Deutschland ist eine hochkomplexe Volkswirtschaft. Für ihre Funktionsfähigkeit braucht es zweifellos Regulierungen – schließlich tragen diese unter anderem dazu bei, dass Unternehmen Rechts- und Planungssicherheit besitzen sowie gleich behandelt werden. Zugleich wird mit Hilfe der allgemeingültigen Regeln Korruption entgegengewirkt.
Inzwischen scheint jedoch aus Sicht der Unternehmerinnen und Unternehmer das empirisch schwer zu bestimmende Optimum an Bürokratie weit überschritten zu sein. Dies beklagen nicht nur die Unternehmen und ihre Verbände in der Öffentlichkeit, sondern zeigen auch diverse Studien des IfM Bonn (z. B. Holz et al. 2023; Icks und Weicht 2022; Holz et al. 2019): Demnach geben zwei Drittel der Unternehmen in Deutschland an, unverhältnismäßig stark von staatlicher Bürokratie belastet zu sein. Dies ist eine Steigerung von 14 Prozentpunkten gegenüber einer ähnlichen Befragung aus dem Jahr 2018 (vgl. Holz et al. 2023). Zugleich belegt die jüngste IfM-Studie zur Erzielung eines spürbaren Bürokratieabbaus, dass die durch Bürokratie hervorgerufenen emotionalen Belastungen wie Wut, Ohnmacht und Verwirrung für mehr als die Hälfte der Unternehmen (53%) sogar noch schwerer wiegen als der reine Zeit- und Kostenaufwand (vgl. Holz et al. 2023). Darüber hinaus kommt auch den Opportunitätskosten und den Folgewirkungen auf Investitionen und Wettbewerbsfähigkeit eine hohe Bedeutung als Belastungsfaktor zu.
Besonders bedenklich ist jedoch, dass laut jüngster IfM-Befragung die Bürokratiebelastung den Unternehmerinnen und Unternehmern zunehmend die Freude an der unternehmerischen Tätigkeit verleidet: Sie empfinden die hohe Regulierungsdichte als übermäßige Kontrolle durch den Gesetzgeber – und wünschen sich mehr Vertrauen und Gestaltungsfreiräume. Auch fällt es ihnen schwer, die relevanten Vorgaben zu finden, zu verstehen und auf die konkrete Unternehmenssituation anzuwenden. Ein Großteil der Unternehmen schätzt außerdem viele Vorschriften als wenig sinnvoll sowie praxisfern und unverhältnismäßig ein. Die Folge: Jedes vierte Unternehmen erfüllt bewusst einzelne bürokratische Erfordernisse nicht. Wir bezeichnen dies als „autonomen Bürokratieabbau“. Hinzu kommen die negativen realwirtschaftlichen Folgewirkungen der Bürokratiebelastung: Diese zeigen sich u. a. darin, dass mehr als die Hälfte der Unternehmen (58%) zukünftig (teilweise) auf Investitionen in Deutschland verzichten will. Demgegenüber erwägt fast jedes fünfte Unternehmen, verstärkt im Ausland zu investieren (vgl. Holz et al. 2019).
Wie sich konkret der Bürokratieaufwand auf die verschiedenen Unternehmensgrößen auswirkt, wurde 2022 in der Studie „Bürokratiekosten von Unternehmen aus dem Maschinen- und Anlagenbau“ untersucht. Dabei zeigte sich, dass in einem Unternehmen mit rund 150 Beschäftigten jährlich rund 3% des Umsatzes durch die Erfüllung der direkten bürokratischen Pflichten gebunden werden. Dies sind bei einem Umsatz von 23,5 Millionen rund 705.000 Euro – und umgerechnet auf die Beschäftigungskosten zehn in Vollzeit arbeitende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Damit sind die allein vom Bund ausgelösten Bürokratiekosten ähnlich hoch wie die jährlichen Forschungsausgaben eines Mittelständlers im Maschinen- und Anlagenbau und annähernd so hoch wie der durchschnittliche Bruttogewinn in der Branche.
Kommen noch mehr Bürokratiebelastungen hinzu, droht eine weitere Verringerung der Marge und damit auch eine Schwächung der Investitionen. Bei einem Unternehmen mit rund 3.500 Beschäftigten liegen die Kosten für den direkten bürokratischen Aufwand bei 1% (2,48 Millionen Euro). Dies entspricht zugleich den Kosten für die Beschäftigung von 40 vollzeitbeschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern (vgl. Icks und Weicht 2022).
Der Vergleich des bürokratischen Aufwands nach Unternehmensgrößen zeigt, dass die bürokratischen Kosten per se bei kleineren Unternehmen deutlich höher sind: Schließlich verteilen sich die Fixkosten auf geringere Produktionsmengen. Hinzu kommt der indirekte Aufwand, wenn kleinere Unternehmen als Zulieferer für größere Unternehmen tätig sind: Zwar sind die kleineren Unternehmen offiziell beispielsweise von den Vorgaben des Lieferkettengesetzes und der Nachhaltigkeitsberichterstattung ausgenommen. Tatsächlich müssen sie aber dennoch ihren größeren Kunden Daten und Informationen zur Verfügung stellen, damit diese ihren Pflichten nachkommen können. Die dafür nötige Datenerhebung, -aufbereitung und -kommunikation erzeugen zusätzliche Bürokratielasten bei den kleineren Unternehmen.
Die Wirtschaftspolitik ist sich prinzipiell des Problems der überbordenden Bürokratie bewusst und versucht seit Jahren, dagegen vorzugehen. Dennoch nehmen die Unternehmen keine spürbare Entlastungen wahr. Im Gegenteil: Aktuell besteht die Gefahr, dass die realwirtschaftlichen und atmosphärischen Auswirkungen sowohl auf individueller Unternehmensebene als auch gesamtwirtschaftlich zunehmend im Hinblick auf die Beschäftigungs-, Innovations- und Investitionsentwicklung oder auch die Gründungsdynamik spürbar werden.
Rückblick – und Ausblick
In der Vergangenheit wurden bereits eine Reihe an Maßnahmen, Programmen und Instrumenten geschaffen, um Bürokratie abzubauen und bessere Rechtsetzung zu gewährleisten. Um nur einige wenige wichtige Meilensteile zu erwähnen: 2006 wurde der Normenkontrollrat ins Leben gerufen, 2007 wurde das 25-Prozent-Ziel im Hinblick auf die Verringerung der gesamten Bürokratiekosten bis 2012 ausgerufen. Seit 2009 gibt es eine Gesetzesfolgenabschätzung, seit 2015 die „One in One out“-Regelung auf Bundesebene („Bürokratiebremse“). Im März 2024 wurden nun das IV. Bürokratieentlastungsgesetz verabschiedet, nachdem zuvor schon Praxis- und Digital-Checks neu eingeführt wurden.
Alle diese Maßnahmen haben in den vergangenen Jahrzehnten laut Statistischem Bundesamt zu einem nachweisbaren Bürokratieabbau geführt: Die aus Informations- und Dokumentationspflichten resultierenden Bürokratiekosten („Papierkram“) sind seit 2012 schrittweise um mehr als fünf Prozentpunkte zurückgegangen. Der weiter definierte jährliche (einmalige) Erfüllungsaufwand ging zwischen 2015 und 2019 um 1,9 Milliarden Euro zurück. Seine Entwicklung wird aber insgesamt stärker von kostenträchtigen Einzelgesetzen beeinflusst. In der Gesamtschau spiegeln die offiziellen Daten des Statistischen Bundesamtes die Bürokratiewahrnehmung der Unternehmen jedoch nicht wider, sondern stehen in Diskrepanz zu der gefühlt sehr hohen und steigenden Bürokratiebelastung in den Unternehmen.
Allerdings ist in diesem Zusammenhang durchaus interessant, dass die Unternehmerinnen und Unternehmer den Aufwand für die unterschiedlichen bürokratischen Vorgaben mitunter anders wahrnehmen als er mit Hilfe des Standardkostenmodels gemessen wird: So gaben sie bei verschiedenen Befragungen an, dass sie die Erfüllung der Statistikpflichten als eine erhebliche Belastung empfinden, obwohl diese nur einen vergleichsweise geringen Anteil am gesamten (für sie relevanten) Erfüllungsaufwand (0,3% bis 1%) einnehmen (vgl. Icks und Weicht 2022; Holz et al. 2023). Viele staatliche Vorgaben, die gut 39 bis 60% des Erfüllungsaufwands ausmachen, sehen die Unternehmen hingegen als prinzipiell notwendig an.
Eine mögliche Erklärung hierfür könnte sein, dass auch die empfundene Sinnhaftigkeit der Vorgaben eine wichtige Rolle spielt: Können die Unternehmerinnen und Unternehmer nicht nachvollziehen, wofür bestimmte statistische Vorgaben erforderlich sind, empfinden sie diese oftmals als unnötigen Aufwand. Dazu trägt auch bei, dass die digitale Verwaltung in Deutschland immer noch mangelhaft ist und z. B. häufig die gleichen statistischen Daten mehrfach für verschiedene Behörden zusammengestellt werden müssen.
Der Bürokratiebegriff aus Unternehmenssicht
Ein weiterer Grund für die Diskrepanz zwischen den politischen Bemühungen, Bürokratie abzubauen, und dem wahrgenommenen Anstieg dürfte auch an einem sehr unterschiedlichen Bürokratieverständnis liegen: So fasst die überwiegende Mehrheit der Unternehmerinnen und Unternehmer den Bürokratie-Begriff weiter als die Politik, wie die folgende Grafik veranschaulicht.
Abbildung 1: Dimensionen des Bürokratie-Begriffs
Die Politik beschränkt den Begriff auf die Dokumentations- und Informationspflichten sowie auf den benötigten Erfüllungsaufwand. Dagegen zählt der Großteil der Unternehmerinnen und Unternehmer auch halböffentliche Vorgaben von Selbstverwaltungsorganisationen der Wirtschaft, Normungsinstituten oder Berufsgenossenschaften sowie privatwirtschaftliche Regulierung etwa bei der Mitwirkung in Wertschöpfungsketten dazu. Folglich entsteht ein nicht unwesentlicher Teil des Bürokratieaufwandes in Bereichen, in denen die Politik nur wenig Einflussmöglichkeiten hat (vgl. Holz et al. 2019). Nicht-staatliche Institutionen wie Kammern und Berufsgenossenschaften sollten daher ebenso wie privatwirtschaftliche Unternehmen gleichfalls prüfen, wo sie Regulierungen abbauen können.
Unabhängig vom individuellen Bürokratieverständnis spielen aber auch die Erfahrungen, die die Unternehmerinnen und Unternehmer mit bürokratischen Vorgaben gemacht haben, eine wesentliche Rolle für ihre Bürokratiewahrnehmung. Im Laufe ihrer unternehmerischen Tätigkeit haben die Unternehmen vielerlei Berührungspunkte mit Bürokratie. Sie bauen daher im Zeitablauf einen (kumulierten) Erfahrungsschatz auf, der sich aus einer Vielzahl von Einzeleindrücken speist („Pool of Memory“). Diese Erfahrungen sind bei der Mehrzahl der von uns befragten Unternehmen nicht nur deutlich negativ geprägt, sondern können auch die Wahrnehmung zukünftiger bürokratischer Vorgaben beeinflussen (Holz et al. 2023).
Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung ganzheitlich und systematisch denken
Um eine spürbare Reduzierung der Bürokratiebelastung für die Unternehmen zu erreichen und einen Rechtsrahmen bereitzustellen, der Innovation, Wachstum und gesellschaftlichen Wohlstand ermöglicht, reicht es nicht aus, punktuell und auf ad-hoc Basis einzelne Verbesserungen zu erzielen. Vielmehr müssen im Sinne eines Paradigmenwechsels im gesamten Regulierungskreislauf systematisch die Voraussetzungen dafür geschaffen und Maßnahmen umgesetzt werden, dass übermäßige Bürokratie gar nicht erst entsteht bzw. gezielt abgebaut wird.
Der Regulierungskreislauf lässt sich idealtypisch in vier Phasen unterteilen: Auswahl des Politikinstruments, Regulierungsentwicklung, Regulierungsumsetzung sowie Monitoring und ex-post Evaluation. Zusätzlich zu den darin beschriebenen Institutionen, Instrumenten und Maßnahmen spielt jedoch auch die Art des Zusammenwirkens der verschiedenen Akteure und Stakeholder auf allen Ebenen eine zentrale Rolle, so dass phasenübergreifend auch eher kulturellen Aspekten wie z. B. Koordination, Kooperation, Konsultation und Kommunikation eine hohe Bedeutung zukommt (vgl. Abbildung). Nur wenn man den gesamten Prozess der Bürokratieentstehung betrachtet, kann man feststellen, welche Stellschrauben es zur spürbaren Reduzierung der Bürokratiebelastung gibt und wie diese zusammenwirken.
Abbildung 2: Komponenten des Regulierungskreislaufs
Aufbauend auf den Ergebnissen unserer Unternehmensbefragungen, einer Literaturstudie und eines internationalen Good-Practice Vergleichs haben wir in unserer jüngsten Studie einen Aktionsplan mit konkreten Maßnahmen für einen spürbaren Bürokratieabbau entwickelt, der alle Phasen und Kulturaspekte des Regulierungskreislaufs abdeckt (vgl. Holz et al. 2023). Daran wird ersichtlich, dass Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung zweifellos hochkomplexe Aufgaben sind, bei denen eine Vielzahl von Staats- und Verwaltungsebenen, Institutionen und Akteuren unter der Nebenbedingung eines raschen technologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels zusammenarbeiten müssen. Diese Herausforderung sollte daher als ein kontinuierlicher, iterativer Prozess verstanden werden, der immer wieder an die wechselnden Umweltbedingungen angepasst und optimiert werden muss. Entsprechend sind von der Politik auch keine „schnellen (dauerhaften) Lösungen“ zu erwarten. Gleichwohl kann sie heute schon entscheidende Weichen stellen.
Um die Gesetzesflut einzudämmen und die Verhältnismäßigkeit und Praxisnähe neuer Regelungen zu erhöhen, sollte z. B. der Optionenspielraum nicht bereits am Beginn des Regulierungskreislaufs verengt werden, indem z. B. nur gesetzliche Lösungen oder nur ein bestimmter Lösungsweg in Erwägung gezogen wird. Stattdessen sollten die Fachministerien, ähnlich wie es bereits in Großbritannien praktiziert wird, verpflichtet werden, verschiedene Handlungsalternativen – vor allen Dingen auch nicht gesetzlicher Art – in Kooperation mit relevanten Stakeholdern zu entwickeln und zu prüfen. Hierfür sollten die KMU, aber auch die Verbände und Kammern explizit als Mitgestalter („Co-Owners“) beteiligt werden.
Als Vorbild könnte man zugleich auch den niederländischen Umgang mit Bürokratie heranziehen, wo sich kurze Online-Meetings mit ausgewählten Unternehmerinnen und Unternehmern (die sogenannten „KMU-Tests“) bewährt haben, in denen die Praxistauglichkeit und Verhältnismäßigkeit neuer Gesetzesvorhaben diskutiert werden. Mit Hilfe dieser Kooperationsform könnten ex-post auch diejenigen bestehenden Gesetze identifiziert und vereinfacht werden, die die größten Kosten- und Umsetzungsbelastungen hervorrufen (vgl. Holz et al. 2023).
Mehr Mut zu einem risikobasierten Ansatz für die Regulierung
Unabhängig von diesen ersten Schritten sollten Bürokratie und Regulierungen grundlegend weiter gedacht werden. Während sich die wirtschaftspolitischen Debatten zum Bürokratieabbau in Deutschland oftmals auf eher kleinteilige, statische Kosten- und Zeitaspekte fokussieren, ist der Diskurs in Großbritannien deutlich weiter und strategischer angelegt. Hier werden Bürokratie und Regulierung stärker dahingehend beurteilt, wie sie im internationalen Wettbewerb Innovation und Wachstum fördern und so zum gesellschaftlichen Wohlstand beitragen können.
Eine so interpretierte Regulierung dient weniger traditionellen Überwachungs- und Kontrollzwecken, sondern stellt als „Regulation as a service“ eine wichtige Rahmenbedingung im internationalen Standort- und Innovationswettbewerb dar. Die politisch Verantwortlichen in Großbritannien lassen daher den herkömmlichen Ansatz „Command and Control“ zunehmend hinter sich und bewegen sich hin zu einem risikobasierten „Enable and motivate“-Ansatz. Die Ergebnisse unserer jüngsten Befragung deuten darauf hin, dass ein solcher Ansatz auch von fast allen Unternehmerinnen und Unternehmern in Deutschland befürwortet würde. So wünschen sich 83% der Unternehmen für die Zukunft eine Grundhaltung der staatlichen Normengeber, die deutlich stärker von Vertrauen in die Unternehmen geprägt ist.
Abbildung 3: Verhältnis von Vertrauen und Kontrolle
Zukünftig sollte es daher das Ziel der Politik sein, dass Behörden und Unternehmen gemeinsam im vertrauensvollen Informations- und Erfahrungsaustausch versuchen, wichtige Schutzziele zu erreichen. „Schwarze Schafe“ sollten hingegen weiterhin konsequent sanktioniert werden. Die in verschiedenen Bereichen in Großbritannien gemachten Erfahrungen zeigen, dass Bürokratie so effizient abgebaut werden kann und auch die Regelungsziele besser erreicht werden. Zum anderen entspricht dieser Ansatz heute auch eher den Vorstellungen, wie Staat, Unternehmen sowie Bürgerinnen und Bürger im 21. Jahrhundert interagieren und kooperieren sollten (vgl. Holz et al. 2023).
Zu den AutorInnen:
Annette Icks ist Projektleiterin im Institut für Mittelstandsforschung (IfM) Bonn. Michael Holz ist dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. Beide forschen seit Jahren zum Thema „Bürokratie“.