Analyse

Wie stark erklären biologische Unterschiede die Gender Pay Gap?

Es wird oft argumentiert, dass die Gehaltsunterschiede zwischen Frauen und Männern größtenteils aus der biologischen Unterschiedlichkeit der Geschlechter resultieren – Frauen und Männer seien schließlich mit unterschiedlichen Vorlieben und Talenten gesegnet. Allerdings können diese Unterschiede wenn überhaupt dann nur einen sehr kleinen Teil der Gender Pay Gap erklären. Eine Analyse von Esteban Ortiz-Ospina.

Bild: Pixabay

Überall auf der Welt übernehmen Frauen eher familiäre Aufgaben als Männer. Ein Ergebnis dessen ist, dass Frauen auch eher niedrig bezahlten Jobs ausüben, die ihnen die nötige Flexibilität geben, die sie für diese zusätzlichen Aufgaben brauchen.

Diese zwei Tatsachen, die ich in anderer Stelle weiter ausgeführt habe, werden oft herangezogen um zu argumentieren, dass die zu beobachtenden Gehaltsunterschiede größtenteils aus der biologischen Unterschiedlichkeit der Geschlechter resultieren – Frauen und Männer seien schließlich mit unterschiedlichen Vorlieben und Talenten gesegnet. In diesem Beitrag werde ich die Evidenz hinter diesen Behauptungen überprüfen.

Kurz zusammengefasst habe ich folgendes herausgefunden:

  • Es gibt Evidenz dafür, dass Männer und Frauen sich statistisch gesehen in einigen wesentlichen Punkten (dazu zählen auch psychologische Eigenschaften) unterscheiden, die das Abschneiden auf dem Arbeitsmarkt beeinflussen.
  • Es gibt keinen Konsens, welchen Einfluss Erziehung und Biologie konkret auf das Zustandekommen dieser Unterschiede zwischen den Geschlechtern haben – aber die Evidenz zeigt, dass diese Eigenschaften veränderbar sind.
  • Unabhängig von ihrem Ursprung können diese Unterschiede nur einen sehr kleinen Teil der Gender Pay Gap erklären.

Die Arbeitsverteilung zwischen den Geschlechtern

Bevor wir in die Diskussion einsteigen, lassen Sie uns zunächst einen Blick auf die Arbeitsverteilung zwischen den Geschlechtern werfen.

Der folgende Chart zeigt, wieviel mehr Zeit Frauen im Verhältnis zu Männern mit unbezahlter „care work“ verbringen. Dazu zählen etwa Tätigkeiten wie die Betreuung der eigenen Kinder, Hausarbeit oder ehrenamtliches Engagement in der Nachbarschaft. Es zeigt sich, dass es überall auf der Welt ein radikales Ungleichgewicht gibt – in allen Ländern übernehmen Frauen einen disproportional höheren Anteil an unbezahlter Arbeit. Dies hängt natürlich stark mit der Tatsache zusammen, dass es in den meisten Ländern Gender Gaps bei der Erwerbsquote und den Löhnen gibt.

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„Jungs sind besser in Mathe“

Es wird häufig behauptet, dass biologische Eigenschaften, die unsere Fähigkeit bestimmen, sogenannte „hard skills“ zu erlernen, im Zentrum der Gender Pay Gap stünden. Aber gibt es diese geschlechterspezifischen Unterschiede, beispielsweise bei den mathematischen Fähigkeiten, tatsächlich? Und wenn ja, dann deswegen, weil wir mit diesen verschiedenen Eigenschaften geboren werden? Schauen wir uns die Daten an.

Sind Jungs besser in der Mathe-Rubrik des PISA-Standard-Tests? Man könnte argumentieren, dass ein Blick auf die Topscores hier relevanter ist, weil diese mit größerer Wahrscheinlichkeit die Gaps zwischen den künftigen Berufswegen bestimmen (z. B. die Gaps beim Zugang zu „STEM degrees“ auf der Universitätsebene).

Der folgende Chart zeigt den Anteil von männlichen und weiblichen Testabsolventen auf der höchsten Stufe des PISA-Tests (Level 6). Wie wir sehen können, liegen die meisten Länder über der diagonalen Linie, die die Gender-Parität markiert. Also ja: Jungs scheinen eher hohe Scores zu erreichen als Mädchen. Allerdings gibt es zwischen den Ländern gewaltige Unterschiede – und diese sind viel größer als die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Und in vielen Ländern ist die Lücke praktisch nicht existent. Ein weiterer wichtiger Punkt: Wenn wir uns auf die durchschnittlichen Geschlechterunterschiede und nicht auf die besten Schüler konzentrieren, gibt es keine klare Tendenz zugunsten der Jungs.

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Forscher haben zudem herausgefunden, dass es bei den Testergebnissen innerhalb der einzelnen Länder auch große geografische Abweichungen bei den Gender Gaps gibt. Somit scheinen diese unterschiedlichen mathematischen Fähigkeiten eindeutig nicht vollkommen durch biologische Prägungen bestimmt zu sein.

Und tatsächlich zeigen Studien, die sich mit den länderübergreifenden PISA-Ergebnissen beschäftigt haben, dass verbesserte soziale Bedingungen für Frauen auch mit verbesserten mathematischen Leistungen der Mädchen einhergehen.

Aber die statistischen Gaps bei den Testergebnissen variieren nicht nur erheblich zwischen den Gesellschaften, sondern auch über den Zeitverlauf hinweg. Das legt die Vermutung nahe, dass soziale Faktoren eine große Rolle bei der Erklärung der Unterschiede zwischen den Geschlechtern spielen.

So hat sich beispielsweise in den USA die Mathematik-Gender Gap in den letzten Jahren verkleinert, und zwar seitdem die High-School-Lehrpläne von Jungs und Mädchen ähnlicher geworden sind. Der folgende Chart verdeutlicht dies: 1957 belegten Jungs deutlich mehr Mathematik- und naturwissenschaftliche Kurse als Mädchen. Aber seit 1992 herrscht praktisch Gleichstand.

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Für die Ausgangsfrage noch wichtiger ist allerdings, dass die Gender Gaps bei den „hard skills“ nicht groß genug sind, um zu irgendeinem Zeitpunkt die Gender Gaps bei den Verdiensten zu erklären, wie etwa Francine Blau und Lawrence Kahn in ihrer Auswertung der Evidenz für die USA gezeigt haben.

Zusammengefasst legt die Evidenz also nahe, dass die statistischen Unterschiede bei den Mathe-Test-Ergebnissen sowohl relativ klein sind, als auch erheblich durch soziale und andere Umgebungsfaktoren beeinflusst werden.

„Es geht um die Persönlichkeit“

Durch die Biologie bedingte unterschiedliche „Vorlieben“ (z. B. bei der Präferierung von „Menschen“ gegenüber „Dingen“), psychologische Eigenschaften (z. B. Risikoneigung) und „soft skills“ (z. B. die Fähigkeit, mit anderen klarzukommen) werden ebenfalls oft als Erklärungsfaktoren für die Gender Pay Gap angeführt.

Es gibt hunderte Studien, die versuchen festzustellen, ob es diese unterschiedlichen Präferenzen, Charakterzüge und „soft skills“ tatsächlich gibt. Die Qualität und allgemeine Relevanz dieser Studien ist wiederum Gegenstand zahlreicher Diskussionen, wie etwa die jüngste Debatte zur Google-Memo-Affäre gezeigt hat. Ein im Zusammenhang mit dem Google Memo von der „Heterodox Academy“ veröffentlichter Artikel liefert einen ausgezeichneten Überblick der Evidenz und Argumente zu diesem Thema.

Lassen Sie uns aber bei der oben erwähnten Evidenz-Auswertung von Blau und Kahn bleiben, um den Rahmen dieses Beitrags nicht zu sprengen – denn deren Arbeit ist von besonderem Wert, weil sie sich auf die Geschlechterunterschiede im Kontext der Arbeitsmärkte konzentrieren.

Blau und Kahn zeigen auf, dass Forscher statistische Unterschiede zwischen Männern und Frauen entdeckt haben, die mit Blick auf das Abschneiden auf dem Arbeitsmarkt von großer Wichtigkeit sind. So haben Studien geschlechterspezifische Unterschiede bei den „people skills“ ermittelt (z. B. bei der Fähigkeit zuzuhören, zu kommunizieren und Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen). Experimentalstudien zeigten zudem, dass Frauen häufiger Gehaltsverhandlungen vermeiden und eher geneigt sind, Aufgaben mit niedrigerem „Selbstvermarktungspotenzial“ anzunehmen und diese auch häufiger erhalten.

Allerdings zeigt die verfügbare Evidenz auch, dass diese Faktoren nur einen relativ kleinen Teil der beobachteten Lohnunterschiede erklären. Und sie sind auch alles andere als rein biologischer Natur – Präferenzen und Fähigkeiten sind hochgradig formbar und das „Gendering“ beginnt schon sehr früh im Leben.

Hier ein konkretes Beispiel: Andreas Leibbrandt und John List haben ein Experiment durchgeführt, in dem sie prüften, wie Männer und Frauen auf Stellenangebote reagieren. Sie fanden heraus, dass Männer häufiger als Frauen über das Gehalt verhandeln, wenn in der Stellenanzeige gar nicht ausdrücklich auf die Möglichkeit zur Gehaltsverhandlung hingewiesen worden war – allerdings verschwanden die Geschlechterunterschiede und kehrten sich sogar um, wenn die Anzeige ausdrücklich erwähnte, dass das Gehalt verhandelbar sei. Dies legt den Schluss nahe, dass es gar nicht so sehr um „Talent“ geht, sondern mehr um Normen und Regeln.

„Ein Mann sollte mehr verdienen als seine Frau“

Das Experiment, bei dem die Forscher herausfanden, dass die unterschiedlichen Herangehensweisen verschwinden, wenn ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass das Gehalt verhandelbar sei, betont die wichtige Rolle, die soziale Normen und die Kultur bei den Ergebnissen auf dem Arbeitsmarkt spielen.

Aber wie sehen diese sozialen Normen und die dahinterstehende Kultur im Kontext der Gender Pay Gap genau aus?

Es gibt eine ganze Reihe von Aspekten, die zeigen, wie Stereotypen im Alltag reproduziert werden: Eine Studie, die 124 amerikanische Prime-Time-Fernsehprogramme analysiert hat, ermittelte, dass die Rollen von weiblichen Charaktere auch weiterhin durch Romantik, Familie und Freunde geprägt sind, während männliche Charaktere eher Rollen spielen, die im Zusammenhang mit ihrer Arbeit stehen. Eine andere Studie wertete 5.618 Kinderbücher aus und fand heraus, dass Männer fast doppelt so oft im Buchtitel vorkamen und 1,6 Mal häufiger als zentrale Charaktere auftraten. Qualitative Forschungen zeigen, dass auch zuhause Eltern oftmals Gendernormen verstärken – besonders Väter, die bei ihren Söhnen maskulines Verhalten befürworten.

Im Kontext des Arbeitsmarktes ist es von besonderer Relevanz, dass soziale Normen oftmals die Form von bestimmten Handlungsempfehlungen annehmen, wie etwa, dass „ein Mann mehr als seine Frau verdienen sollte“. Der folgende Chart zeigt den Anteil des von der Frau erwirtschafteten Haushaltseinkommens unter Ehepaaren in den USA. Die Daten sind konsistent mit der Idee, dass „ein Mann mehr als seine Frau verdienen sollte“: Sie zeigen einen heftigen Fall bei 0.5, also jenem Punkt, ab dem die Frau mehr als ihr Ehemann verdient.

Quelle: Bertrand, M., Kamenica, E., & Pan, J. (2015). Gender identity and relative income within households. The Quarterly Journal of Economics, 130(2), 571-614.

Dies ist das Ergebnis zweier Faktoren: Erstens geht es um das „Matching“ von Frauen und Männern vor der Heirat – Eheschließungen, bei denen Frauen ein höheres Verdienstpotenzial als Männer haben, sind weniger üblich. Und zweitens zeigen die Forscher: Es ist ein Ergebnis der Entscheidungen nach der Heirat, dass verheiratete Frauen mit einem höheren Verdienstpotenzial als ihre Männer oftmals nicht mehr erwerbstätig sind oder Jobs annehmen, die unter ihrem eigentlichen beruflichen Potenzial liegen.

Die Studienautoren haben sich die Daten noch etwas genauer angesehen und herausgefunden, dass auch bei Paaren, in denen die Frau mehr als der Mann verdient, die Frau mehr Zeit mit Haushaltsaufgaben verbringt, wodurch die Gender Gap bei der unbezahlten Arbeit sogar noch größer wird – und diese Paare sind im Übrigen auch weniger zufrieden mit ihrer Ehe und lassen sich tendenziell häufiger scheiden als Paare, bei denen die Frau weniger als der Mann verdient.

Die empirische Untersuchung zeigt also die bemerkenswerte Macht auf, die Gender-Normen und -Identitäten auf das Abschneiden auf dem Arbeitsmarkt haben.

Na und?

Aber spielt es überhaupt eine Rolle, wenn soziale Normen und die Kultur wichtige Determinanten für Geschlechterrollen und das Abschneiden auf dem Arbeitsmarkt sind? Sind soziale Normen in unseren heutigen Gesellschaften wirklich weniger stark in Stein gemeißelt als unsere biologischen Eigenschaften?

Auf Basis der verfügbaren Forschung glaube ich, dass die Antworten auf diese Fragen ja und ja lauten. Es gibt Evidenz dafür, dass soziale Normen aktiv und sehr schnell verändert werden können.

Auch hier ein konkretes Beispiel: Robert Jensen und Emily Oster fanden heraus, dass die Einführung des Kabelfernsehens in Indien dazu geführt hat, dass die Akzeptanz von häuslicher Gewalt gegen Frauen und die Präferenz für ein männliches Kind deutlich gesunken sind. Gleichzeitig gab es eine höhere Akzeptanz für die Autonomie von Frauen und Rückgänge bei der Geburtenrate.

Der folgende Chart zeigt die Entwicklung der selbsterklärten Präferenz indischer Haushalte für ein männliches Kind. Wie Jensen und Oster schreiben, blieb der Wunsch nach einem Sohn in Gebieten ohne neuen Kabelfernsehanschluss relativ unverändert, während er in Dörfern sehr stark abnahm, nachdem diese einen Anschluss erhalten hatten. „Die Veränderungen sind groß und bemerkenswert, und sie korrespondieren stark mit dem Zeitpunkt der Kabeleinführung“, so die Autoren.

 

Sicher, das Fernsehen ist lediglich ein kleiner Teil aller Faktoren, die bei sozialen Normen eine Rolle spielen. Aber diese Studie ist für die Diskussion wichtig, weil es eben sehr schwer zu untersuchen ist, wie sich soziale Normen verändern. Und die Einführung von Kabelfernsehen ist eine seltene Gelegenheit zu sehen, wie eine gegenüber dem sozialen Wandel exponierte Gruppe sich tatsächlich verändert.

Wie Jensen und Oster zeigen, hatten die populärsten Kabelfernseh-Programme in Indien Settings, bei denen sich der gezeigte Lifestyle radikal von dem in den ländlichen Gebieten vorherrschenden unterschied. So hatten weibliche Charaktere in beliebten Seifenopern eine höhere Ausbildung, heirateten später und lebten in kleineren Familien als die meisten Frauen auf dem Land. Außerdem gab es in diesen TV-Sendungen viele weibliche Charaktere, die außerhalb ihres Hauses einer bezahlten Arbeit nachgingen, Unternehmen leiteten oder in anderen Autoritätspositionen gezeigt wurden.

Fazit: Soziale Normen spielen eine große Rolle – und sind veränderbar

Fassen wir zusammen: Die Evidenz legt nahe, dass biologische Unterschiede kein Schlüsselfaktor für die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern auf dem Arbeitsmarkt sind. Dagegen sind soziale Normen und die Kultur – die wiederum Präferenzen, Verhalten und Anreize zur Aneignung bestimmter Fähigkeiten beeinflussen – sehr wichtig.

Diese Erkenntnisse spielen für die Politik eine zentrale Rolle – denn wenn soziale Normen nicht in Stein gemeißelt sind, können sie durch eine Vielzahl von Maßnahmen beeinflusst werden, wie etwa einen intergenerationalen Lernprozess, eine Exposition gegenüber alternativen Normen und einen Aktivismus wie jenen, der die Frauenbewegung angetrieben hat.

 

Zum Autor:

Esteban Ortiz-Ospina ist Postdoctoral Researcher an der University of Oxford. Außerdem ist er für das Portal Our World in Data tätig, wo dieser Beitrag auch in englischer Sprache erschienen ist. Auf Twitter: @eortizospina