeden geretteten Flüchtling zahlen.

Die Niedertracht, mit der Salvini hier versucht, kurz vor der Europawahl Stimmung zu machen, muss man wohl nicht weiter ausführen – wobei aber nicht unerwähnt bleiben sollte, dass eine solche Handlung jedenfalls nicht im vollständigen Widerspruch zur Flüchtlingspolitik der EU und ihrer Grenzschutz-Behörde Frontex steht, die im Laufe des letzten Jahrzehnts immer wieder mindestens an der Grenze zur Völkerrechtswidrigkeit agierte.

Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist Salvinis Dekret dennoch zumindest ein Anlass, um etwas grundsätzlicher über Sinn, Unsinn und die Niedertracht einer Monetarisierung des menschlichen Lebens nachzudenken. Tatsächlich werden in der ökonomischen Forschung normalerweise deutlich höhere Beträge aufgerufen als die 3.500 bis 5.500 Euro, die Salvini für jeden geretteten Flüchtling ansetzt – wobei der Plural bei „Beträgen“ hervorgehoben werden muss, denn tatsächlich setzen Ökonomen in der Regel keinen einheitlichen Preis an. Vielmehr gibt es unterschiedliche Preise für ein menschliches Leben, wie ja auch unter den Lebenden die einen monetär gesehen mehr, die anderen weniger bis fast gar nichts wert sind.

Das „statistische“ Leben

Beginnen wir damit, wie man überhaupt zu einem „Preis“ für das bzw. für unterschiedliche menschliche Leben kommen kann. Dazu lohnt ein Blick in einen 14 Jahre alten Artikel von Werner Mussler. Unter der Überschrift „Hat ein Menschenleben einen Geldwert?“ berichtete er über Konzepte, mit deren Hilfe Ökonomen versuchen, den Wert eines Menschenlebens zu ermitteln. Unter anderem wurde in dem Beitrag die Arbeit von Hannes Spengler aufgegriffen. Der damals an der TU Darmstadt tätige Ökonom wollte kein bestehendes Leben mit einem Preisetikett versehen. Sein risikotheoretisches Konzept handelte daher von einem sogenannten „statistischen“ Leben. Es beruhte auf der Beobachtung, dass jeder Bürger sein eigenes Leben nicht als unendlich viel wert erachtet, sondern es – jedenfalls implizit – einem ökonomischen Kalkül unterwirft: Wer beispielsweise Auto fährt, akzeptiere das Risiko, im Straßenverkehr umzukommen. Trotzdem kauft er nicht „automatisch das Auto mit den höchsten Sicherheitsstandards, sondern jenes, das ihm am günstigsten erscheint – auch um den Preis eines etwas höheren Risikos“.

Dieser Ansatz wird dann auf die Abschätzung des Wertes eines menschlichen Lebens übertragen, was Mussler an diesem „sehr konstruierten Modellbeispiel“ demonstriert:

„In einem Fußballstadion sind 10.000 Menschen versammelt. Sie wissen, dass ein zufällig aus der Menge ausgewählter Besucher sterben muss. Sie werden gefragt, wieviel sie zahlen wollen, um dieses Risiko von der Gemeinschaft – und damit von sich selbst – abzuwenden. Da das Sterberisiko eins zu zehntausend beträgt, ist die Zahlungsbereitschaft des einzelnen gering. Beträgt sie – ein gegriffener Wert – 300 Euro, so würden 10.000 Personen insgesamt drei Millionen Euro dafür zahlen, dass das Todesrisiko auf null sinkt und damit ein statistisches Leben gerettet wird. Dessen Wert beträgt dann drei Millionen Euro.“

Die Berechnungsergebnisse von Spengler könnte man laut Mussler so zusammenfassen:

„Zum ersten Mal hat ein deutscher Ökonom den durchschnittlichen Wert eines Menschenlebens in Deutschland berechnet. Er beträgt 1,65 Millionen Euro. Ein Männerleben hat einen höheren Wert (1,72 Millionen Euro) als ein Frauenleben (1,43 Millionen Euro).“

Warum sollte man überhaupt versuchen, den Wert eines Lebens zu messen?

Aber was ist eigentlich der Zweck solcher Zahlenspiele? Auf diese Frage hat der amerikanische Ökonom Ike Brannon 2004 folgende Antwort gegeben, die auch von Mussler aufgegriffen wurde. Für jeden Dollar, den der Staat ausgebe, müsse er dem Steuerzahler möglichst viel zurückgeben, so Brannon. Wenn eine Regulierung also mehr koste, als sie ihr bringe, solle sie nicht in Angriff genommen werden. Diese Kosten-Nutzen-Betrachtung ist übrigens kein reines US-Phänomen: So diskutierte beispielsweise auch der Deutsche Ethikrat 2011 über die „Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen“ und die „normative Funktion ihrer Bewertung“.

Allerdings fallen die Ergebnisse der Schätzungen sehr unterschiedlich aus: Die von Spengler ermittelten Werte sind eher gering; amerikanische Ökonometriker kommen für ihr Land auf das Drei- bis Vierfache. So merkt auch Mussler richtigerweise an: „Solche Unterschiede, die methodische Ursachen haben, werfen freilich die Frage auf, was das Konzept wert ist. Wenn der Wert eines statistischen Lebens nicht einigermaßen unstrittig ermittelt werden kann, hält sich auch seine politische Relevanz in Grenzen.“

Lassen Sie uns aber nicht zu früh das Handtuch werfen und noch einen sehr konkreten Schätzversuch betrachten. 2018 berichtete Katrin Zeug in der Zeit über die Arbeit von Kenneth Feinberg. Dieser war dafür zuständig, nach den Terroranschläge vom 11. September 2001 die Gelder des von der Bush-Regierung geschaffenen Entschädigungsfonds an die Angehörigen der Todesopfer und an die Verletzten zu verteilen – und dafür musste er ihnen allen einen Wert geben:

„In den folgenden drei Jahren traf (Feinberg) Tag für Tag Betroffene. Er sprach mit den Witwen, deren Männer bei der Feuerwehr gewesen und beim Helfen gestorben waren, mit Angehörigen von Börsenmaklern, deren Alltag in Villen und Privatschulen viel Geld verschlang, das jetzt keiner mehr verdiente, und mit Eltern von Menschen, die ohne Papiere nach New York gezogen waren und für die anderen geputzt, gekellnert, die Post ausgetragen hatten. Bis sie ums Leben kamen. Im Moment des Unglücks waren alle gleich.“

Aber nur in dem Moment. Selbst nach dem Tod reproduziert sich der ungleiche „Wert“ menschlichen Lebens. So hatte der US-Kongress Feinberg aufgetragen, als Basis für die Entschädigungssummen das Einkommen der Opfer heranzuziehen. Das Ergebnis:

„Mehr als 7 Milliarden Dollar verteilte er an insgesamt 5.562 Personen: Für einen Mann ohne Papiere bekamen die Angehörigen 250.000 Dollar. Für einen Kellner 500.000 Dollar. Für einen Polizisten 850.000, für einen anderen 1,2 Millionen. Für einen Börsenmakler mal 2 Millionen, mal 6 Millionen Dollar. Wirkt brutal. Als Feinberg von empörten Witwen gefragt wurde, warum das Leben ihrer Feuerwehrmänner weniger wert sei als das der Börsenmakler, erklärte er ihnen, dass Amerika eben so funktioniere.“

Aber wir sollten uns daran erinnern: Auch der arbeitsmarktbezogene Ansatz von Hannes Spengler kommt zu unterschiedlichen Beträgen, weil er ebenfalls die Unterschiede im (Erwerbs-)Einkommen berücksichtigt hat. Menschen einen Preis zu geben, hat eine lange Tradition, gerade auch in den USA. So befand sich einer der größten Sklavenmärkte im Nordamerika des 18. Jahrhunderts in New York. An einer langen Mauer wurden die Menschen aufgestellt und zum Verkauf angeboten. Die Mauer gab der Straße ihren Namen: Wall Street. Laut dem Buch The Slave Trade von Henry Carey kostete ein „ausgewachsener männlicher Sklave“ damals übrigens 1.000 Dollar.

Zahlen und Statistiken sind wie ein Hammer: Man kann damit einen Nagel in die Wand hauen oder jemanden erschlagen. So berechneten englische Wissenschaftler im 17. Jahrhundert erstmals den ökonomischen Wert des Menschen – allerdings um nachzuweisen, dass es sich lohnen würde, wenn der Staat gegen Krankheit und Armut vorgeht. Wir sehen: Zahlen dienen auf der einen Seite dazu, Investitionen für die Schwachen durchzusetzen – und ein anderes Mal, ihre Vernichtung zu rechtfertigen. Sie haben eine helle Seite, aber eben auch eine, die getränkt ist mit Niedertracht und Inhumanität. Letztere Variante erleben wir jetzt gerade wieder in Italien.

Zum Abschluss noch der Hinweis auf einen ganz anderen Berechnungsansatz für den Wert des menschlichen Lebens, diesmal aus den Reihen der Biochemie, die einen ganz eigenen Blick auf uns Menschen hat – und nicht zuletzt zeigt, wie alt die Debatte über den Wert des Lebens schon ist. 1976 zitierte der Spiegel einen Witz:

„Wie Biochemiker errechnet haben“, stand auf der Geburtstagskarte „sind die Stoffe, aus denen der Mensch besteht, 97 Cent wert.“

In dem entsprechenden Artikel wurde auch über die Arbeit des Biochemikers Harold J. Morowitz berichtet. Dieser hatte die Tagespreise der etwas komplexeren Verbindungen im menschlichen Organismus aufgelistet – Hämoglobin schlug pro Gramm schon mit 2,95 Dollar zu Buche, das Enzym Trypsin mit 36, das Peptid Bradykinin gar mit 12.000 Dollar. Das Follikelhormon kostete sogar 4,8 Millionen Dollar pro Gramm. Morowitz notierte:

„Ein Geschenk für Leute, die schon alles haben; und für die wirklich Reichen gibt es Prolaktin zu 17,5 Millionen Dollar je Gramm. Kurzum, der durchschnittliche Mensch von 150 Pfund, knapp 25 Kilo Trockenmasse, wäre nach Katalog mit sechs Millionen Dollar zu bewerten – die Schwierigkeit, aus Pülverchen und Essenzen Herz, Haut und Haar zusammenzubasteln, noch nicht gerechnet.“

Sechs Millionen Dollar in Preisen von 1976 – da muss man heute noch eine Schippe drauflegen. Außer es handelt sich um Flüchtlinge, die über unsere Urlaubs-Badewanne kommen (wollen). Für die reicht – monetär gesehen – ein Brosamen. Andererseits ist das vielleicht ein radikal ehrliches Rechenwerk inmitten der Verhältnisse, wie sie eben sind. Wie sie sein sollten, hat übrigens Immanuel Kant schon vor mehr als 200 Jahren aufgeschrieben:

„Was einen Wert hat, hat auch einen Preis. Der Mensch aber hat keinen Wert, er hat Würde.“ (Immanuel Kant)

 

Zum Autor:

Stefan Sell ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz und Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung (ISAM). Außerdem betreibt Sell den Blog Aktuelle Sozialpolitik, wo dieser Beitrag zuerst in einer früheren Form erschienen ist. Auf Twitter: @stefansell